Paul Mendes Flor: Martin Buber

Paul Mendes Flor: Martin Buber. Ein Leben im Dialog.

Übersetzt von Eva-Maria Thimme.

Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2022.
413 Seiten. 2 Abb.
ISBN 978-3-633-54314-4
[Amerikanisches Original:
Martin Buber A Life of Faith and Dissent. New Haven: Yale 2019]

 

 

Gestalter des Judentums in der Moderne: Martin Buber

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Das ist eine großartige detaillierte Bewertung eines Lebenswerkes des großen und gleichzeitig umstrittenen Gestalters der ‚Renaissance des Judentums‘ gegen, inmitten und nach dem Versuch der Vernichtung der Jüdinnen und Juden, aber auch Kritiker Israels als Nationalstaat.

Ausführlich: Martin Buber (1878 – 1965) war einer der führenden Gestalter des jüdischen Selbstbewusstseins in dem ‚jüdischen Jahrhundert‘ vom Berliner Antisemitismus-Streit 1879-1882[1] bis zur Intifada 1987, in der Mitte der Plan der Nationalsozialisten, die europäischen Juden zu ver’nicht’en.[2] Genau dann war er, als 60-Jähriger übergesiedelt nach Jerusalem seit 1938, noch vor der Ausdehnung der Judenpogrome in der ‚Reichskristallnacht‘. Trotzdem wurde er zum Kritiker der Politik des Staates Israel und ihres Gründers Ben-Gurion, einen jüdischen Staat zu schaffen, allerdings mittels Krieg, Terrorismus, Vertreibung.[3] Die Ausrufung des Staates Israel 1948 eröffnete den Juden zwar zum ersten Mal seit der Antike die Möglichkeit, einen autonomen Staat im Lande Israel aufzubauen, das Ziel des Zionismus seit 1897, aber es bedeutete auch Krieg, Kriegsverbrechen, Macht, die keine Ethik kennt. Martin Buber widersetzte sich der Machtpolitik als öffentlicher Redner, als Schreiber von Beiträgen und Leserbriefen, als gefragter Berater der Politik und forderte – selbst sich der Kritik bis hin zum Hass aussetzend – Prinzipien der jüdischen, nicht national-israelitischen – Politik gegenüber den im Unabhängigkeitskrieg vertriebenen und nicht entschädigten Palästinensern, im Prozess gegen Eichmann, gegenüber dem gefeierten Helden des neu­gegründeten Nationalstaates Ben Gurion. Eine öffentliche Person ohne den Rückhalt einer Institution und bestimmt kein ‚orthodoxer‘ Jude.

Paul Mendes-Flohr hat sich sein wissenschaftliches Leben lang mit Martin Buber beschäftigt, immer wieder im umfangreichen Nachlass gearbeitet.[4] Dies galt der deutschen Ausgabe der Werke Bubers in 22 Bänden, die er ab 2001 als Hauptherausgeber zunächst zusammen mit Peter Schäfer, dann ab 2010 mit Bernd Witte: Martin Buber Werkausgabe (MBW) betreute.[5] Die Frucht dieser Arbeit ist die vorliegende Biographie, detailliert, kenntnisreich und genau unterscheidend zwischen aufgeregten Disputen in der israelischen Öffentlichkeit, die oft auf Missverständnissen beruhten oder ungenauen Kolportagen, denen PMF mit genauen Zitaten mitsamt Bubers Richtigstellungen antwortet. Dass Buber mehrfach deutsche Preise annahm und schließlich – nach langem Bedenken – auch zur Verleihung nach Deutschland reiste, brachte ihm den Ruf ein, er sei der Jude für die Deutschen (der Außenseiter als Dialog-Jude). Seine Reden indes waren scharfe Anklagen und gleichzeitig Unterscheidungen, in welcher Weise ‚die Deutschen‘ Täter oder Wegschauer waren, ohne die Pflicht einzufordern, zum Märtyrer zu werden.[6] Die Zuhörer waren beeindruckt, darunter der Bundespräsident Theodor Heuß.[7] Die Preisgelder verschenkte MB an Stiftungen für arabisch-israelische Verständigung. Nur die Rede von der Wiedergutmachung und „Versöhnung“ sowie das dringend benötigte Geld zur Rettung vor dem Kollaps Israels, das Adenauer anbot unter der Bedingung, dass sonst gerichtlich keine Reparationen eingefordert würden,[8] blieb ein Stück Machtpolitik, das viele Israelis nicht akzeptieren konnte.

