Cerny: Geschichte der Strafe

Lukas Cerny: Eine kurze Geschichte der Strafe.
Ein historisch-kritischer Beitrag zur Straftheorie.

(Studien und Beiträge zum Strafrecht 42) Tübingen: Mohr Siebeck 2024.

XVIII, 335 Seiten.
84 €.
ISBN 978-3-16-162626-5.

 

Wozu ist Strafe gut? Ein Gang durch die Menschheitsgeschichte

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Die Evolution (keine geschichtswissenschaftliche ‚Geschichte‘) der Strafe versucht der Autor im Gang durch die Menschheitsgeschichte. Historisch schief trennt er vorstaatliche Formen von den staatlichen. Spannend wird die Darstellung für die Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert.

Ausführlich:

Dieser Tage setzte der Bundeskanzler einen neuen Grundsatz fest, nachdem ein Migrant einen Polizisten tödlich verletzt hatte: Wir müssen uns vor solchen Straftätern schützen. Schwerstkriminelle müssen abgeschoben werden. Der Schutz der Gemeinschaft steht über dem Schutz der Schutzsuchenden, hier aus Afghanistan. Sofort kam die Antwort: Wird das einen Täter abhalten, eine solche Tat zu begehen?[1] Wozu ist Strafe gut? Und: Das war ein islamistischer Terror, Islamisten begehen solche Taten. Die Provokation der Islamhetzer dagegen gilt als ‚freie Meinungsäußerung‘ und durch das Grundgesetz geschützt.

Wozu ist Strafe gut? Ein Jurist wagt sich in seiner Dissertation an ein Thema, das nicht die Anwendung des positiven bestehenden Rechts eines Staates oder Staatengemeinschaft untersucht, sondern die Herkunft eines zentralen Bestandteils der Durchsetzung von Recht, aber nicht des heutigen Rechts.[2] Er begibt sich also aus der bekannten Sphäre des juristischen Denkgefüges heutiger Jura in die Geschichte der Menschheit. Der Gegenstand der Untersuchung ist die Strafe. LC definiert das folgendermaßen: „Unter Strafe verstehe ich im Folgenden deshalb jedes Übel, das einem anderen auferlegt wird als Reaktion auf ein missbilligtes Verhalten (und das sich nicht im bloßen Schadenersatz oder in der Durchsetzung etwaiger Ansprüche erschöpft)“ (17) und in der dazugehörigen Anmerkung verweist er auf die lateinische Definition des (niederländischen Calvinisten Hugo Grotius von 1625 in seinem de iure belli ac pacis) „Poena est malum passionis, quid infligitur propter malum actionis“ Strafe ist ein zu erleidendes Übel, das auferlegt wird wegen einer üblen Handlung (vgl. 141-145). Das „Übel“ stammt also aus der lateinischen Formulierung. Eine positive Definition würde ja den Rechtsfrieden hervorheben und dann nicht vom Übel sprechen, sondern vom Gut für die Gemeinschaft, das durch die Tat eines Menschen verletzt wurde und durch die Strafe an die Gemeinschaft geheilt werden muss, indem ein unabhängiges Gericht eine angemessene Beeinträchtigung des Besitzes[3] oder des Körpers[4] des Täters auferlegt. Davon zu unterscheiden ist die Buße des Schadenersatzes, die – unabhängig von der Strafzahlung an die Gemeinschaft – an den oder die Geschädigte gezahlt werden muss, wobei ebenfalls von einem Gericht festgelegt werden muss die Höhe der Buße. LC begründet seinen ‚weiten Strafbegriff‘ damit: „Diese ‚Geschichte der Strafe‘ widmet sich ja gerade bewusst den frühen Stadien menschlicher Geschichte, in denen von Staatlichkeit noch keine Rede sein kann.“ (16).

