Alexandreis

Walter von Châtillon: Alexandreis. Lateinisch – deutsch.
Herausgegeben und übersetzt von Martin Lehmann.

(Sammlung Tusculum) Berlin: de Gruyter 2023.
1040 Seiten.
ISBN: 978-3-11-079572-1

 

Alexander der Große als Vorbild
für den Anführer des Kreuzzugs im 12. Jahrhundert

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Auf der Suche nach einem charismatischen Anführer für den neuen (Dritten) Kreuz­zug stellt Walter 1180 Alexander den Großen als Vorbild dar. Er verkörpert die moralischen Kompetenzen (Tugenden) seines Lehrers Aristoteles, ist aber letztlich zu maßlos in seinen Plänen, so dass er scheitern musste. Das Epos in 10 Büchern ist ein zentrales Beispiel für die Wiederaufnahme der Antike (Renaissance) im 12. Jahrhundert.

Ausführlich:
Am Schluss des Epos über Alexander den Großen verabschiedet sich der Dichter in ver­meintlicher Bescheidenheit, die umso mehr sein Selbstbewusstsein hervorhebt. Er dankt den Musen, die ihm Stoff und Ideen der Kunst gaben.[1] Walter will sich nun nicht mehr verführen lassen; er will jetzt aus einer Quelle trinken, die „einmal getrunken – heilend den zweiten Durst stillt“ (10, 460). Das heißt, Walter hat lange mit antiker Dichtung verbracht, frühere Meisterwerke studiert und kann vieles aus dem Kopf zitieren; dann hat er selbst die zehn Bücher kunstvoll in fünf Jahren formuliert (prologus 15). Aber jetzt muss der Mönch sich wieder christlichen Themen zuwenden, denn von Jesus sagt das Johannes-Evangelium (4,14), „(Ich bin) die Quelle des Lebens, wer aus mir trinkt, wird niemals mehr Durst haben.“ Dabei „wertet auch Walter […] das eigene Epos über den antiken Feldherrn und König nicht ab.“ Denn er schließt mit einem Dank an seinen Bischof Wilhelm von Blois, der ihm den Rücken gestärkt hat gegen seine Kritiker, und widmet ihm das gelehrte Werk und den Dichterkranz. Statt „Dichter“ verwendet er hier das Wort vates (10, 464), das Vergil für sich beanspruchte, weil er über die Kunst des Dichters hinaus auch „Prophet“ der Heilsgeschichte geworden ist. Und nun Walters Anspruch: „Mag auch meine Dichtung eines so bedeutenden Erzbischofs nicht würdig sein. Wenn wir, Bischof und Dichter, einmal tot sein werden, dann garantiert das Epos Alexandreis das (Nach-) Leben: Wir beide werden leben bleiben und mit dem Dichter (wieder vates) wird der Ruhm des Bischofs überdauern und in Ewigkeit niemals sterben.“ Erst tiefgestapelt, dann hochgestapelt. Und das übergroße Selbstbewusstsein, ein Werk für die Ewigkeit geschaffen zu haben – das beansprucht ja auch Horaz, der Heide[2] – wird noch übertroffen, dass Walter damit für den Bischof und für sich selbst das ewige Leben gesichert habe. Nicht das bescheidene Gebet: Möge Gott, der allein ewig ist, uns das Leben bei ihm verleihen. Sondern Ich (in der dritten Person: der Dichter-Prophet) habe den Ruhm für die Ewigkeit unvergänglich gemacht: wir werden leben (vivemus/vivet 10, 468).[3]

Was also bringt den Autor Walter von Châtillon (lat.: Gualterus de Castellione, Walterus ab Insulis; frz. Gautier de Châtillon; um 1135 in Lille geboren; gestorben um 1185) dazu, über Jahre hinweg ein Epos zu komponieren, in dessen Mittelpunkt Alexander der Große steht? Das Lob für den antiken Eroberer ist gestaltet als ein Lob der (auch christlichen) Tugenden bei der aktuellen „Suche nach einem alexanderhaften christlichen Anführer im Kampf gegen die Muslime“, v.a.: Wer führt den Dritten Kreuzzug an? (in der Mitte des Epos 5, 491-520)[4] Die von einem Anführer geforderten Tugenden halten sich an Aristoteles (1, 82-183), die sein Schüler Alexander im 10. Buch noch einmal begründet (10, 282-329). Gegenspieler und Träger der Untugenden ist der Perserkönig Darius.

