Wissenskultur

 

Bernd Janowski und Daniel Schwemer (Hrsg.): Texte zur Wissenskultur.

(Texte aus der Umwelt des Alten Testaments [TUAT]; Neue Folge 9)

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2021.
XXII, 612 Seiten : Illustrationen.
ISBN 978-3-579-00100-5

 

 

Fachwissen und Wissenschaft im Alten Orient: zum Vertiefen

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Der letzte Band der Reihe versammelt Texte zu Fachwissen und Wissenschaft aus den Kulturen des Alten Orients, je von Spezialisten vorgestellt und übersetzt.

Ausführlich: Die alten Kulturen der Antike haben eine hoch entwickelte Wissenskultur her­vorgebracht und gepflegt. Der vorliegende Band stellt Texte für diese Art der Wissenschaft und des Fach-Wissens vor. Die Texte werden knapp eingeführt, datiert (so weit das möglich ist), der Aufbewahrungsort angegeben, die Edition des Textes (keine Umschrift des Original­textes), Bibliographie der Kommentierungen, und umfangreiche Fußnoten zu Details, die eher einen Hinweis auf Forschungsdiskussionen geben, als selbst ein Kommentar zu sein. Wieder haben Spezialist:innen aus den Wissenschaften des Alten Orients Texte beigetragen und auf dem Stand der Forschung für Nicht-Fachkolleg:innen vorgestellt, so dass sie diese für die eigenen Forschungen erst einmal wahrnehmen und weiter daran arbeiten können. Zeitlich sind Texte aus der ältesten Zeit bis in Hellenismus und Römerherrschaft vertreten (VI. Griechische Texte aus Ägypten). Räumlich-kulturell sind Texte aus Mesopotamien, der Hethiter, aus Syrien, Ägypten und Iran in den Bänden zusammengetragen.[1]

Thematisch geht es zunächst einmal zur Rekrutierung, Ausbildung (Schreibübungen als Schultexte), die Arbeit, Beschreibstoffe und die Wertschätzung des Berufs der Schreiber.[2] Dann die Organisation der Bürokratie und Justiz (etwa die Fall-Übungen 122-133). Es geht weiter in die Landwirtschaft und die Bewässerungstechnik, Weinanbau, etc. Dann sind berücksichtigt Fachtexte aus den Handwerken (Färberei, Häuserbau, der Bau der Arche gegen die Sintflut [36-38], Zimmermannstechnik). Mathematische Texte und astronomische Berechnungen bilden eine hochspezialisierte Wissenschaft.[3] Bezüglich der medizinischen Kenntnisse stehen sich zwei Praktiken gegenüber: zum einen gibt es technische Könner, die sich auch riskante Operationen zutrauten wie Trepanationen (Löcher in die Schädeldecke meißeln), Zahnoperationen, Kenntnis der Wirkweise von Drogen, Balsamieren von Leich­namen; auf der anderen Seite die Rituale, um göttliche Hilfe herbeizurufen oder eine Pro­gnose zu treffen über den Verlauf der Krankheit. Entsprechende Texte sind bereits in Band 4 zu Magie und Divination gesammelt. Schließlich rechnen die Herausgeber auch zum Bereich dieses Bandes ‚Das Weltbild und Gottesvorstellungen‘ sowie ‚Reflexionen über die Vergan­genheit‘. Dazu gehören etwa die babylonische Weltkarte (mit schematischer Zeichnung (30), der Stadtplan von Nippur (35), Götterlisten; für das zweite sind es Chronologien, Königs­listen, Annalen. Das führt zu einer Eigenart der altorientalischen Wissenschaften: zum einen die Institution der Schreiber als Spezialwissen, das für die Herrscher und ihre Götter ein verlässliches Moment der Tradition darstellt, zum andern die Reduktion auf Listen. Die Götterlisten (wie An : Anum, S. 8-18)[4] dokumentieren den exakten Namen/Schreibung und die Stellung im Pantheon. Die „Listenwissenschaft“ ist eine der typischen Formen altorien­talischen Wissens. (Dazu noch unten).

