Phaedrus: Fabeln

Phaedrus: Fabulae – Fabeln. Lateinisch / Deutsch.
Herausgegeben und übersetzt von Carolin Ritter.

(Reclam UB 14340) Ditzingen: Reclam 2023.
279 Seiten. 9,90 €
ISBN: 978-3-15-014340-7

Lebensregeln aus dem Munde von Tieren: die Fabeln des Phaedrus

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Die Fabel-Sammlung des Phaedrus aus der Zeit des Kaisers Augustus gibt unterhalt­sam und kunstvoll moralische Regeln aus kleinen Anekdoten zwischen Tieren, die die Mächtigen schwach aussehen lassen und, wie die Schwachen aber mit Klugheit das Leben meistern können. Eine neue Übersetzung und gute Kommentare, willkommen nicht nur im Lateinunterricht.

Ausführlich: Die Fabeln des Phaedrus werden gerne im Lateinunterricht gelesen, wenn das Übungsbuch schon weitgehend behandelt ist und die Lust auf ganze Literatur-Texte der Antike steht. Sie sind meist sprachlich nicht so schwer und die Moral der Anekdote, die zwischen Tieren spielt, lässt sich leicht auf menschliches Verhalten und Fehlverhalten übertragen.[1] Auch in der europäischen Literatur war die Gattung der Fabel sehr beliebt und Phaedrus wurde gerne als Vorlage genutzt.[2] Das Vorbild des lateinischen Autors Phaedrus waren die griechischen Fabeln des Aísopos (Äsop).[3] Dessen Fabeln allerdings transportierten in der Verkleidung der Tierfabel so treffende politische Kritik, darunter an der reich gewor­denen Orakelstätte Delphi, dass ihm der Sage nach ein Kleinod aus dem Tempelschatz in den Rucksack gesteckt wurde und er zum Tode verurteilt wurde.[4] Das Thema des Schwächeren, der mit Schlauheit den Stärkeren schwach aussehen lässt, gehört zur Sklavensprache (3 Prol. 33-37; vgl. S. 262);[5] Aisopos soll ein Sklave gewesen sein, der mit seinem Herrn auf dessen Reisen Erfahrungen sammelte und manchen vor den Kopf stieß. Das Genus der Fabel ist bereits im Alten Orient entwickelt, etwa in der Hebräischen Bibel die Jotham-Fabel (Richter 9, 8-15). Phaedrus führte, wie er im Prolog 1-2 selbst angibt, den äsopischen Stoff in die lateinische Sprache ein, allerdings künstlerisch aufgewertet durch Versform (jambische Senare, erklärt auf Seite 259-262, volkstümlich durch die römische Komödie) und in fünf Gedichtbüchern geordnet. Mit Prologen und Epilogen ordnete er die Fabeln ein in einen poetologischen und biographischen Rahmen: die Kunstform des Fabelbuches war entwickelt.

Der Reclam-Verlag hatte eine Ausgabe in seinem Programm.[6] Eine Neuausgabe war sinn­voll, (1) weil in den letzten Jahren sehr viel zu Phaedrus geforscht, mehrere neue Kommen­tare erarbeitet wurden, die in den Anmerkungen (192-241) in ganz anderer Qualität aufge­nommen wurden. (2) Die kritische Ausgabe, die dem lateinischen Text zugrunde liegt von A Guaglianone Turin 1969, hat CR an vielen Stellen verändert[7] (2.1) zugunsten der Über­lieferung, und (2.2), weil ein neues Manuskript entdeckt wurde. (3) Die Übersetzung war revisionsbedürftig. Carolin Ritter[8] beansprucht für ihre Neuübersetzung S. 190f „Ziel war, den lateinischen Text in moderne, gut verständliche deutsche Prosa zu übertragen, eng an der Wortwahl und sprachlicher Struktur des Originals orientiert – also eine ‚dokumentari­sche Übersetzung‘ im Sinne Wolfgang Schadewaldts.“

