Ratschlag, ob man den Juden …

Johannes Reuchlin: Ratschlag, ob man den Juden
alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll.

Frühneuhochdeutsch/Neuhochdeutsch.
Neuedition und Neuübersetzung.
Hrsg. und übers. von Jan-Hendryk de Boer.
Ditzingen: Reclam 2022. 173 S.
6,80 €
ISBN: 978-3-15-014248-6.

 

Reuchlins Einspruch 1510: Juden haben ein Recht auf ihre Bücher
– sie sollen nicht verbrannt werden.

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Reuchlins Gutachten 1510 lehnte den Plan ab, die Schriften der Juden zu vernichten. Wer in ihnen Kritik am und Schmähung des christlichen Glaubens behaupte, müsse sie erst einmal im hebräischen Original lesen und aus den Quellen belegen.

Ausführlich: Mit diesem kleinen Band macht der Verlag Reclam wieder auf einen Text aufmerksam und der Herausgeber Jan-Hendryk de Boer hat Vorzügliches geleistet, um den Text sprachlich zugänglich zu machen und ihn in die zeitgenössische Diskussion einzu­ordnen mit seinen Kommentaren.[1]

Es geht um ein Gutachten zu dem drohenden Entscheid des Kaisers Maximilian, alle religiösen Bücher der Juden zu verbrennen außer der Tora. Das Gutachten ist gedruckt,[2] während es sich bei den Büchern der Juden um Handschriften handelt. Als Kenner der jüdischen Tradition aus eigener Lektüre des Hebräischen erhielt er den Auftrag zu dem Gutachten. Der Kaiser wollte andere Stimmen heranziehen als die des Judenhassers Johannes Pfefferkorn (1469-1521). Dieser war in einer jüdischen Familie geboren, bekehrte sich aber (wohl 1504) unter dem Einfluss der Kölner Dominikaner zum Christentum. Er kannte also die jüdische Tradition und stellte sie verzerrt und böswillig dar, ein fanatischer Renegat, wie andere vor ihm, etwa Raimundus Martini, der mit für die Talmudverbrennung 1269 in Paris gesorgt hatte.[3] Neben der Auslegung der Bibel in Midrasch und Talmud, sollten vor allem die christenfeindlichen Polemiken vernichtet werden, das Nizzahon und die Toledot Jeschu, ein Anti-Evangelium.[4] Die hatte man aber bei der Konfiszierung erst in Frankfurt, dann in Worms und Mainz u.a. nicht gefunden, obwohl man etwa 1500 Bücher beschlagnahmt hatte, die Grundlage für den Gottesdienst und Kultur der Juden. Diese Konfiskation geschah in des Kaisers Namen, denn 1509 konnte Pfefferkorn bis zum deutschen Kaiser Maximilian vordringen und seine Forderung vortragen. Gedrängt wurde er von den Dominikanern in Köln; die konnten kein Hebräisch und hatten ziemlich sicher kein Exemplar des Talmud. Pfefferkorn bezog sich also vor allem auf den „Ketzersegen“ im 18-Bitten-Gebet, den er in drei Sprachen drucken ließ. Reuchlin weist nach, dass die Übersetzung böswillig sei und die zwei wichtigsten Wörter gar nicht im Text stehen.[5] Vielmehr verlangte er, dass man die Bücher der Juden studieren sollte, dafür konnte er sich auf das Wort Jesu berufen (Johannes 5,39): scrutamini scripturas studiert die Schriften! Und weist in den Quellen nach, was ihr behauptet. Das ist der humanistische Grundsatz ad fontes! An die Quellen! Der originale Wortlaut ist entscheidend, nicht Hörensagen und Traditionen aus zweiter Hand. Reuchlins Gutachten war das einzige, das die Bücherverbrennung ablehnte, ausführlich untermauert mit philologischen, theologischen, religiösen und humanistischen Gründen, nicht zuletzt aber juristischen, stellt er sich doch als „in kaißerlichen rechten doctor “ vor (6). Es zog einen langen Streit nach sich fast bis zu Reuchlins Tod, mit Polemiken der Befürworter, Prozessen, Einmischung des Vatikans, Lehrverurteilung. Pfefferkorn überzog den Ratschlag mit Beleidi­gungen des Verfassers in dem ein halbes Jahr später gedruckten Handspiegel, auf den wiederum Reuchlin mit dem Augenspiegel antwortete mit einer Brille auf der Titelseite, dass er den klaren Durchblick habe, während der Handspiegel blind geworden sei. Der Kölner Dominikaner-Prior van Hoogstraeten strengte sogar einen Ketzerprozess an. Die Reuchlin unterstützenden Humanisten aus Gotha und Erfurt veröffentlichten Briefe von und an ihn unter dem Titel  clarorum virorum epistolae und parallel gefakte Briefe in fehlerhaftem Küchenlatein, die angeblich die Kölner Scholastiker verfasst hätten und so zum Gespött wurden, die obscurorum virorum epistolae 1515 und 1517 (163-165).[6]