Alexander der Große ist für die Christen des Mittelalters kein historischer Held der heidni­schen Antike, sondern Teil der Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen (30-38).[5] Bildlich hat das der Autor der Ebstorfer Weltkarte hundert Jahre später herausgestellt: „Hier hat Alexander die beiden grausigen Völker Gog und Magog eingeschlossen, die der Antichrist im Gefolge haben wird. Diese ernähren sich von Menschenfleisch und trinken Blut.“[6] Die Reitervölker aus der Apokalypse leiten, wenn sie die eisernen Pforten durchbrochen haben werden, das Ende der Welt ein.[7] So lange waren sie aufgehalten, weil Alexander das Ende aufschob.

Die Alexandreis wurde außerordentlich oft abgeschrieben, so dass noch mehr als 200 Handschriften aus dem Mittelalter erhalten sind. Die maßgebliche kritische Ausgabe erstellte Marvin L. Colker, die 1978 erschienen ist[8]. In zahlreichen Sprachen sind (Teil-) Übersetzungen erschienen. Zuvor schon eine deutsche Übersetzung von Gerhard Streckenbach 1990.[9] Eine italienische zweisprachige Ausgabe, besorgt von Lorenzo Bernardinello, erschien Ospedaletto 2019. Gerade erschienen ist eine Edition und französische Übersetzung[10] sowie eine Untersuchung zu einem Kommentar dazu.[11] Außerdem verzeichnet der Verbundkatalog eine isländische, eine mazedonische, eine serbische Übersetzung.

Das vorliegende Buch umfasst zwei fast gleich große Teile, die auf die Einleitung (9-65) fol­gen:[12] (1) Text und Übersetzung 67-539, (2) Kommentar 541-1001, gefolgt von einem Literatur­verzeichnis und einem Index der Namen mit kurzen Erklärungen und der Stelle, wo sie im Text vorkommen (erfreulicherweise Stellenangabe, nicht Seitenangabe, die nur für die vor­liegende Edition zuträfe). Die Übersetzung in deutsche Prosa versucht weder Vers noch die gelehrten Worte des lateinischen Textes nachzuahmen. Die Zielsprache Deutsch ohne das Übersetzungsdeutsch[13] ist gut zu lesen und lenkt den Blick zur kunstvollen lateinischen Formulierung in der Versform des Epos in Hexametern. Großartig ist der Kommentar.[14] Mit allen Feinheiten der Klassischen Philologie und auf der Kenntnis der bisherigen Forschun­gen zu diesem Epos erklärt ML, worauf Walter anspielt, nachahmt oder widerspricht, wie er die großen Vorbilder Homer, Vergil (Text prologus 13-23; Kommentar 551f) und den Bibel­übersetzer Hieronymus (Text prologus 24-29; Kommentar 550f), dann Lucan und Claudian zu übertreffen sucht. Aristoteles ist die wissenschaftliche (poetologische und philosophische) Referenz zu den dichterischen Bezügen. Seine Tugendlehre (Schema S. 560) enthält die sonst als ‚Sanftmut‘ übersetzte πρᾳότης. Es geht aber nicht um Zurückhaltung, sondern als Teil des Zorns um die angemessene, nicht jähzornige und unbeherrschte Bereitschaft zur Auseinan­dersetzung, die „Zürnkraft“ (557f).

Das Werk ist ein herausragender Text für die ‚Renaissance des 12. Jahrhunderts‘.[15] Zu ihr zählt auch der etwas ältere Landsmann und Intimfeind Alanus de Lille (ab Insulis).[16] Die exzellente Beherrschung der lateinischen Sprache auf der Grundlage der Kenntnis der lateinischen Literatur führte in ein Dilemma: Einerseits kann man die lateinische Literatur nicht einfach minus ihrer Götter übernehmen und nachahmen, andererseits ist das christliche Publikum – und das sind auch im 12. Jahrhundert fast ausschließlich Kleriker – darauf bedacht, dass die Christlichkeit Rahmen und Ziel bleibt. Die Götter bleiben weit­gehend ausgespart, Mars und Bellona lassen sich als Metonymien für ‚Krieg‘ verstehen (ML 22-25), Schicksal/Fatum handelt, nicht der Allmächtige. Tugenden kann man in christliche Moral integrieren. Eine ganz große Rolle aber spielt Natura.[17] Sie hat ihren großen Auftritt in ihrer Klagerede in der Unterwelt angesichts des Leviathan (10, 6-167 – für die es keine Vorlage in den Quellen gibt: ML 5; 971-974). Sie wird als Schöpferin, nicht aber als Göttin dargestellt.[18]