Dementsprechend ist das Buch aus zwei Teilen aufgebaut: Der erste Teil untersucht „Die Geschichte der Strafe und Straftheorie bis hin zur Entstehung von Herrschaft und Staat“ (7-88). Der zweite Teil beschreibt deren Geschichte „von der Völkerwanderungszeit bis zur Gegenwart“ 89-282. Davor steht die kurze Einleitung Sinn und Zweck der Strafe (1-6); das Buch schließt mit dem Fazit „Was bleibt“ 283-287. Für den Historiker unbegreiflich ist der Zeitpunkt für den als Einschnitt zwischen den beiden Teilen gewählten Epochenwandel: die Völkerwanderung, im Zuge derer sei es zur Bildung von Staaten gekommen. Die Entstehung von Königreichen mit eigenen Gesetzen ist noch lange kein Staat. Wolfgang Reinhard hat beschrieben, welche Elemente zum Aufbau der Staatsgewalt konstitutiv sind.[5] Einige davon sind auch in der Antike schon zu finden. Bis zum Absolutismus gab es keine vergleichbare Institution mit Gesetzen, Durchsetzung von Strafen, Eintreibung von Steuern, stehenden Heeren, zentraler Herrschaft, schon gar nicht in der Völkerwanderungszeit. Die zentrale These, dass die neue Form der Strafe mit der Institution des Staates entscheidend verbunden ist, verlangt nach einer Definition des Staates. Dieses höchst umstrittene Problem, wann man von einem Staat sprechen kann, lässt LC aus: „die Kontroverse um den Staatsbegriff – die hier nicht aufgegriffen werden soll […].“ (73, Anm. 47)

Der Titel des Buches interessierte mich sehr, weil ich selbst zu dem Thema schon seit meiner Dissertation gearbeitet habe, in deren Mittelpunkt die Odyssee und die Bestrafung der zahlreichen Freier stand, die auf Kosten des vermissten Hausherrn, seiner Frau und seines gerade erwachsen werdenden Sohnes dessen Besitz verprassten und versoffen, seine Bediensteten sexuell nutzten, als wären sie selbst als Gemahl der Penelope schon Hausherr. Wie ich herausarbeitete (und gleichzeitig mit meinem Buch kam Christoph Ulf zu einem gleichen Ergebnis), handelt es sich bei der homerischen Gesellschaft um eine regulierte Anarchie oder Akephalie.[6] Sodann verfolgt LC nur die Linie des Römischen Rechts, nicht das System (etwa im angelsächsischen Bereich), wo der Friedensrichter juristisch berät, aber die Geschworenen das Urteil sprechen. Die Frage der Rechtsdurchsetzung der Rechtssprechung ist dann noch ein anderes Problem.