Bücherverbrennungen sind ein Versuch, „den Irrtum zu liquidieren“.[7] In der Antike und im Mittelalter, also vor der Möglichkeit des Buchdrucks und damit zahlreicher Kopien eines Buches, bedeutete das, dass das einzige Exemplar (oder eines von ganz wenigen) vernichtet wurde. So berichtet die Apostelgeschichte 19,19, dass in Ephesos Gebrauchsanweisungen, Hefte, Bücher für magische Rituale konfisziert und verbrannt wurden.[8] Die Beispiele, die Werner untersucht und darlegt, zeigen, dass es keineswegs nur um Zensur geht oder jemanden an den Pranger zu stellen, sondern um Vernichtung eines falschen Gedankens, der die Wahrheit aufzufressen droht. Der letzte von Werner erwähnte Fall (525-528) ist die Ver­brennung von Büchern und deren Autor Michel Servet 1553 in Genf, dahinter stand Calvin. Und hier, wie auch in vielen der von Werner untersuchten Fällen, werden Buch und Autor (oder Besitzer) verbrannt. Es geht also um mehr als „Zensur des Geistes“. Juden gab es, als die Verbrennung ihrer Bücher angeordnet werden sollte, nur noch wenige innerhalb der Grenzen des Alten Reiches, denn sie waren ab Mitte des 14. Jahrhunderts, also 160 Jahre zuvor, vertrieben oder gar getötet worden als vermeintlich für die Pestwellen seit 1348 Verantwortliche. Langsam kehrten wieder Juden zurück. Luther hat sie 13 Jahre später ermuntert, sich der „evangelischen“ Seite anzuschließen (dass Jesus Christus ein geborener Jude sei, 1523), danach aber 1537 auf die Vermittlungsbitte des Vertreters der Juden, Josel von Rosheim (1476-1554) gar nicht reagiert und gegen Ende seines Lebens eine Judengesetzge­bung vorgeschlagen, die die Vernichtung der Bücher der Juden miteinschloss.[9] Immerhin gab es den in der Nähe von Reuchlins Wirkungsort Pforzheim geborenen Melanchthon, der ebenfalls exzellent Hebräisch konnte und als der Philologe und Wissenschaftler später in Wittenberg arbeitete. Dieser hatte auch nachweisen können, dass die 1510 unter dem sächsischen Kurfürsten Joachim I. der Hostienschändung angeklagten 38 Juden unschuldig den Märtyrertod erlitten hätten, und so erreichte Josel die Wiederzulassung der Juden in Sachsen.

133f zu Anm. 72 sollte man hinzufügen, dass die Legende von der Septuaginta-Übersetzung in einem weiteren Reclam-Büchlein präsentiert ist.[10]

Wieder hat der Reclam-Verlag die Initiative ergriffen, einen wichtigen Text zu entdecken, durch einen kompetenten Herausgeber präsentieren und kommentieren zu lassen. Neben den antijüdischen Schriften und Stimmung kurz vor und während der Reformationszeit ein entschiedener und ebenso wohlbegründeter Einspruch.

 

Bremen/Wellerscheid, September 2022                                                      Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Jan-Hendryk de Boer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter (Geschichtswissenschaft) an der Universität Duisburg-Essen. Seine Dissertation (Göttingen bei Frank Rexroth 2014) beschäftigte sich mit Reuchlin. Sie wurde veröffentlicht unter dem Titel Die Gelehrtenwelt ordnen. Zur Genese des hegemonialen Humanismus. (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 101). Tübingen: Mohr Siebeck 2017. Der vorliegende Text stand im Mittelpunkt der vorausgehenden Monographie Unerwartete Absichten – Genealogie des Reuchlinkonflikts. (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 94.) Tübingen 2016. Seit 2022 ist er Mitarbeiter im interdisziplinären Forschungsprojekt „Kompromisskulturen“. Seine Homepage findet sich unter Personen im Historischen Institut: Jan-Hendryk de-Boer (uni-due.de) (4.9.2022). Seinen Namen kürze ich ab mit den Initialen JHB.