Dass diese einflussreichen und gleichzeitig gegen den Mainstream kritischen, aber abwägenden Stellungnahmen gehört wurden, hatte sich MB erarbeitet durch immer neue Initiativen, die die Erneuerung des Judentums in der Moderne zum Ziel hatten. Dass die Jüdinnen und Juden seit der Französischen Revolution 1789 und dem preußischen Landrecht 1794 immer mehr Gleichberechtigung erreicht hatten und die Weimarer Republik durch Regierungschefs und den bedeutendsten Außenminister Walter Rathenau maßgeblich gestalteten, sie also in der Mitte der deutschen Gesellschaft angekommen zu sein schienen, machte MB nicht stolz oder zufrieden. Juden brauchten eine eigene Identität, die sie nicht im Privaten im Gang in die Synagoge oder den koscheren Speisen finden. Das ‚Königtum Gottes‘ und die prophetische Utopie in die Moderne umzusetzen musste programmatisch als jüdisches Ziel, aber vorbildhaft auch für die ganze Menschheit konzipiert werden. Unermüd­lich nahm MB Vortragsreihen an, gründete Zeitschriften und Buchreihen, übersetzte mit seinem Freund Franz Rosenzweig „Die Schrift“ in einer Weise, die das Hebräische im Deutschen erkennbar durchscheinen lassen sollte. Er organisierte das Lehrhaus in Frankfurt und forderte eine Hebräische Universität in Jerusalem, die nicht Doktoranden produzieren, sondern die Kultur des Judentums für Zionisten lehren und ausarbeiten sollte. Aber welches Erbe bildete das Fundament dafür? Die Zionisten setzten in der Kibbuzbewegung auf basisdemokratischen Sozialismus – ohne Religion. Ernst Bloch verstand das „Prinzip Hoffnung“ als den jüdischen Weg. Gershom Scholem sah in der Mystik die ununterbrochene Tradition, beschrieb aber in seinem großen Buch zum Messias Zwi Sabbatai einen charis­matischen Führer, der sich nicht um das Gesetz und die Orthodoxie kümmerte. Die Figur des Messias war für alle ein zentraler Bezugspunkt (der in dieser Biographie zu sehr auf Buber begrenzt vorkommt). Keinem ging es um das ‚religiöse‘ Judentum. Buber dagegen stellte ein Judentum vor, das als hemmungslos rückschrittlich galt: den Chassidismus des ostjüdischen Schtetls. Dort war MB aufgewachsen und von seinem ebenso reichen wie gelehrten Großvater in diese Tradition eingeführt worden. Aus Sorge vor der Reaktion des Großvaters heiratete MB seine großartige Frau erst nach der Geburt des zweiten Kindes, nachdem der alte Mann gestorben war: sie war eine Goij, Nicht-Jüdin.[9] Sie begleitete ihn durch dick und dünn, über sechzig Jahre lang. Nur, diese armseligen Ostjuden in Galizien, der Ukraine (MB war in Lemberg/Lwiw großgeworden), Polen, denen Treitschke vorge­worfen hatte, sie strömten massenweise nach Deutschland, unkultiviert, unhygienisch, schlecht ausgebildet und brächten das Lohngefüge durcheinander (wieder einmal das Lohndumping den verzweifelten Migranten zum Vorwurf machend statt den bürgerlichen Familien, die die billigen Arbeiter ausbeuteten), die sollten ein Vorbild sein? MB transponierte, er übersetzte nicht die Legenden der chassidischen Lehrer, er übertrug sie in moderne Poetik in dem Sinne, wie er ihre Botschaft in die moderne Welt verstanden wissen wollte. Aber es ging Buber nicht um Religion, sondern um Judentum. Sein Freund Franz Rosenzweig, mit dem er gemeinsam die Tora übersetzte, stritt mit ihm über das Gesetz/Tora und nannte ihn einen „Epikuräer/ Apikoras“,[10] also einen Religionskritiker, der gleichwohl die Tradition kennt und achtet, sicher keinen Orthodoxen.