Das Nachwort 249-278 führt ein (1) zur Gattung der Fabel, (2) Geschichte der griechisch-römischen Fabel. (3) Die wenigen Zeugnisse zum Leben des Phaedrus – das meiste wissen wir aus seinen eigenen Angaben in den Prologen – erweisen ihn als einen in Griechenland geborenen, als Sklave nach Rom verschleppten Lehrer am Kaiserhof; die Handschriften bezeichnen ihn als Freigelassenen des Augustus, also in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n.Chr. Auch ihn traf die Zensur der Mächtigen, die sich wie der Praetorianer-Präfekt Aelius Seianus angegriffen fühlten: 3 Prol. 41-50, mit den Anmerkungen S. 207f; vgl. zu den bio­graphischen Angaben 257, dass die poetologische Selbststilisierung, er sei geboren, wo die Musen wohnen, die ja alle Künste inspirieren, dann muss das kein realer Geburtsort sein. (4) Die Fabelwelt des Phaedrus (5) Metrik und Sprache, (6) Der Dichter über seine Dichtung, (7) Poetisches Programm und poetische Technik, (8) Die Überlieferung des Textes, (8) Nachwirkungen.

Um Beispiele zu geben – neben den bekannten ‚Fuchs und Rabe‘ oder der interessanten Version ‚Lügen haben kurze Beine‘ App. 5 – aus dem Bereich Religion: Buch 4, Fabel 1[9] erzählt von einem Esel, den die Priester (Galli) der Kybele überfordern mit Lasten Tragen für ihren einträchtigen Erwerb, bis das arme Tier stirbt. Aus der Haut des Esels fertigen die Kybele-Anhänger Tamburine. Der Esel hatte geglaubt, mit dem Tod ende alles Leiden. Die Priester aber folgern zynisch „Er glaubte, nach seinem Tod sei er sicher. Schau her, dem Toten werden nun Schläge anderer Art verpasst.“ Die postmortale Existenz[10] der ‚orienta­lischen‘ Religion wird hier als zynischer Betrug der Priester entlarvt. Der Kommentar verstärkt die Vorurteile des Phaedrus mit Begriffen wie ‚Ekstase‘ ‚Orgiastisch‘. Die ‚Erlösung‘ des Esels Lucius im Isis-Kult, die Apuleius dramatisch gestaltet, hätte das Selbstverständnis der(artiger) Religion dagegen gestellt.[11]

Ein anderes interessantes Beispiel ist Buch 4, Fabel 11: Ein Dieb bricht in der Nacht in den Tempel des Iupiter ein, entzündet eine Lampe am Opferaltar und stiehlt ein Kleinod. Da spricht eine Stimme, es ist die ‚heilige Religio‘: Um das gestohlene Kleinod ist es nicht schade, es war ein Geschenk von Betrügern. Trotzdem wird der Tempelräuber die Tat mit dem Leben bezahlen, wenn dein vorgemerkter Tag der Strafe kommt. Das Verbrechen wird nicht durch den Zorn der Götter (hier der bestohlene Iupiter), sondern unentrinnbar („durch das Schicksal“), aber zeitversetzt bestraft. Nun kommt eine merkwürdige Wendung mit der Begründung (Aitiologie) einer eigentlich seltsamen liturgischen Regel: Damit nie wieder eine Lampe für solch ein Verbrechen leuchte, ist es verboten, eine Lampe am Altarfeuer zu entzünden und umgekehrt. Der Kommentar S. 220 hebt die sprachliche Finesse hervor, sucht eine (nicht ganz treffende) Analogie im ‚ewigen Licht‘ und bemerkt, dass Lessing findet, dass die dreifache ‚Moral von der Geschichte‘ die Fabel überfrachte.

Auch für die, die nicht (mehr) Latein lernen, eine spannende Lektüre in das Genre, vor allem wenn man die Sozialgeschichte dieser Literaturform kennt. Und gleichzeitig ist zu erkennen, dass bei Phaedrus die politische Botschaft der moralisierenden Deutung weicht.[12]

 

Bremen/Wellerscheid, Allerheiligen 2023                                                 Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Für die Didaktik ist interessant, dass Melanchthon sie 1528 in den Lehrplan der evangelischen Bildung in der Reformation aufnahm.

[2] Ein umfassendes Kompendium zur Rezeption bietet Gert-Jan van Dijk: Aesopica Posteriora. Medieval and Modern Version of Greek and Latin Fables. Genua 2015 in 2 Bänden, 1369 Seiten.

[3] Der griechische Dichter Aisopos Bei Reclam ebenfalls zweisprachig von Thomas Voskuhl 2005, bibliographisch ergänzt 2016. Grundlegend war die Ausgabe: Ben Edwin Perry: Aesopica: a series of texts relating to Aesop or ascribed to him or closely connected with the literary tradition that bears his name. Collected and critically edited, in part translated from Oriental languages with a commentary and historical essay. [nur Band 1] Urbana: Illinois UP 1952. – Zu Aisopos/Äsop gibt es eine fiktive Biographie ‚Anti-Text eines Anti-Helden‘. Zweisprachig in der Tusculum-Ausgabe Leben und Fabeln des Äsop von Niklas Holzberg. Berlin: de Gruyter 2021, 44-182.