[2] Widu-Wolfgang Ehlers hat sie Stuttgart-Bad Cannstatt: Fromann-Holzboog 1999, 13-168 kritisch ediert (dazu JHB 113).

[3] Raimundus Martini (1220-1285), Pugio fidei. JHB zu 31,33. Es gibt jetzt eine Teilübersetzung von Görge K. Hasselhoff: Texte zur Gotteslehre, 1(2014). Texte zur Gotteslehre, 2 (2022). Pugio fidei I-III, Lateinisch, Hebräisch/Aramäisch/Arabisch, Deutsch. (Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters) Freiburg: Herder

[4] Der knappe Kommentar 115-137, hier zu 13,1, ist sehr gehaltvoll und auf dem Stand der Forschung. Zur Toledot Jeschu Peter Schäfer: Jüdische Polemik gegen Jesus und das Christentum. Die Entstehung eines jüdischen Gegenevangeliums. München: Carl Friedrich von Siemens Stftung, Themen103, 2017. Weiteres in Schäfer, Die Geburt des Judentums  aus dem Geist des Christentums 2020, dazu meine Rezension: Geburten und Geschwister: Peter Schäfer: Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums 2010. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2010/08/19/die-geburt-des-judentums-aus-dem-geist-des-christentums-von-peter-schafer/#comment-79 (19.8.2010).

[5] JHB zu 7,7 und 27,15 (Seite 120). Zu Pfefferkorn Hans Martin Kirn: Das Bild vom Judentum im Deutsch­land des frühen 16. Jahrhunderts, dargestellt an den Schriften Johannes Pfefferkorns. (Texts and studies in medieval and early modern Judaism 3). Tübingen Mohr 1989.

[6] Obscurorum bedeutet gegenüber clarorum „unbedeutende, Winkelgelehrte“. Dt. Dunkelmännerbriefe. Zweite Abteilung (projekt-gutenberg.org) (5.9.2022).

[7] Die folgende hervorragende Dissertation (Göttingen bei Otto Gerhard Oexle 2005) ist leider nicht aufgeführt und offenbar unbekannt: Thomas Werner: Den Irrtum liquidieren. Bücherverbrennungen im Mittelalter. (VMPIG 225) Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2007.

[8] Apostelgeschichte 19,19. Bauer-Aland, Wörterbuch zum NT 61988, 282 s.v. βίβλος, ἡ führt als Überset­zung zu der Stelle stracks an „Zauberbücher“, wobei die geheftete Form, der Codex noch die Ausnah­me war. Τὸ βιβλίον das Buch ist im Plural zunächst die Bezeichnung für die Bibel, die noch aus vielen τά βιβλία bestand. Erst später, als die Bücher in einem Codex ihren festen Platz hatten und man nicht mehr ein einzelnes Buch herausnehmen oder weglassen konnte, musste man entscheiden, welches Buch in den Kanon gehören sollte, und dann wurde daraus ‚die Bibel‘, ἡ βιβλία. Dazu Martin Wallraff: Kodex und Kanon: Das Buch im frühen Christentum. Berlin: De Gruyter 2013. Weiter die Arbeit von Wolfgang Speyer: Büchervernichtung und Zensur des Geistes bei Heiden, Juden und Christen. (Bibliothek des Buchwesens 7). Stuttgart: Hiersemann 1981. Werner, Irtum 2007, 144-232.

[9] Noch immer ist das Buch von Selma Stern 1959 die maßgebliche Literatur zu Josel; 2008 ins Französische übersetzt. Der folgend genannte Fall bei Stern S. 137. Eckardt Opitz: Johannes Reuchlin und Josel von Rosheim. Probleme einer Zeitgenossenschaft. In: Arno Herzig, Julius H. Schoeps (Hrsg.): Reuchlin und die Juden. (Pforzheimer Reuchlinschriften 3) Sigmaringen:  Thorbecke, 1992, 89–108. Luthers Vorschlag einer Gesetzgebung in Die Juden und ihre Lügen 1543.

[10] Aristeas: Der König und die Bibel. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Kai Brodersen. Ditzingen: Reclam 2008. Dazu meine Rezension Septuaginta deutsch. Hrsg. von Wolfgang Kraus; Martin Karrer 2008. – Aristeas: Der König und die Bibel. hrsg. von Kai Brodersen. 2008 Rezension für http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2009/06/30/septuaginta-deutsch-herausgegeben-von-wolfgang-kraus-und-martin-karrer/ (30.6.2009).

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