Das Werk mit dem Kommentar von Martin Lehmann erschließt dieses großartige lateinische Epos. Wie wertvoll ist es, den lateinischen kunstvollen Text direkt neben der schlichteren deutschen Übersetzung zu lesen (für Vergil-Kenner ein Genuss!). Der Kommentar ist eine hervorragende Einführung in die Philologie (des Mittelalters). Man bekommt hier alle Fein­heiten der Poetik, der rhetorischen Sprache, der Metonymie, der Anspielung und Über­trumpfen der antiken Vorbilder, der Christianisierung der Antike erklärt; eine behutsame Christianisierung, ohne die antike Sprache, in Maßen auch ihre Götter gewaltsam zu ver­kleiden. Gratulation zu dieser Meisterleistung an den Übersetzer und den Herausgebern der Reihe zu dem Mut, dieses wertvolle lateinische Epos in die Reihe aufzunehmen!

 

Bremen/Wellerscheid, November 2023                                                    Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Die neun Musen – auch hier muss der Leser wissen, dass sie nach ihrem Aufenthaltsort benannt werden als Pieriden – werden aufgerufen, damit ein Dichter die vielen Details seines Epos richtig erinnert, der sog. Musenanruf (1 prooemium 1-5). Hier ist es ein Musenabschied. Je eine Muse ist für ein Text-Genus verantwortlich. Kalliope für das Epos, Thalia für das Theater (Komödie). Urania für die Astronomie, Klio für die Geschichtsschreibung. – Auf Zitate im Buch ist verwiesen durch die Initialen des Autors ML und die Seitenzahl.

[2] Horatius, carmen 3, 30: exegi monumentum aere perennius. Nicht einmal die Pyramiden werden so lange stehen. Er richtet das Selbstlob an die Muse Melpomene (lyrische Dichtung). Schon Thukydides (1,22) erhebt den Anspruch, seine Geschichtsschreibung des Peloponnesischen Krieges 431-404 v.Chr. sei „ein Besitz für immer“ κτῆμα εἰς ἀεί. Vgl. Reinhard Gruhl: Über den Umgang mit Dichterstolz (ebe-online.de) (19.11.2023). – Zu Demutsformeln, s. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateini­sches Mittelalter. Bern: Francke [1948], ²1954, 410-415; 92-95.

[3] Die Widmung an den Erzbischof Wilhelm von Blois ist schon am Anfang ausgesprochen (1,12-26), Walter kehrt also an den Ausgangspunkt zurück. Sehr kundig der Kommentar 998-1001, der zeigt, wir auch hier Horaz das Vorbild ist. Die Evangelien-Stelle ist nicht angemerkt.

[4] Zitat ML 37, 1001. Nach dem Ersten Kreuzzug mit der überraschenden Eroberung Jerusalems folgen nach Rückschlägen immer wieder Aufrufe zu neuen Kreuzzügen (von denen nur die großen gezählt werden). Der Dritte Kreuzzug brachte dann erstmals die großen Könige zum Entschluss, nach Jeru­salem zu ziehen, darunter Friedrich Barbarossa und Richard Löwenherz, nicht aber den französischen König Philipp ii. Augustus, den Walter wohl ganz besonders meinte (35, 830). „In der Mitte des Epos“ zeigt das Schema des Aufbaus S. 37.

[5] Umfassend LexMA [Lexikon des Mittelalters. Zürich, München] 1(1980), 354-366, bes. 356 (J Gruber). Zu Walters Quellen ML 17-20.

[6] Hic inclusit Alexander duas gentes immundas Gog et Magog, quas comites habebit Antichrist. Hii humanis carnibus vescuntur et sanguinem bibunt. Hartmut Kugler (Hrsg.): Die Ebstorfer Weltkarte. Berlin: Akademie 2007 auf Qudrant 8, Text 7. Sabine Schmolinsky: Gog und Magog. LexMA 4(1989), 1534: Alexander riegelte die Reitervölker aus dem Norden (biblisch: Ezechiel 38-39, Apokalypse 20,8) in einem Tal ab mittels eiserner Pforten: Josephus, bell. Iud. 7,7,4 und antiqu. 1,6,1. Im Koran Sure 18, 94-101; 21,96.

[7] Die Deutung der Gegenwart (des Mongolensturms) unmittelbar aus der Voraussage des Weltendes in der Apokalypse (Offenbarung des Johannes) hat Johannes Fried nachgewiesen: Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Die Mongolen und die europäische Erfahrungswissenschaft im 13. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 243 (1986), 287-332.