Die Reihe der Texte aus der Umwelt des Alten Testaments wurde in einer ersten Folge begründet von Otto Kaiser.[5] Die Neue Folge wird herausgegeben von Bernd Janowski und Gernot Wilhelm; ab dem fünften Band ist der zweite Herausgeber Daniel Schwemer.[6] Der neunte Band ist der letzte Textband und der Verlag druckte noch im gleichen Jahr eine (im Unterschied zu der gebundenen Erstausgabe) erschwingliche Paperback-Sonderausgabe aller neun Bände. Die Planung sieht noch einen Atlas mit Bildern vor, der dann entsprechend „Bilder aus der Umwelt des Alten Testaments“ (BUAT) heißen soll.[7] Diese Textsammlung leistet mehr als nur eine Sammlung von Texten „aus der Umwelt“ der Hebräischen Bibel. Anders als die Bücher, die zu der jeweiligen Bibelstelle einen kleinen Ausschnitt aus einem ‚Buch‘ einer Kultur des Alten Orients (selten der griechischen Kultur) bieten,[8] haben die hier vorgestellten Texte ein ‚eigenes Recht‘, indem sie vorgestellt, einge­ordnet und in möglichst ganzem Umfang dargeboten werden. Damit werden auch die Kulturen Mesopotamiens, Syriens, der Hethiter und Ägyptens als eigenständige Kulturen erkennbar. Die Beziehungen zu den Texten der Hebräischen Bibel werden nicht aufgedrängt, wie das bei den älteren Textbüchern der Fall war, ohne zu klären, wie weit entfernt und zeitlich auseinander sie liegen. Umgekehrt machte es, als noch kaum Texte des Alten Orients bekannt und übersetzt waren, der Assyriologe Friedrich Delitzsch, indem er in Aufsehen erregenden Vorträgen die Bildungsbürger im Kulturschub 1900 (‚Jahrhundertwende‘; fin de siècle) schockte oder bestätigte, dass die Bücher der Hebräischen Bibel alles nur abgeschrie­ben hätten von den Nachbarkulturen; die Sintflut als Musterbeispiel, die schon im – älteren – Gilgamesch-Epos vorkommt.[9]  Es geht also um die Frage des Verhältnisses der Texte aus der Umwelt zu der Rezeption in der aufnehmenden Kultur. Dafür gibt es wenig Antwort in dieser Sammlung der Texte aus der Umwelt das AT. Sie stellt Texte und Forschungsergeb­nisse zur Verfügung, aber drängt nicht ein Ergebnis auf, vielmehr bietet sie eine größere Auswahl von Möglichkeiten und darunter viel Unbekanntes.

Die Frage nach den Texten aus der Umwelt des Alten Testaments betrifft die Frage nach der Übernahme, Übersetzung, Akkulturation, aktiven Rezeption, Umformung. Selbst habe ich das für die frühe griechische Kultur unternommen unter der Fragestellung, wie die Herr­schaftsideologie der Palastkulturen des Alten Orients in der ‚regulierten Anarchie‘ des frühen Griechenlands rezipiert, aber gleichzeitig völlig umgeformt wurde für eine ganz andere Gesellschaft. Die Theogonie Hesiods ist ein Beispiel für die Götterliste, es folgt der Frauenkatalog usf. Herausragende Forschung zur Rezeption der altorientalischen Kultur in der frühen griechischen Kultur hat Martin L. West geleistet: [10] Ein Beispiel für die Rezeption in der Kultur Israels ist der „erste Schöpfungsbericht“. Der erste Schöpfungsbericht Gen 1 – Gen 2,4a ist offensichtlich eine altorientalische Listen-Wissenschaft, die in genealogischer[11] Reihenfolge die Entstehung der Welt auflistet: |Gott befiehlt | Ereignis | Tag eins | Gott bestätigt |. Das sind 10 verschiedene Schöpfungsaufgaben. Der Autor (oder Autorin) will aber gleichzeitig die Zeiteinteilung der Sieben-Tage-Woche begründen als Gottes Wille und Schöpfungsordnung. Dafür wird der siebte Tag zum Ruhetag erklärt, den Gott bestimmt und selber einhält, der Schabbat (Das Wortspiel mit den drei hebräischen Konsonanten sch – b – t dient dreifach der Erklärung als „siebter“, „aufhören“, „Sabbat“. Dafür müssen die zehn Werke in sechs Tagen untergebracht werden.

Mit diesem Band kommt ein Unternehmen zum Abschluss, das 2004 mit der Veröffent­lichung des ersten Bandes begann. Annette Krüger hat die Bände redigiert und ihnen so ein einheitliches Gesicht gegeben. Die Textsammlungen eröffnen altorientalische Kulturen in modernen, zuverlässigen Übersetzungen, nach Textgenera zugeordnet (was nicht immer trennscharf möglich ist). Aber sie sind auch nicht auf Religion begrenzt. Eine Themenorien­tierung wäre für viel Benutzer einfacher,[12] aber auch enger und auf das Nadelöhr bestimmter alttestamentlicher Texte zugeordnet. So verlangen diese Textsammlungen aufmerksame und geduldige Leser, nicht nur ‚Benutzer‘. Sie führen breit in die anderen Kulturen ein und ver­langen gewissermaßen ein forschendes Lernen.[13]

 

Bremen/Wellerscheid, 23. Mai 2022

Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen

…………………………………………………………………………….