LC kennt als Begriff die „herrschaftsfreie Gesellschaft“. Die Ethnologie hat aber herausge­stellt, dass es historisch keine herrschaftsfreie Gesellschaft gibt, sondern regulierte Anarchien (akephale Gesellschaft, segmentäre Gesellschaft u.ä.). Das heißt, (1) auf der Ebene der Haus­herren gibt es niemanden, der einen Befehl geben könnte, dem die anderen gehorchen müssen, es sei denn, sie haben sich selbst für ein bestimmtes Vorhaben mit einem Eid dazu verpflichtet (Agamemnon im Trojanischen Krieg). (2) Im Haus aber herrscht der Hausherr und für bestimmte Räume und Rollen die Hausherrin. (3) Das ‚Recht‘ des Stärkeren wird verhindert, indem sich die Gemeinschaft zu Regeln verpflichtet (regulierte Anarchie). (4) Wer immer sich geschädigt fühlt, muss seinen Anspruch vor der Versammlung der Gemeinde vortragen, sich die Gegenrede anhören, sich den Fragen des (wechselnden, nicht verwand­ten) Versammlungsleiters stellen. Wenn er die Mehrheit der Versammlung überzeugt, dann darf er im angemessenen Umfang selbst die Strafe ausführen, weil es kein Organ der Straf­durchsetzung gibt. Im Griechischen wird dafür das Wort συλάω syláo verwendet, was oft mit „rauben“ übersetzt wird, aber eher unserer ‚Selbstjustiz‘ entspricht, in der Akephalie aber Konsens zum Strafvollzug bedeutet. (5) Das Gegenstück ist ἄσυλον (Asyl), was für die Selbst­justiz nicht (alpha privativum) weggenommen werden darf. (6) Für das Recht der Schwäche­ren machen sich in der Gemeinschaft anerkannte Mitglieder stark, die das Recht etwa der Witwen und Waisen schützen und für ihren Lebensunterhalt sorgen. Da es aber keine durch Herrschaft begrenzte Justiz gibt, kann die Selbsthilfe in Rache umschlagen. (6) Im Fall der Odyssee tötet Odysseus alle Freier und die Mägde, die sich zu Geliebten der Freier hingaben. Er ist eigentlich völlig unterlegen, einer gegen 22, aber er hat eine Helferin, die Göttin Athene. Sie kämpft mit ihm für Gerechtigkeit. Als aber die Verwandten der Getöteten Rache verlangen, könnte es zur Spirale der Blutrache kommen. Odysseus gerät in Blutrausch. Da greift auf Bitten der Athene ihr Vater Zeus ein und stoppt den Wütenden mit dem Donner­keil. Das Epos endet damit, dass sich Odysseus und die zornigen Verwandten einigen, den Rechtsfrieden wieder herstellen und das mit einem Opfer bestätigen, nicht allerdings einem Opfer mit Blutvergießen, also ein Tieropfer, sondern ein Trankopfer Spondé. Das heißt, im Angesicht der Götter wird der Konsens rituell bekräftigt. Hier geschieht zweierlei: Das Recht wird wieder hergestellt durch drastische Strafen – im Beisein und unterstützt von den Göttern. Die Buße der Restituierung des von den Freiern verprassten Besitzes, den Schaden­ersatz, müssen die Verwandten nach der Spondé erstatten. Strafe und Schadensersatz sind zwei verschiedene Akte. Durchsetzung des Rechts kann nur durch den Geschädigten in Selbsthilfe erfolgen. – Die theoretische Grundlage für die regulierte Anarchie fand ich in den ethnologischen Untersuchungen von dem Ethno-Soziologen Christian Sigrist, historisch angewendet für das Alte Israel von Frank Crüsemann, aufgenommen von dem Juristen Uwe Wesel und anderen.[7]

Ich habe das Buch als Historiker (Altertumswissenschaftler und Mediävist) gelesen. Es wundert mich, dass für eine so weitreichende und ambitionierte Arbeit nicht ein Historiker zur Beratung und Betreuung gebeten wurde. Ein so wacher Kopf wie der Verfasser, der sich gut eingelesen hat,[8] hätte dann auch historisch konzeptionell die Untersuchung anders und gewinnbringend unternommen. Die religiöse Dimension, die für vorstaatliche Gesellschaften das Grundgesetz bildet, wird als „Entzauberung der theokratischen Straftheorie“ diskutiert (104-110; 111-138) auf dem Hintergrund einer undifferenzierten Säkularisierungsthese. Wie gesagt, ich lese das Buch als Historiker und finde keine Geschichte im Sinne der Geschichts­wissenschaft. Der Versuch einer “Evolution“, die aber von der vorstaatlichen Stufe direkt in die staatliche Stufe im neuzeitlichen Sinne springt, ohne die Hochkulturen zu beachten, etwa die Rechtskultur des Römische Reiches (das nur als sterbende Weltmacht S. 95f vorkommt) lässt sich in einer „kurzen Geschichte“ einer Erstlingsarbeit kaum beschreiben. Spannend wurde das Buch mit den Diskussionen des 19. und 20. Jahrhunderts. So ist gerade die Diskussion akut, wie man ‚Mord‘ definiert. Noch gelten die im Nationalsozialismus eingeführten Kriterien, die weniger die Tat als den Tätertypus bestrafen. Was im NS (219-225) „vom Tat- zum Täterstrafrecht“ anstelle von Resozialisierung den Täter als Gegner der Volksgemeinschaft, als Asozialen brandmarkte und Mord „aus niederen Beweggründen“, „aus Heimtücke“ zur Charaktersache „des geborenen Verbrechers“ umdefinierte und durch die Todesstrafe unschädlich machte.[9] Von da ist es nicht weit, den Typus ‚Islamist‘ zum geborenen Mörder zu stempeln und gleich alle Muslime zu ‚remigieren‘. Die Prävention war einmal ein Ziel, das aber nicht mehr gilt. Ist das Konzept gescheitert? Dort wird das Buch spannend und die Historie hat Auswirkungen auf die Gegenwart.

