Bauman Fragmente

Zygmunt Bauman: Fragmente meines Lebens.

Herausgegben von Izabela Wagner.
Berlin: Suhrkamp;
Jüdischer Verlag 2024.
303 Seiten.
ISBN 978-3-633-54331-1.

 

„Ich hasse Herden“:
Zygmunt Bauman, ein jüdischer Pole und soziologischer Analytiker
der Postmoderne autobiographisch

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Verschiedene Stücke, die sich mit „meinem Leben“ (1925-2017) befassen vom Juden als Kind, vom Kommunisten während und nach dem Zweiten Weltkrieg, bis der real exisitie­rende Sozialismus ihn aus Polen vertrieb und er als Professor in Leeds bestechende Analysen der postmodernen Gegenwart schrieb.

Ausführlich:

Der bedeutende in Polen aufgewachsene, lange erst in Polen, dann in England lehrende Soziologe Zygmunt Bauman hat einige Texte hinterlassen, die Izabela Wagner herausgegeben hat. Zumeist auf Polnisch geschrieben sind sie auf Englisch veröffentlicht worden (My life in Fragments, Cambridge: Polity 2023) und nun für deutsche Lesende auch in einer deutschen Ausgabe übersetzt. Sehr erfreulich ist, dass die Herausgeberin die vielen Anspielungen und Baumans Bezugnahmen auf polnische Zeitungen, Parteien oder Instituti­onen in Anmerkungen erklärt und mit einer kundigen Einführung einleitet.[1]

Zygmunt Bauman (geboren am 19. November 1925 in Poznan/Posen, Polen; gestorben am 9. Januar 2017 in Leeds, England) hat mit seinen zahlreichen Büchern die Gesellschaft und die Individuen in der Gegenwart analysiert und mit  Stichwörtern und Metaphern die Diskurse geprägt: die Postmoderne. So unterschied er die „schwere“ Moderne von der „leichten“ Postmoderne, die sich in einem „flüssigen Aggregatszustand“ befinde. Die Gegenwart sei gekennzeichnet durch heftige Anerkennungskämpfe von Identitäten, die sich je um ihr „Lagerfeuer“ versammeln.

Die „schwere“ Moderne hat ZB in seinen Jahren bis 1971 erlebt. Als Kind im (als Ergebnis des Ersten Weltkriegs) neu gebildeten Nationalstaat Polen machten die Mitmenschen ihn zu einem doppelten Außenseiter, dass er so dick war, weil seine lebhafte Mutter so vorzüglich kochte, und sein Jude-Sein, zumal die Familie in einem Viertel wohnte, wo sie die einzigen Juden waren. Kaum beim Spielen, schon gar nicht sportlich, vergrub er sich in Bücher. Nur dank seiner geistigen Begabung schaffte er es aufs Gymnasium, das nur zwei Plätze für jüdi­sche Schüler anbot. 1939, als die Deutschen Polen überfielen, flohen die Baumans so schnell es ging in den Osten Polens in der Hoffnung, sie könnten in die Sowjetunion einreisen, was schließlich unter großen Mühen gelang. Dank der Kochkunst der Mutter wurde sie an den vielen Orten, die sie immer wieder verlassen und neue suchen mussten, schnell zu einer ge­fragten Küchenchefin, während der Vater, schweigsam und in ungeliebten Berufen, mühsam Arbeit fand. Zygmunt fand Anschluss nicht in der Schule, wohl aber erst in einer zionisti­schen Jugendgruppe, dann an den Komosol und wurde zum überzeugten Sozialisten. Freilich erlebte er den real existierenden Sozialismus in aller Schwere, auch dann als er schließlich wieder studieren, promovieren und als Professor lehren konnte. Seine Stellung in der Armee und in der Partei halfen zur Karriere, erlegt ihm aber auch Aufgaben in den Weg, die er ungern übernehmen musste. „Meine Enkel und jungen Freude fragen mich, wie konntest du nach allem, was du durchlebt hattest, und allem, was du wusstest, wieder den Sozialismus aufbauen, und das auch noch in deinem eigenen Land?“ „Ein Ereignis jagt das nächste, in schwindelerregendem Tempo, ohne Atempause, ohne Raum für Reflexion; […] unmöglich zwischen ‚was mir zustieß‘ und ‚was ich getan habe‘ zu unterscheiden.“ (168). Im Kapitel Reifung stellt ZB die Scherzfrage: Worin unterscheidet sich ein Kommunist von einem Apfel? Die Antwort lautete: Der Apfel fällt, wenn er reif ist. Der Kommunist hingegen reift, wenn er fällt. „Wie wäre mein Leben verlaufen, wie hätte sich mein Bewusstsein entwickelt, wie wäre es gereift, wenn ich nicht ‚gefallen‘ wäre – oder genauer, wenn man mich nicht zum Fallen gebracht hätte?“ (180). Das Fallen kam etwas später, wurde aber zunächst durch das Ende des Stalinismus gebremst, dann nahm es wieder Fahrt auf durch ZBs Veröffentlichungen in der Absicht einer Reform des Kommunismus bis hin zum ‚Prager Frühling‘. Einen den Men­schen zugewandten Reformkommunismus ertrugen die Parteibonzen aber nicht, der ihre Bereicherung und Privilegien offen anprangerte. Panzer in Prag; Provokationen und Fallen des Geheimdienstes in Warschau wurde immer heimtückischer (190-198), so dass ein Arbei­ten an der Universität nicht mehr möglich war, Bauman und seine Frau Jasia verließen Polen. Dass sie zunächst nach Israel auswanderten, bevor ZB an der Universität von Leeds in England eine Professur erhielt, ist nicht erzählt, wohl aber, dass auch der israelische Geheim­dienst ihn und seinen Schwiegersohn im Visier hatten, letzterer ein Anwalt, der sich gegen staatliche Gewalt und parteiliche Gerichte in Israel engagiert (197f).