[4] Gestorben 564/3 v.Chr. Maria Jagoda Luzzatto, Aisopos. Der Neue Pauly 1(1996), 360-365. Der Prozess und Todesurteil in Delphi Herodot 2,134,3, Aristophanes, Wespen 1446-1448 (mit Scholion vetus). Aristoteles, Die Verfassung der Delpher, Fr. 487 R³ (=Plutarch, De sera numinis vindicta 12 = Moralia 556F – 557B, ed. Paton/Pohlenz/Sieveking, Moralia 3, 1929=2001, 416f), dazu Martin Hose, Aristoteles, Die historischen Fragmente. (Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung 20 iii) Berlin: Akademie 2002, 22f; 151f.

[5] „Weil der unterworfene Sklavenstand nicht auszusprechen wagte, was er wollte, übertrug er eigene Gefühle in Fabeln und wich der bösen Kritik spielerisch mit erfundenen Scherzen aus.“ Erinnert sei an Hubert Cancik: Phoebus der Barabar. Texte in der Sklavensprache CIL vi 24 162 [1976] wieder in: H. C.: Verse und Sachen. Kulturwissenschaftliche Interpretationen römischer Dichtung. Hrsg. von Richard Faber und Barbara von Reibnitz. Würzburg: Königshausen und Neumann 2003, 249-254.

[6] Otto Schönberger legte in seiner ebenfalls zweisprachigen Ausgabe (11975) eine Übersetzung von Friedrich Rückert (1788-1866) zugrunde (seit 1929 in der Reclam-Ausgabe), wahrscheinlich nicht von dem berühmten Dichter und Orientalisten. Denn der war schon elf Jahre tot, als das Vorwort der Übersetzung 1877 datiert wurde. So steht auf dem Titelblatt als Autor Friedrich Fr. Rückert. Einige Fabeln übersetzte Rückert nicht und alles, was irgendwie als sexuelle Anspielung verstanden werden konnte, umschrieb dieser schamvoll, vgl. Schönberger S. 232f.

[7] Liste der Korrekturen S. 187-190. 2014 wurde eine neue Handschrift entdeckt, berücksichtigt in der Edition von Giovanni Zago: Phaedrus, Fabulae Aesopiae. (Bibliotheca Teubneriana) Berlin: De Gruyter 2020.

[8] Dr. Carolin Ritter hat bei Reclam 2015 herausgegeben von Philipp Melanchthon: De miseriis paed­agogorum. Lateinisch/Deutsch. Die Diss. Göttingen: Ovidius redivivus – Die „Epistulae Heroides“ des Mark Alexander Boyd [1562-1601]: Edition, Übersetzung und Kommentar der Briefe „Atalanta Meleagro“ (1), „Eurydice Orpheo“ (6), „Philomela Tereo“ (9), „Venus Adoni“ (15). Hildesheim: Olms, 2010. Sie hat zum 500. Gründungsjubiläum die Festschrift des Lessing-Gymnasiums in Frankfurt herausgegeben. Frankfurt am Main: Societäts-Verlag, [2020].

[9] Bei Äsop wird die Geschichte den Bettelpriestern μηναγύρται zugeschrieben. Die Moral geht hier aber nicht auf die postmortale Existenz, sondern auf Sklaven, die weiter schuften müssen, auch wenn sie freigelassen wurden. Fabel 164 Perry bzw. 173 Hausrath. In der Tusculum-Ausgabe von Niklas Holzberg Nr. 164 (Berlin: de Gruyter 2021, 340f).

[10] Die Religionswissenschaft verwendet anstelle von ‚Leben nach dem Tod‘, in dem mitklingt ein besseres Leben der Seele (‚objektsprachlich‘ einer bestimmten Religion zugehörig), den für die Analyse aller Religionen offenen (‚metasprachlichen‘) Begriff der postmortalen Existenz. Dazu Burkhard Gladigow: postmortale Existenz. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe 4(1998), 330-335.

[11] Apuleius, Der goldene Esel / Metamorphosen, Buch 11.

[12] Peter Leberecht Schmidt: Phaedrus. Der Neue Pauly 9(2000), 708-711, hier 709.

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