[1] Die Wortwahl „Fremdarbeiter“ (513) ist ein nationalsozialistischer Begriff. Arbeitsmigranten wäre die nicht-wertende Bezeichnung.

[2] Eva Christine Cancik-Kirschbaum; Jochem Kahl (Hrsg.): Erste Philologien: Archäologie einer Disziplin vom Tigris bis zum Nil. Tübingen: Mohr Siebeck 2018.

[3] In meinem ersten Buch zur Odyssee und ihrem altorientalischen Hintergrund konnte ich nachweisen, dass dort der 19-Jahres-Zyklus bekannt ist, aber als Wissen übernommen, nicht auf eigenen Forschun­gen beruht: Auffarth: Der drohende Untergang. ”Schöpfung” in Mythos und Ritual im Alten Orient und in Griechenland am Beispiel der Odyssee und des Ezchielbuches. (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten RGVV 39) Berlin 1991, 411-460.

[4] Im Erscheinen ist begriffen als Auftakt zur vollständigen Edition aus den jahrzehntelangen Forschungen des Assyriologen Wilfred George Lambert (1926-2011) und seines Schülers Andrew George. An = Anum and Related Lists. God Lists of Ancient Mesopotamia, Volume I. Edited by Andrew George and Manfred Krebernik. Tübingen: Mohr Siebeck 2022.

[5] In drei Abteilungen mit insgesamt 18 ‚Lieferungen‘. Nachdruck bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft wbg academics 2019. Vollständige Dokumentation im wikipedia-Artikel und unter Ernst Kausen, Ausführliches Inhaltsverzeichnis sämtlicher Teile von TUAT, Alte und Neue Folge. Mit Autoren und Sprachangaben. (22.05.2022; ohne Band 9).

[6] Bernd Janowski ist emeritierter Professor für Altes Testament an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Homepage:  Prof. em. Dr. Bernd Janowski | Universität Tübingen (uni-tuebingen.de) sowie ein Wikipedia-Artikel. – Daniel Schwemer ist Professor für Altorientalistik an der Universität Würzburg Schwemer – Lehrstuhl für Altorientalistik (uni-wuerzburg.de) (22.05.2022).

[7] Auf der Homepage von Prof. Friedhelm Hartenstein, Professor für Altes Testament an der Ludwig-Maximilians-Universität in München Forschung – Altes Testament 2 – LMU München (uni-muenchen.de) (22.05.2022).

[8] Beispielsweise Religionsgeschichtliches Textbuch zum Alten Testament. In Zusammenarbeit mit Hellmut Brunner hrsg. von Walter Beyerlin. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1975; ²1985.

[9] Dazu der Band Eva Cancik-Kirschbaum; Thomas L. Gertzen (Hrsg.): Der Babel-Bibel-Streit und die Wissenschaft des Judentums. Münster: Zaphon. 2021. Der Bibel-Babel-Streit hatte deutlich antisemitische Untertöne. Das Buch wird demnächst hier besprochen.

[10] Martin L West: The Eastern Side of Helicon. Oxford: OUP 1997. Weiter Auffarth, Untergang 1991, wo neben dem frühen Griechenland (Odyssee) auch Israel (das Ezechielbuch) behandelt ist nach der Katastrophe des Königtums.

[11] Die Liste wird in 2,4a als Toledot (Stammbaum einer Familie, Genealogie) bezeichnet.

[12] Eine gelungene vergleichende Textsammlung und Kommentar sind etwa Othmar Keel; Silvia Schroer: Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen. Göttingen: Vandenhoeck& Ruprecht 2002, ²2008. Oder: Roland Färber; Rita Gautschy (Hrsg.): Zeit in den Kulturen des Altertums. Antike Chronologie im Siegel der Quellen. Wien: Böhlau 2020. Oder: Migration and Diaspora Formation: New Perspectives on a Global History of Christianity

[13] Auf eine innovative, nur über das Internet erreichbare Textsammlung ähnlichen Charakters will ich noch hinweisen: Im Corpus Coranicum hat Angelika Neuwirth eine Sammlung TUK Texte aus der Umwelt des Koran konzipiert. Dort wird auch der originale Text geboten, eine Übersetzung, ein Kommentar zum Text und mögliche Bezüge zum Koran erklärt. Umwelttexte Überblick | Corpus Coranicum (22.05.2022).

 

Schreibe einen Kommentar