[8] Galteri de Castellione: Alexandreis. Ed. Marvin L. Colker. Patavii [Padua]: Ante nore, 1978. Diese kritische Ausgabe auf der Grundlage von 209 Handschriften liegt auch der vorliegenden Ausgabe zugrunde mit wenigen Änderungen, die S. 49f zusammengestellt sind.

[9] Alexandreis. Das Lied von Alexander dem Großen. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Gerhard Streckenbach unter Mitwirkung von Otto Klingner. Mit einer Einführung von Walter Berschin. Heidelberg: Lambert Schneider 1990 (Darmstadt: WBG ²2012).

[10] Gautier de Châtillon: Alexandréide. Edition des lateinischen Texts Marvin L. Colker [1927-2020]. Französischen Übersetzung von Jean-Yve Tiliette, Turnhout: Brepols [2022]. 354 Seiten.

[11] Dörthe Führer: Der «Alexandreis»-Kommentar Gaufrids von Vitry: Überlieferung – Fassungen – Inhalte. Bern: Peter Lang, 2023.

[12] Eine Bindung in zwei Bände würde die Benutzung einfacher machen. Die Bindung (fadengeheftet) ist besten Standards und wahrt den Charakter der Reihe, weiterhin als Leinenband. – Man entschied sich bei der Übernahme der Reihe von Artemis-Winkler für die Beibehaltung der Höhe bei etwas breiterem Format/Satzspiegel. Bei dem Format ist das Buch, gerade so ein dickes, nicht so leicht aufgeschlagen zu halten. Der Kommentar in einem eigenen Band, neben dem Textband aufgeschlagen statt hinter dem Text, ließe beides einfacher verfolgen lassen.

[13] Viel zu lange hielt sich das Übersetzungsdeutsch, das auf einem Purismus beruhte, der veraltete Wörter nutzte und vor allem Fremdwörter vermied.

[14] Zum Übersetzer und Kommentator PD Dr. Martin Lehmann, Oberstudienrat bei Freiburg und Privatdozent an der Universität dort, s. seine Homepage PD Dr. Martin Lehmann — Seminar für Griechische und Lateinische Philologie (uni-freiburg.de) (19. 11. 2023).

[15] Die Renaissance (des 15. Jh.s) erfand Jacob Burckhardt: Die Cultur der Renaissance in Italien. Basel: Schweighäuser 1860 [Kritische Ausgabe von Mikkel Mangold. (Jacob Burckhardt Werke 4) München: Beck; Basel: Schwabe 2018]. Dank der philologischen Arbeit von Homer Haskins 1927 und der kunst­geschichtlichen Differenzierung von Erwin Panofsky: Die Renaissancen der europäischen Kunst. [engl. Stockholm 1960] Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979 und vielen weiteren Arbeiten unterscheidet man die (1) karolingische, (2) die Renaissance des zwölften und (3) die Renaissance des 15. Jahrhunderts. Dazu ML 11-13.

[16] Die widerspenstige Eingliederung der Antike in christliche Denkformen bei Alanus zeigt Ulrich Berner: Antike und Christentum im Mittelalter: Alanus ab Insulis als Dichter und Theologe. In: Christoph Auffarth: Religiöser Pluralismus im Mittelalter? Besichtigung einer Epoche der Europäischen Religionsgeschichte. Münster: LIT 2007, 25-37.

[17] Natura in der Schule von Chartres (Walter war befreundet mit dem Bischof von Chartres, Johannes von Salisbury): Roland Halfen: Chartres. Schöpfungsbau und Ideenwelt im Herzen Europas. Band 4:  Die Kathedralschule und ihr Umkreis. Stuttgart: Mayer 2011.

[18] Die deutsche Übersetzung verwendet „Göttin“ (10, 6 und 18, wohl aber 82), im Text aber keine dea, sondern numen, das Neutrum einer namenlosen göttlichen Kraft. Die Renaissance des 12. Jh.s ist eine Aristoteles-Renaissance (die Tugendlehre der Nikomachischen Ethik ist vermittelt durch die Über­setzung des Burgundio von Pisa) und initiiert die Scholastik. Dort wird Natura dann mit dem mono­theistischen Gott austauschbar. Der Herrscher in der Hölle ist Leviathan, der mit dem biblischen Lucifer aus Jesaja 14 (10, 82-87) vertauscht wird. Er wird mit der Ermordung Alexanders (10, 356-432) beauftragt, das Fatum holt Alexander ein.

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