Christoph Auffarth: Opfer. Eine Europäische Religionsgeschichte.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023.
251 Seiten.
ISBN 978-3-666-55465-0.
Das Ende des Opfers:
Der Mythos vom Ende der Gewalt in der Europäischen Religionsgeschichte
Eine Selbstvorstellung von Christoph Auffarth (s. Anm. 1)
„Opfer“ ist ein Wort, das wir alltäglich hören, sehen, lesen. Empathie ruft es hervor, wenn aus Zahlen (Hunderte oder waren es Tausende, die im Mittelmeer ertrinken?) das Schicksal von Einzelnen mit ihrer Geschichte wird. Dabei ist die heutige Bedeutung des Wortes (Kapitel 1) eine Zuspitzung, den sie im Laufe der Europäischen Religionsgeschichte erfahren hat. Dieser Geschichte geht das Buch nach, indem es die Epochen vergleicht, in denen Opfer als Ritual praktiziert wurden, mit den Bedeutungsänderungen, wenn Opfer als Metapher gebraucht wird, die keine Realität des Rituals mehr kennt. „Das Ende des Opfers“ ist daher der zentrale Wendepunkt in meiner Geschichtserzählung. In der Diskussion der Forscher um die Frage, was macht die Moderne aus, wird das Opfer zur Obsession der Moderne. Der Stolz, das Opfer überwunden zu haben, bringt die Religion auf die Anklagebank, Gewalt zu erzeugen, während die Moderne Gewalt überwunden habe: Welch eine Illusion! Denn im 19. und erst recht im 20. Jahrhundert erzeugen Kriege, der Verkehr, der Fortschritt, die menschen-erzeugte Katastrophe unserer Lebenswelt, die Atomkraft mehr Opfer an Menschen und die Schlachthöfe mehr Tiere als je zuvor. Die Kriege für die Entstehung der Nationen im 19. Jahrhundert verlangen Menschenleben, die mit dem ‚Opfer am Altar des Vaterlandes‘ den gewaltsamen Tod zu einer positiven Gabe für die Gemeinschaft täuschend verkehren: die Nationalreligion. Um ein Vielfaches gesteigert wird das verführende Wort, wenn alle, die nicht zum Volk gehören, die angeblich das Volk bedrohen durch ihre Andersheit, ermordet werden: der Genozid und das unvergleichliche Verbrechen der Shoah. Die Opfer sind schuld, nicht die Täter.
Die Suche nach einem Denkmal in der neuen Hauptstadt Berlin ‚für die Opfer des Nationalsozialismus und der Kriege‘ führte zu einer erbitterten Diskussion. Bei Staatsbesuchen gibt es ein Ritual der Ehrung für die Toten: des unbekannten Soldaten oder sonst ein Militär; seit dem Zweiten Weltkrieg kam allmählich das Bewusstsein auf, dass im ‚Totalen Krieg‘, beim ‚Moral Bombing‘ Zivilisten zu Opfern werden. Der Bundeskanzler ‚der Einheit‘, Helmut Kohl wollte eine Plastik der Künstlerin Käthe Kollwitz zum Denkmal wählen, allerdings die 40 cm große Plastik um das Vierfache vergrößert. Sie zeigt eine Mutter, die in ihrem Schoß um ihren toten Sohn, einen Soldaten, trauert.[2] Reinhart Koselleck, selbst Kriegsteilnehmer und nun in ein Beratergremium gewählt, das aber nur Feigenblatt-Funktion hatte, protestierte in Zeitungsbeiträgen.
Das alles ist im Kapitel 8 (197-228) meines Buches als eine Entwicklung beschrieben, zu der die Europäische Religionsgeschichte[3] den Entwicklungspfad[4] bildet. Wie kam es zu diesem Entwicklungspfad? Die christliche Einengung des Opfers auf den Opfertod Jesu führt zu zwei Konsequenzen: (1) Der gewaltsame Tod ‚stellvertretend für andere‘ ist das Ideal für alle Christen (also auch für Franzosen für Franzosen im Krieg)[5] und akzeptiert ‚das Leben als Leiden‘. (2) Im Hebräerbrief des Neuen Testaments ist Christus gleichzeitig der Opfernde (Hohepriester) als auch das Opfertier. Das Unmögliche, gleichzeitig passiv Getöteter als auch aktiv sakral Tötender zu sein, ermöglicht den christlichen Soldaten: Er opfert sich für den Glauben/den nationalen Gott und er tötet andere, um die Seinen zu schützen! In der konfessionellen Trennung wird das ‚Opfer‘ der Unterschied. Katholiken betonen das metaphorische Ritual, Protestanten bestreiten die Wirkung des ‚Rituals‘ (ex opere operato)[6] (Kapitel 7, S. 167-196).