 

Bremen/Wellerscheid, Juni 2024                                                               Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

——————————————————————————–

[1] Das bezieht sich auf eine Situation in Mannheim, wo eine rechte Gruppe einen Stand aufgebaut hatte, um gegen den Islam zu hetzen. Ein Afghane war provoziert und ging auf die Hetzer mit einem Messer los. Ein Polizist ging dazwischen, wurde seinerseits dann angegriffen und tödlich verletzt. Die Erklärung des Bundeskanzlers vor dem Bundestag am 6. Juni 2024. Scholz will Schwerkriminelle nach Afghanistan abschieben – ZDFheute (07.06.2024).

[2] Der Autor (geboren 1993) studierte und promovierte in Regensburg am Lehrstuhl für Strafrecht von Prof. Tonio Walter (vgl. das Literaturverzeichnis mit 12 Einträgen). Er arbeitet zur Zeit als Staatsan­walt in München. Den Autor kürze ich ab mit den Initialen LC.

[3] Zur Geldstrafe LC 210-213.

[4] Historisch sind körperliche Strafen (Schläge, die Hand des Diebes abhacken, Auge um Auge, d.h. nur ein Auge, wenn der andere ein Auge verloren hat, nicht beide, bis hin zur Todesstrafe) sehr häufig, während heute der Strafvollzug ‚nur‘ den Entzug der freien Bewegung durch die Gefängnis­strafe bedeuten kann.

[5] Die grundlegende Arbeit des Historikers ist zwar zitiert, aber nicht als grundlegend verwendet: Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas bis zur Gegenwart. München: Beck 1999.

[6] Christoph Ulf: Die homerische Gesellschaft: Materialien zur analytischen Beschreibung und historischen Lokalisierung. (Vestigia 43) München: Beck 1990. Christoph Auffarth: Der drohende Untergang. ”Schöpfung” in Mythos und Ritual im Alten Orient und in Griechenland am Beispiel der Odyssee und des Ezchielbuches. (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten RGVV 39) Berlin; New York 1991. Nachdruck 2013.

[7] Christian Siegrist: Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herr­schaft in segmentären Gesellschaften Afrikas. (Texte und Dokumente zur Soziologie) Olten: Walter 1967- Frank Crüsemann: Der Widerstand gegen das Königtum. Die anti­königlichen Texte des Alten Testaments und der Kampf um den frühen israelitischen Staat. (WMANT 49) Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1978 – Uwe Wesel: Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesell­schaften. Umrisse einer Frühgeschichte des Rechts bei Sammlern und Jägern und akephalen Ackerbauern und Hirten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985.

[8] Das Literaturverzeichnis enthält rund 800-900 Einträge, auch wissenschaftsgeschichtlich wichtige ältere Literatur.

[9] LC 222 „Ihre Spuren finden sich noch heute etwa in §§ 211 ff StGB, in denen von ‚Mörder‘ und ‚Totschläger‘ die Rede ist.“

 

Schreibe einen Kommentar