Lohse: Bruno Snell

Gerhard Lohse: Bruno Snell (1896-1986). Geisteswissenschaft
und politische Erfahrung im 20. Jahrhundert.

(Wissenschaftler in Hamburg 6)

Göttingen: Wallstein [2023].
319 Seiten: Illustrationen.
ISBN 978-3-8353-5408-1

 

‚Die Entdeckung des Geistes bei den Griechen‘:
der Philologe Bruno Snell im Kaiserreich, Nationalsozialismus
und der Bundesrepublik

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Einer der wenigen, die sich gegen den Nationalsozialismus wehrten, weiter internationale Kontakte pflegten und so zum Botschafter deutscher Wissenschaft nach 1945 wurde. Eine wissenschaftliche Biographie zu einem, der im Kaiserreich geboren, Weimarer Republik, Nationalsozialistische Herrschaft und die Bonner Republik erlebte.

Ausführlich:

Der Klassische Philologe Bruno Snell war einer der Wissenschaftler, die während der Zeit des Nationalsozialismus weiterhin internationale Verbindungen pflegten. Nach der Katastrophe bzw. Befreiung wurde Snell ein wichtiger Ansprechpartner für die britische Besatzungsmacht bei der Erneuerung der Universität Hamburg und darüber hinaus – gegen die vielen Professoren, die behaupteten, dass sie immer im Geiste Wilhelm von Humboldts gestaltet hätten, auch wenn sie sich dem NS angedient hatten. Nun ist eine gründliche Biographie des Wissenschaftlers erschienen von einem seiner Schüler, der im hohen Alter ein Buch veröffentlicht, dessen Anfänge in Interviews mit dem 1986 als 90-Jährigem verstorbenen Snell liegen. Die Biographie ist aber frisch und aktuell, weil viele Dokumente aus dem Besitz der Familie und aus Archiven ausgewertet sind (in 539 Anmerkungen steckt eine enorme Arbeit enormer Vertrautheit mit den Archivalien).

Die Internationalität des Wissenschaftlers beruhte auf der Tradition einer Gelehrtenfamilie: Snells Vater schickte den Sohn zum Studienbeginn (Jura, Ökonomie) nach Edinburgh. Snell begab sich nach Schottland, doch aus dem Studium wurde nur ein Semester, weil das Deutsche Reich Großbritannien den Krieg erklärte: der Erste Weltkrieg war ausgebrochen. Snell wurde interniert auf der Isle of Man. In der Langeweile des Wartens -dreieinhalb Jahre – fand er in der Lagerbibliothek eine Ausgabe der Tragödien des Aischylos und eine Ilias-Ausgabe; die Lektüre brachte ihn zu dem Entschluss, Altphilologie studieren zu wollen. Acht Monate durfte er sogar in Oxford studieren. Als er nach dem Krieg über Holland nach Deutschland zurückkehren durfte, war klar, er würde Latein und Griechisch studieren. Kurzzeitig folgte er einem Aufruf, im Baltikum die Grenze gegen die russischen Revolutionäre zu verteidigen im Rahmen eines Freicorps, verließ es aber schon nach drei Monaten. Politisch wählte er die DDP, eine der wenigen Parteien, die in der Weimarer Republik die Demokratie stützten. BS ging zum Studieren nach Berlin und engagierte sich im kulturellen wie politischen Leben. BS stürzte sich auch in das Studium, war aber enttäuscht, mit welch langweiligen und engen Fragestellungen seine berühmten Lehrer, auch das Jahr dann in München, sich beschäftigten. Da waren die Philosophen und Kunstgeschichtler viel interessanter; besonders Heinrich Wölfflin prägte BS für die Frage nach der „Entwicklung“, die nicht linear fortschreitet, sondern gerade durch die bewusste Abkehr von Früherem voranschreitet, das „Kunstwollen“.[1] BS verwendete später dafür die Metapher der „Entdeckung“ (des Geistes, sein bekanntestes Buch).