Die historische Rückerinnerung trifft auf das „Ende des Opfers“, auf die Spätantike. Dies ist ein zentrales Kapitel (Kapitel 6, S. 133-166) der Metamorphose vom Opfer-Ritual zur Opfer-Metapher, weil es zeigt, dass das ‚Ende des Opfers‘ (des Opferrituals) auf alle religiösen Traditionen zutrifft. Alle lehnen der Opferritual ab: nicht nur Juden, deren Tempel zerstört, aber die die Bibellesung in der Synagoge gleichwertig feiern.[7] Christen feiern kurzfristig noch das jüdische Opfer am Jerusalemer Tempel, polemisieren dann aber gegen das ‚heidnische‘ Opfer. Nur, auch die ‚Heiden‘ lehnen das Opferritual als Tötung von Tieren als barbarisches Ritual mehr und mehr ab. Kaiser vermeiden das öffentliche Opfer, weil die Spezialisten, die die Leber des Opfertiers ‚lesen‘ , darin den baldigen Tod des Herrschers wahrsagen könnten. Ihre Macht wäre dahin. Das Ende des Opfers erfordert eine umfassende Mutation von Religion, eine „Achsenzeit“.[8]
Diesen drei Entwicklungen der Religionsgeschichte (Moderne mit der Nationalreligion, christliches ‚Selbstopfer‘, Ende des Opfers in der Spätantike) stelle ich entgegen die Religionen des praktizierten Opferrituals, die ich aus eigenen Forschungen kenne: die antik-griechische Art des Opferns, u.a. mit dem einzigartigen Ritual des ‚Ochsen-Mords‘ (der Bouphonia. Kapitel 4, S. 79-108). Die Transformation des in der Hebräischen Bibel beschriebenen Opfercodex bis zum ‚Selbstopfer‘ Christi im Hebräerbrief. (Kapitel 5, S. 109-132).
Ein weiteres zentrales Kapitel aber bietet Das Opfer als Gabe. In dem Kapitel 3 (S. 63-78) weite ich das Thema vom Opfer als blutigem Tieropfer, ja Menschenopfer auf die Weite und die soziale Bedeutung in opfernden Gesellschaften, auf die Gabe. Das Opfer ist nicht nur ein Geschenk an die Götter, eine Kommunikation mit den Göttern (die eine fiktionale Erzählung bleibt), sondern auch mit den Menschen, die man soziologisch beschreiben kann. Als Dreieck gewinnt die Graphik eine neue Plausibilität: Was einerseits eine materielle Einbuße für die Gebenden bedeutet, ist gegenüber der Gottheit ein – nur erhoffter[9] – Gewinn, sicher aber gewinnt man soziales Kapital (Anerkennung) in der Gemeinschaft und wird beim nächsten Opfer eingeladen werden, wird also von der Gabe, die nun andere ausgeben, einen Teil (zurück) bekommen.
Abb. 1 (aus meinem Buch): Konfiguration des Opfervorgang (S. 18)
Kapitel 1 diskutiert die Semantik des Wortes Opfer/sacrificium/victima und die These von der Höherentwicklung der Kultur. Kapitel 2 stellt gegeneinander die festliche Mahlzeit, zu der Gott einlädt (eine Idee von Julius Wellhausen, 1844-1918), während seine Zeitgenossen im Viktorianischen England W. Robertson Smith, James Frazer u.a. die Gewalt hervorhoben und die Illusion des Opfers, was Sigmund Freud übernahm für seinen Mythos vom Vatermord des Ödipus in Totem und Tabu 1912/13.
Das Buch des Religionswissenschaftlers Christoph Auffarth bietet in dichter Darstellung ein umfassendes Bild der Entwicklung der Europäischen Religionsgeschichte am Leitfaden des Opfers vom Alten Orient, dem Alten Israel, über die griechisch-römische Antike und das christliche Zeitalter[10] bis zur (vermeintlich säkularen)[11] Moderne. Die Ausrufung des ‚Endes des Opfers‘, der Gewalt im blutigen Opfer‘ und stattdessen des endgültig, abschließenden christlichen vergisst aber (1) den Fleischkonsum, wenn er nicht mehr sakral reduziert ist und (2) sakral ausgeweitet ist als Menschenopfer im Krieg bis hin zur Shoah und den Genoziden der Moderne.