Eine Episode ist noch bezeichnend: Buber plante mit der Bayerischen Akademie der Wissen­schaften eine Tagung zu ‚Sprache‘. Martin Heidegger sollte auf MBs Wunsch eingeladen werden und kam auch; Heidegger, der die Uni Freiburg als Rektor auf Nazi-Kurs trieb – ein rotes Tuch für Juden. Im Vorfeld der Tagung nutzte MB die Gelegenheit zu Streitgesprächen auf langen Spaziergängen mit Heidegger, an die sich Heidegger später öffentlich nicht erinnern wollte. Auf der Tagung dann dozierte Heidegger über die ‚Ontologie‘ der Sprache. Für MB, nicht anwesend, aber auf Heideggers Beitrag reagierend, war Sprache das Medium nicht nur der (nicht-dozierenden, nicht-monologischen) Kommunikation, sondern des Sich-Einlassens auf ein Du (290-299). „Versöhnung“ konnte er dem immer noch von seiner Haltung überzeugten Heidegger nicht anbieten.[11]

Das ist bei weitem das Beste, Detaillierteste und best Informierte, das man über Buber lesen kann.[12] Etwas einschränkend finde ich, dass die Rahmenbedingungen nicht ausreichend erläutert werden. Die Universität Frankfurt beispielsweise, die MB Lehraufträge erteilte für Jüdische Religionswissenschaft und Ethik (162), war neben Hamburg die einzige deutsche Universität, die nicht staatlich eingerichtet, finanziert und kontrolliert wurde, sondern eine städtische, d.h. unter den Finanzierern waren viele Juden. Insofern stand auch die ‚Theologische Fakultät‘ nicht unter kirchlicher Kontrolle. Die Wissenschaft vom Judentum hatte an keiner deutschen Universität eine Chance, ein akademisches Fach zu werden (Professuren für Judaistik wurden erst ab 1960 eingerichtet); sie wurde von evangelischen Alttestamentlern betrieben – ohne Kenntnis des Judentums nach den biblischen Zeiten. Und Paul Tillich hätte wohl an keiner anderen Universität seine Theologie unterrichten können, wurde erst im Exil in den USA ein Star (222, 313).

Resumierend: Das ist eine großartige detaillierte Bewertung eines Lebenswerkes im Kontext eines (fast) Jahrhunderts, das einen großen und gleichzeitig umstrittenen Gestalter der ‚Renaissance‘ des Judentums gegen, inmitten und nach dem Versuch der Vernichtung vorstellt.

 

Bremen/Wellerscheid, August 2022                                                                     Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Die erste Sammlung der Kontroverse, unter denen der Historiker des Deutschen Kaiserreichs Hein­rich von Treitschke und der Pfarrer des Kaiserhofs Adolf Stoecker auf der einen Seite gegen die Juden als vollberechtigte Bürger des Deutschen Reiches kämpften, der Althistoriker Theodor Mommsen auf der anderen Seite hervorragte, veröffentlichte Walter Boehlich (Hrsg.): Der Berliner Antisemitismus­streit. (Sammlung Insel 6). Frankfurt am Main: Insel 1965. Umfassend Karsten Krieger (Bearb.): Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition. 2 Bände. München: Saur 2003.