BS‘ Dissertation fand der Göttinger Meister-Philologe Max Pohlenz nicht philologisch genug, weil sie Ideengeschichte und nicht Wortfelder untersuchte, aber Georg Misch nahm sie im Fach Philosophie Januar 1923 an (54f). Doch der berühmte Berliner Philologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff publizierte Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens 1924 in seiner Reihe Philologische Untersuchungen (60). BS wollte weiter Wissenschaft treiben, musste aber vorerst Lehrer werden. Eine Reise ins Sowjetrussland und die Lektoren-Stelle für Deutsch in Pisa erweiterten den Horizont, ganz ungewöhnlich für einen Klassischen Philologen. Von da an begleitete ihn immer seine Frau Herta,[2] obwohl noch keine Professur in Aussicht stand in wirtschaftlich unsicheren Zeiten. In Hamburg gelang 1925 die Habilitation bei Rudolf Pfeiffer. 1926/27 arbeitete BS sieben Monate in Athen am Deutschen Archäologischen Institut. Dort lernte er den Althistoriker Helmut Berve kennen (68f), der später im Sinne der Nationalsozialisten ‚Das neue Bild der Antike‘ herausgab, und Snell war mit einem Betrag beteiligt.[3] Ab Sommersemester 1927 kehrte das Paar zurück nach Hamburg, BS bekam die Assistentenstelle an der Universität. Die Hamburger Szene bot vielfältige Möglichkeiten, unter denen der Kreis um den Kunsthistoriker Aby Warburg eine der interessantesten war (70-72). Ganz überraschend war, dass Snell schon 1931 auf die Professur in Hamburg berufen wurde, entgegen dem Reglement: BS stand als dritter auf der Liste, war im Hause habilitiert und sein Göttinger Lehrer und weit besser ausgewiesen, Hermann Fränkel, wurde übergangen. Die Angst, die Nationalsozialisten unter den Studierenden könnten einen Skandal anzündeln, ließ die Berufung eines Juden nicht opportun erscheinen.[4] Sollte sich die Klassische Philologie der „Bewegung“ anschließen und eine ‚politische‘ Wissenschaft werden? Der Berliner Professor für Griechisch, Werner Jaeger, tat das, indem er die Erziehung zum Spartiaten als das Ideal vorstellte: Männlichkeit, Körperlichkeit, Soldatenpflicht, Aufgehen des Individuums im Volkskörper.[5] Dem widersprach BS in einer Rezension (81-101). Seinen Gegensatz zu den Nationalsozialisten kleidete BS ein in einen kleinen wissenschaftlichen Aufsatz. Er wies nach, dass griechische Esel ou (οὐ) rufen (was Griechisch „Nein“ heißt), während deutsche Esel Ja (i-a) schreien. Wer das zu lesen verstand, musste das auf die Abstimmung des Jahres zuvor beziehen, wo das Ja zum Führer und Reichskanzler ‚zur Wahl‘ stand (19-112). BS plante nun seine großen Lebenswerke: Nach der Pindar-Edition ein Archiv für griechische Lexikographie in internationaler Zusammenarbeit, aus dem das Lexikon des frühgriechischen Epos hervorging, das Hippokrates-Lexikon und (geplant) ein Platon-Lexikon.[6] Dazu die Ausgabe der Fragmente der griechischen Tragiker. Denn er befürchtete, dass die Sieger die braune Universität Hamburg schließen würden. Die Briten aber hofften auf die Selbstreinigung, nicht zuletzt weil Snell (fließend Englisch sprechend und mit intensiven Kontakten nach GB) dazu bereit war; nicht aber die Kollegen, die jetzt alle behaupteten, sie hätten Wissenschaft betrieben unbeeinflusst vom Nationalsozialismus. Auch unter dem Rektorat Snells kam es zwar zu Entlassungen von Nazis, aber deren Einspruch hatte oft Erfolg: die ‚Renazifizierung‘. Ein Projekt seiner Zeit als Rektor war die Einrichtung eines Colleges nach englischem Vorbild: Ein Studentenwohnheim, in dem auch Professoren wohnten, die gleichzeitig Tutoren der Studierenden sein sollten (wie etwa in Oxford). Universitätsreform war auch die Idee, als BS den Hofgeismarer Kreis gründete. Weitsichtig entwarf die Gruppe Vorstellungen für die Probleme der Universität, wenn die Zahl der Studierenden exponentiell steigen würde. Die Vorschläge verhallten ungehört.