Christoph Auffarth
Prof. für Religionswissenschaft
an der Universität Bremen
E-Mail: auffarth@uni-bremen.de
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Abb. 6.2 (S. 151) Die Grafik soll zeigen, wie das (frühe) Christentum einerseits aus dem Opferritual herausfällt mit der Ablehnung des blutigen Opfers, andrerseits andere, die kleinen Opfer weiter praktizierte.
Handlung | mit welcher Materie? | Klassische Kulte | Antike Christen | Weitere Entwicklung jüdischer/ christlicher Gottesdienste | |
Tiere schlachten | Rinder Schafe/ Ziegen Ferkel/ Schweine Tauben
|
Im Heiligtum: Geschlachtet und verspeist: Altar (Olympisches O.) – Oder ganz verbrannt oder versenkt. (Chthonisches O.) | Keine kultischen O. auf dem Altar. [Chr. profane Schlachtung. – Jüdisch, geschlachtet nach religiösen Regeln („kosher“)] | ||
Weihungen/ Gaben | Etwas zu essen. Modelle aus Ton aufgestellt | Modelle aus Ton: Tiere, Beter. Menschl. Glieder | Menschliche Glieder aus Wachs | ||
Votive aufstellen | Haus für Gott. Götterbilder (Holz, Metall) Edelsteine Münzen | Tempelbauten
Geld-Opfer |
Ikonen, Apsis-gemälde, Mosaiken ex votos.
Geld-Opfer |
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Geld „für die Armen“ | |||||
Libation (Flüssiges) vergossen/ getrunken | Wein Milch Honig | Wein Milch Honig | Wein [metaphorisch: Blut] Brot [metaphorisch: Fleisch] + Agape-Essen | Wein und
Brot |
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Gemeinsames Essen | Brot, Fleisch, Oliven, Feigen | Brot, Fleisch, Oliven, Feigen | |||
Licht anzünden | Lampen mit Öl, Fackeln | Lampen mit Öl, Fackeln | Lampen mit Öl, Kerzen | Lampen mit Öl, Kerzen | |
Wohlgeruch räuchern | Duftrauch Fettdampf des Opfertiers | Weihrauch vor den Bildern, bes. des Kaisers | Weihrauch | Weihrauch vor den Ikonen der Heiligen |
[1] Auf Englisch abrufbar: a self-introduction to my German book in English (99+) Auffarth, Opfer: | Christoph Auffarth – Academia.edu (12.08.2024).
[2] Ich habe fälschlich die Statue dem Künstler Ernst Barlach zugeschrieben. Empört über Kohls Entscheidung ereiferte sich der Historiker Reinhart Koselleck: Im Lande der Täter müsste es ein anderes Denkmal geben als dieses, das Rollen festschrieb (trauernde Mutter, getöteter Soldat) und vor allem ein typisch christliches Motiv für alle ‚Opfer des Nationalsozialismus und der Kriege‘ wählte: Maria beweint ihren toten Sohn Jesus, den vom Kreuz abgenommenen Retter der Welt (die Pietà). Vgl. die Rezension Auffarth, Wie wird aus Erfahrung und Erinnerung Geschichte? Zu Reinhart Kosellecks Konzeptionen: Reinhart Koselleck: Geronnene Lava. Texte zu politischem Totenkult und Erinnerung. 2023. Ulrike Jureit: Erinnern als Überschritt. Reinhart Kosellecks geschichtspolitische Interventionen 2023 https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/09/19/reinhart-koselleck-geschichtskonzeptionen/ (19. Sept. 2023).
[3] Europäische Religionsgeschichte unterscheidet sich von Christentumsgeschichte oder Kirchengeschichte, indem auch andere Akteure die Religionsgeschichte gestalten, die nicht ‚religiös‘ definiert sind, also Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, aber auch Atheismus, Marxismus, Feminismus etc. Das Prinzip der ‚mitlaufenden Alternativen‘ hat Burkhard Gladigow 1995 entworfen: „Europäische Religionsgeschichte“, in: Hans G. Kippenberg; Brigitte Luchesi (Hrsg.): Lokale Religionsgeschichte. Marburg: Diagonal 1995, 21–42. Repr. in Ders.: Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft. Stuttgart: Kohlhammer 2005, 289–301. Eine Alternative hat Helmut Zander entwickelt, vgl. meine Rezension dazu: Auffarth, Helmut Zander: ‚Europäische‘ Religionsgeschichte. Religiöse Zughörigkeit durch Entscheidung – Konsequenzen im interkulturellen Vergleich. In: Religious Studies Review 44.1 (2018), 101f.