Kapitel 1 und Kapitel 5 reflektieren das Jude- und Pole-Sein, nicht als Alternative, sondern je in ihrer komplexen Identifizierung, Distanzierung und persönlichen Identifizierung. Jeder habe das Recht über seine Zugehörigkeit und die Art und Weise, wie er auf diesem Planeten leben möchte, selbst bestimmen zu können. Kurz: „Ich hasse Herden“ (46) sagt der Intellek­tuelle ZB. „Ich habe mein Polentum außer Land geschmuggelt.“ (204). Kapitel 6 beschreibt das Wiederaufleben von Nationalismus und autoritäre Herrschaft im Polen der PiS Partei (vgl. Anm. 6, S. 261: „vor den Wahlen im Oktober 2023, bei der die amtierende Regierung der PiS.Partei ihre Mehrheit verlor.“ Vgl. auch Anm. 62, S. 294). Der Religion gesteht er zu, dass sich Menschen auf der Suche nach Wahrheit irren können. Das habe Papst Johannes Paul II. eröffnet und so die Polen zur Befreiung vom Kommunismus ermutigt, während die jetzige Regierung in Polen (die PIS) religionisierte Politik betreibe (240f).

Die Texte sind über einen Zeitraum von etwa 30 Jahren entstanden. Sie sind keine durch­erzählte Autobiographie, enthalten immer wieder Reflexionen, das Jüdisch-Sein ist ein durchgehendes Thema, aber auch die Utopie des Sozialismus bleibt ein Ziel. Insofern kann man die Kapitel Fragmente nennen, aber er versteht sein Leben nicht als „Fragmente meines Lebens“. Der deutsche Titel scheint mir nicht gut gewählt und trifft nicht den englischen Titel. Seine Frau Janina (Jasia) Bauman hat eine Autobiographie ihrer Jugend geschrieben: Als Mädchen im Warschauer Ghetto: ein Überlebensbericht.[2] Im Unterschied zu Zygmunt hat ihre Familie den Terror und die Morde der Shoa erlitten. Für Zygmunt brachte die Liebe und Ehe mit seiner Frau eine Erschütterung hervor über den Zusammenhang der schweren Moderne und der Shoa, die er im Buch Modernity and the Holocaust bearbeitete.[3] Er erzählt auch die Erfahrung seiner Frau nach der Befreiung von der NS-Besatzung: Als sie im öffentlichen Nahverkehr fuhr, schlug sie nicht mehr die Augen nieder, wie sie es jahrelang getan hatte, um nicht aufzufallen. Sie hörte aber einen Mitfahrenden sagen: ‚Unglaublich! Manche von ihnen sind übrig geblieben. Die deutschen Stümper haben nicht alle vergast.‘ Er sagte das laut in der Erwartung, dass keiner der Mitpassagiere protestieren würde (162).[4]

 

Bremen/Wellerscheid, September 2024                                                    Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Izabela Wagner hat eine Biographie verfasst: Bauman: A Biography. Cambridge 2020.

[2] Janina Bauman: Als Mädchen im Warschauer Ghetto: ein Überlebensbericht. Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe 1986, 1995. Englisches Original: Winter in the morning: a young girl’s life in the Warsaw ghetto and beyond 1939-1945.  London: Virago, 1986. Janina Baumann lebte 1926-2009.

[3] Zygmunt Bauman: Modernity and the Holocaust. Cambridge: Polity Press 1989, 2008. Deutsch: Dialektik der Ordnung: Die Moderne und der Holocaust. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1992, 2021. – Dazu:

Jack Dominic Palmer; Dariusz Brzeziński (Hrsg.): Revisiting Modernity and the Holocaust: heritage, dilemmas, extensions. – Abingdon, Oxon.: Routledge 2022.

[4] Zur Judenfeindlichkeit, Pogromen und Antisemitismus im Polen nach 1945 s. den Bildband Malgorzata Niezabitowska; Tomasz Tomaszewski: Die letzten Juden in Polen. Schaffhausen: Ed. Stemmle 1987.

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