Dafür begann Snells Lebenswerk Gestalt anzunehmen. Der Thesaurus war institutionalisiert, die ersten Bände der Tragiker-Fragmente erschienen,[7] die Zeitschrift „Antike und Abend­land“ zur Rezeption der Antike war etabliert.[8] Sein wichtigstes Buch aber wurde Die Ent­deckung des Geistes, für das er Aufsätze veröffentlicht hatte, die nun nebeneinander standen, nicht zu einer Monographie verdichtet waren. Aber die Idee war durchgehalten, die auf Wilhelm Dilthey und Ernst Cassirer sowie dem Göttinger Doktorvater Georg Misch auf­baute: Es gibt nicht einfach einen Fortschritt, sondern in den unterschiedlichen Gattungen vom homerischen Epos über die Lyrik, die Vorsokratiker, die Tragödie, die Geschichts­schreibung, entwickelte sich in immer neuen Entdeckungen der Geist des Selbstbewusstseins (der europäische Geist, wie BS damals selbstbewusst sagen konnte), der Freiheit des Individuums, die Demokratie.[9] Das Buch wurde ein Longseller und bewirkte im Fach neue Fragestellungen, aber auch Kritik.[10] Als Wissenschaftsorganisator war BS beteiligt an der Gründung der Mommsen-Gesellschaft (noch die DDR einbeziehend), der Fondation Hardt, der Internationalen Vereinigung der Klassischen Philologie. Ins Ausland wurde BS oft eingeladen, darunter (nach der Emeritierung 1959) zu den Vorlesungen Poetry and Society an der Indiana University 1961; dt. 1965, dann 1963 die Sather Classical Lectures in Berkeley, California Scenes From Greek Drama, dt. 1971. Unermüdlich arbeitete er an den Tragiker-Fragmenten. Aber er war auch über die Wissenschaft hinaus bekannt, so gründete er den deutschen PEN 1951 mit. Oder die Freundschaft mit Oskar Kokoschka und dessen Frau. Viele Ehrungen erreichten den Wissenschaftler (292-293). – Eine besondere Beigabe sind Snells Karikaturen, die er während mancher Sitzung zeichnete (229-236).

So entsteht ein lebendiges Bild eines Menschen, der noch in der Kaiserzeit geboren, in die Welt reiste, Deutschland von außen her zu betrachten lernte, die Rechte des Individuums in der Demokratie schätzte und im Nationalsozialismus verteidigte, besonders aber in der frühen Bundesrepublik dem Rückfall in autoritäre Strukturen wehrte. Seine Projekte internationaler Zusammenarbeit im Thesaurus, im Philologen-Kongress FIEC, in der Fondation Hardt begründeten eine Internationalität, die nicht mehr von der ‚Weltgeltung‘ der deutschen Philologie zehrte, die die Vätergeneration noch beanspruchen konnte, mit dem erzwungenen Exil der besten Schüler aber verloren ging. Diese internationale Verbindung ist seither gewachsen und selbstverständliche geworden.

Lesenswert für die spannende Frage der biographischen Kontinuität in vier großen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts: 1918, 1933, 1945 und (das spielt hier kaum eine Rolle) 1968.