[2] Gut dokumentiert im Wikipedia-Artikel Erste Intifada, die im Oslo-Abkommen 1993 zu einer Zwei-Staaten-Lösung ein positives Ende zu finden schien. Die Intifada findet einen Wendepunkt einer neuen Bewertung der Opferrolle Israels, die man bis dahin erzählen konnte durch den Vernichtungs­willen erst der Nazis, nun der Araber, insofern als der Staat Israel seither der best bewaffnete, international best unterstützte, best informierte Staat im Nahen Osten wurde, der gegen die Palästinenser unkritisiert jedes Mittel einsetzen konnte, ohne dass der anderen Seite ein adäquates Mittel zur Verfügung stand: Steine gegen Kampfjets. Dem Iran als Unterstützer von Gegenmaßnahmen wurde Terrorismus vorgeworfen.

[3] Man muss sehr genau unterscheiden, wie der Staat Israel als ‚jüdischer Staat‘ etwa von der George W. Bush und der Trump-Präsidentschaft verwendet wurde – die Araber mit israelischem Pass ausschließend – oder integrierend. Davon zu unterscheiden ist die Zwei-Staaten-Lösung mit einem unabhängigen palästinensischen Staat neben dem multiethnischen (mit russischen, äthiopischen, jemenitischen, deutschen [usw.] Juden und den Arabern mit israelischem Pass) Staat Israel. Buber setzte sich ein für die Integration der arabischen Einwohner und die Entschädigung der durch die Nakba (Vertreibung) Enteigneten. Das betraf auch speziell auch sein neues Haus in Jerusalem, das einer Familie gehörte, die in die Türkei geflohen war.

[4] Paul Mendes-Flohr, in New York 1941 geboren in einer galizischen Familie, Teil der jiddisch-sprechenden community. Schon in seiner Dissertation beschäftigte er sich mit Martin Buber.

[5] Martin-Buber Werkausgabe. 22 Bände. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2001-2022. Gliederung findet sich unter Werkausgabe | Martin Buber (martin-buber.com) (nicht ganz auf dem letzten Stand). Detaillierter Philosophische Fakultät der HHUD: Startseite (uni-duesseldorf.de) (16.08.2022)

[6] Besonders umstritten war nach der Goethe-Medaille der Universität Hamburg der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in ’seiner Stadt‘ Frankfurt 1953. Zur Rede (289) mit dem Schlussatz „Wer bin ich, dass ich mich vermessen könnte, hier zu vergeben?“ Auslöser für sein Umdenken, nun doch nach Deutschland zu reisen, war eine Rede von Romano Guardini (285). Theodor Heuß 288 und 314

[7] Gershom Scholem: Sabbatai Zwi. Der mystische Messias. Übersetzt von Angelika Schweikhart.

Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag (Suhrkamp) 1992. Englisch London : Routledge & Kegan Paul/ Princeton UP 1973.

[8] Das Luxemburger Abkommen am 10.9.1952. Constantin Goschler in Die Zeit Nr. 36, 1.Sptember 2022, 17. Der Verfasser arbeitet gemeinsam mit Lorena de Vita an einem Buch über dieses Abkommen.

[9] Die Andeutung von PMF, sie sei in einer esoterischen Kommune in Südtirol aufgewachsen, die von einem zum Islam konvertierten Juden begründet und geleitet wurde, würde Religionswissenschaftler näher interessieren. Später beschreibt sie in einem Schlüsselroman Muckensturm den Prozess der Nazisierung ihrer Nachbarn in Heppenheim.

[10] Die Freundschaft mit Franz Rosenzweig, dem unheilbar erkranktem Frankfurter Freund 145-177.

[11] PMF 296 „…dass Heidegger nicht nur Bubers Dialogverständnis nicht teilte, sondern sich beharrlich weigerte, einzugestehen, dass ein Dialog zwischen einem Juden und einem Deutschen – noch dazu einem, der seine Unterstützung des Nationalsozialismus nicht bereute, – zwangsläufig im Schatten der Schoah stattfinden müsste, wollte er denn seinem Wesen nach aufrichtig sein.“

[12] Das muss ich insofern einschränken, als ich nicht die französische Biographie kenne von Dominique Bourel: Martin Buber, sentinelle de l’humanité, die auch auf deutsch übersetzt ist von Horst Brühmann: Martin Buber. Was es heißt, ein Mensch zu sein. Biografie. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus [2017], fast tausend Seiten.

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