[4] Mit Max Weber sprach man von „Okzidentaler Entwicklung“ als der am weitesten fortgeschrittenen Entwicklung („Moderne“, „modernity“), der früher oder später die anderen Kulturen würden folgen. Später sprach man von „Sonderweg“. Dann kam die Erkenntnis, dass es keine Fortschritts-Linie gibt, die für alle gleich ist. „Multiple modernities“ erkannte Shmuel Eisenstadt von der Perspektive von Jerusalem aus, einst der Nabel der Welt. „Entwicklungspfad“ bedeutet, dass jede Kultur ihre Entwicklung nimmt, indem sie durch eigene Umstände (wie wirtschaftliche, soziale und kulturellen Besonderheiten) eine neue Stufe erreicht, die dann neue Bedingungen schafft (die nicht die gleichen einer anderen Kultur sind), von denen sie sich weiter entwickelt: jede nimmt ihren eigenen Pfad.
[5] Das hat Guy Stroumsa großartig für den französischen Juden Robert Hertz und seinen Lehrer Èmile Durkheim herausgearbeitet (Intellectual 2021 [wie Anm. 7], 19-28). Das christliche Ideal des Opfertods nimmt der jüdische Vater im Ersten Weltkrieg für sein kleines Kind auf sich.
[6] ‚Das Ritual wirkt‘, egal ob man daran glaubt oder nicht.
[7] Guy Stroumsa hat in 2005 das für die Rolle des Rabbi und den Talmud beschrieben, Zunächst aber nicht für die anderen religiösen Traditionen der Spätantike. Auffarth: Ende des Opfers – eine jüdische Perspektive. Guy G. Stroumsa: Das Ende des Opferkults: Die religiösen Mutationen der Spätantike, 2011. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2011/12/30/das-ende-des-opferkults-die-religiosen-mutationen-der-spatantike-von-guy-g-stroumsa/ (30.12.2011). Dann aber erweitert er die Perspektive im Essay La fin du sacrifice revisited: Meine Rezensionen Auffarth: Jenseits des Eurozentrismus: Der Weltbürger Guy Stroumsa erschließt intellektuelle Blicke auf Religion und die Achsenzeit in der Spätantike: Guy Stroumsa: The Crucible of Religion in Late Antiquity. Selected Essays. (STAC 124) Tübingen: Mohr Siebeck 2021. Guy Stroumsa: Religion as Intellectual Challenge in the Long Twentieth Century. Selected Essays. Tübingen: Mohr Siebeck 2021. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/04/27/stroumsa-religion/ (28. April 2023).
[8] Das Konzept hat Jan Assmann genealogisch hergeleitet, vor Karl Jaspers und Shmuel Eisenstadt. Guy Stroumsa hat das zunächst für das (rabbinische) Judentum beschrieben La fin du sacrifice 2005, dann – nach meinen Rezensionen – für alle religiöse Traditionen der Spätantike La fin du sacrifice reviseted in: GS:Crucible 2021 (wie Anm. 7), 151-162.
[9] Das dafür verwendete lateinische Wort do ut des „Ich gebe, damit Du gibst“ unterstellt den antiken Menschen, dass sie in der Absicht opfern, damit sie dank der Großzügigkeit der Gottheit etwas (mehr) zurück erhalten. In der Gabenökonomie (die ich in dem Kapitel erkläre) ist die Gabe/Opfer aber kein Tauschgeschäft, sondern Reziprozität , wechselseitige Anerkennung des sozialen Status.
[10] Die Kontinuität des Opferns im Christentum trotz der scharfen Ablehnung des blutigen (Tier-) Opfers habe ich in der unten stehenden Grafik entwickelt.
[11] In einem neuen Buch erklären Lorenz Trein und ich, dass die Alternative das Säkulare/das Religiöse keinen Gegensatz darstellt: „Ein systematischer Aufriss“, in: Lorenz Trein; Christoph Auffarth (Hrsg.): Säkulare Religion. Ein Beitrag zur Säkularisierungsdebatte. (Religion: Debatten und Reflexionen 3) Tübingen: Mohr Siebeck 2024.