 

Bremen/Wellerscheid, Oktober 2023                                                         Christoph Auffarth,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] (47) Wölfflins Idee, die die Kunstgeschichte neu ordnete in der Krise des Historismus, ist nicht scharf genug herausgestellt.

[2] Leider erfährt man so gut wie nichts über Snells Frau Dr. Herta Snell, geb. Schräder.

[3] Zu Berve ist gerade eine Monographie erschienen, die demnächst auf dieser Seite vorgestellt wird: Jasmin Welte. Basel: Schwabe 2023. Snell schrieb in Berves Band Das Neue Bild der Antike 1942„Der Glaube an die olympischen Götter“. Darauf geht Lohse nicht ein.

[4] Snell selbst schätzte es so ein, dass Fränkel ihm bei weitem überlegen gewesen sei (78).

[5] Zu Werner Jaeger, Meisterschüler von Wilamowitz, s. Christoph Auffarth: Henri Irénée Marrous »Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum«. – Der Klassiker kontrastiert mit Werner Jaegers »Paideia«. In: Peter Gemeinhardt (Hrsg.): Was ist Bildung in der Vormoderne? (Seraphim 4) Tübingen: Mohr Siebeck 2019, 39-65.

[6] Im Unterschied zum Thesaurus Linguae Latinae (seit 1893, erstes Faszikel 1900 publiziert, bis heute etwa 2/3 bearbeitet) umfasst der griechische Wortschatz weit mehr Lemmata. Ein Thesaurus Linguae Graecae als Lexikon ist ein zu gewaltiges Projekt. Deshalb teilte BS in kleinere Teilprojekte auf. Das Lexikon des frühgriechischen Epos erschien ab 1955 in vier Bänden, abgeschlossen 2010. Michael Meier-Brügger (Hrsg.): Homer, gedeutet durch ein großes Lexikon. Berlin 2012. – Den gesamten Wortschatz mit allen Belegen auf einer DVD zusammenzustellen ist digital gelungen TLG – Home (uci.edu) (15.10.2023).

[7] Tragicorum Graecorum Fragmenta (TrGF). Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht. Band 1(ed. Snell 1971; ²1986), Band 2 (ed. Snell/Richard Kannicht 1981; ²2007), Band 3 Aischylos (ed. Stefan Radt, 1985; ²2008), Band 4 Sophokles (ed. Stefan Radt 1977, ²1999), Band 5 Euripides (in zwei Teilbänden, ed. Richard Kannicht, 2004).

[8] Im Gegensatz zu Wolfgang Schadewaldt (vier Jahre jünger als BS, dessen gesammelte Schriften unter dem ähnlichen Titel Hellas und Hesperien erschienen) warnte Snell davor, „einen erbaulichen Ton anzuschlagen“. Man müsse „auch auf das Erstarren und schließlich Absterben antiker Formen und auf einseitige, beschränkte Weisen ihres Nachlebens hinweisen“. Dahinter steht auch eine Kritik an Werner Jäger (Lohse 138 und in Anm. 295, S. 262).

[9] Snell: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen. Hamburg: Claaszen & Goverts, 1946, Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 41975 Neubearbeitung, danach durchgesehene Auflagen, zuletzt 92011. Die enthaltenen Aufsätze wurden teils ersetzt durch andere. Übersetzungen ins Englische, Griechische, Japanische, Italienische, Französische, Polnische.

[10] In Hamburg studierte Hans Blumenberg und war von Snell beeindruckt (Rüdiger Zill: Der absolute Leser. Hans Blumenberg. Berlin: Suhrkamp 2020, 128-131; 616-618). Blumenberg distanzierte sich von der damals hoch bewerteten lexikalischen Bearbeitung von „Grundbegriffen“ und wandte sich stattdessen Sprachbildern zu, den Metaphern. – Zur Kritik von Arbogast Schmitt zur Psychologie Homers 1990 die Anm. 515 (S. 283).

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