Vertovec: Superdiversität

Steven Vertovec: Superdiversität: Migration und soziale Komplexität.

[Superdiversity: Migration and Social Complexity]
Aus dem Amerikanischen von Alexandra Berlina.
Suhrkamp.
364 Seiten.
€ 32.
978-3-518-58815-4.

 

Unterschiede in der Gesellschaft wachsen:
Das sei mehr eine Chance, als die Angst vor Abstieg uns weismachen will

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Vor 17 Jahren brachte Steven Vertovec das Konzept der Superdiversität auf, wie Gesellschaften immer mehr Diversität entwickeln. Ob die Diversitäten (Arm-Reich, Schwarz-Weiß, Ausländer-Eingesessene, Flüchtlinge-Wohlhabende, Diktaturen-Demokratien) so viele werden, dass sie sich gegenseitig aufheben, oder Ängste schüren, das ist in diesem Buch sozialwissenschaftlich beschrieben und begriffen, leider wenig anschaulich.

Ausführlich:

Während ich dieses Buch lese, rotten sich in England die Rechten zusammen und machen Jagd auf Muslime, nachdem ein Mann drei Mädchen am 29. Juli 2024 getötet hatte. Muslime greifen ihrerseits zu Gewalt.[1]

Der Autor des Buches Superdiversity ist ein hochgelobter Forscher und Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung multiethnischer und multireligiöser Gesellschaften.[2] Er beansprucht, den Begriff erfunden zu haben gegenüber dem einfachen Diversity-Begriff, der in der Regel nur das Kriterium der Ethnizität anwende und den er deshalb superseded – ‚ersetzte‘, ‚übertrifft‘.[3] Ein aussagekräftigerer Begriff fiel niemand ein – und so wird er auch im Deutschen einfach übernommen. SV entwickelte (50-jährig) das Konzept in einem Zeitschriftenbeitrag 2007. Nach 16 Jahren hervorragender Forschungsbedingungen erscheint nun das englische, ein Jahr später das ins Deutsche übersetzte[4] Buch, gewissermaßen zum Abschied aus dem Direktorenamt.[5] Das Fundament des Buches bildet der genannte Aufsatz Superdiversität und ihre Auswirkungen (als Kapitel 2, S. 37-75, nach einer Einleitung), der vor allem am Beispiel von London und dem Vereinigten Königreich das Konzept entwickelt: Während die älteren Analysen (sowohl die Erhebung von Daten für Statistiken als auch die Analyse der Daten) sich auf das Herkunftsland, die Nation v.a., beschränkten, die Ethnizität der Migranten erläutert SV, dass sehr unterschiedliche Menschen immigriert sind, selbst wenn sie aus dem gleichen Staat kommen. Hinzu kommen müssen also andere Kriterien wie Sprachen, Religionen, Migrationskanäle und -status, Gender, Alter, Space/Place (der Text erläutert dann: gemeint ist die Ansiedlung in einem Viertel als Diaspora oder verteilt in verschiedenen Vierteln, der Nähe zum Arbeitsplatz wegen) und Transnationalismus. Daraus ergeben sich methodische Herausforderungen für die Datenerhebung, für die Sozialwissenschaften und die Politik (Programme, Gesetze, Zugang zum Gesundheitswesen etc.).

War das Grundsatzkapitel noch relativ konkret und anschaulich, so wird im Folgenden deutlich, dass die Grundlage seiner Forschungen Statistiken sind. Die interessante Stufung der Diversität/Superdiversität als Kategorie von Städten führt zu einer Einteilung in fünf Stufen: Wie viele Migranten wohnen ein einer Stadt welcher Größe mit welcher Wirtschaftskraft in BIP (Brutto-Inlandsprodukt) und Industriebetrieben? Wie hoch/gering ist der Arbeitslosenanteil? Zu jedem dieser Stufen auf der Skala von superdiverse cities bis non-diverse cities (die englischen Begriffe bleiben unübersetzt). Für jede Stufe nennt er drei bis vier Beispiele. Aber nur die Namen. Warum Neapel non-divers geblieben ist, Chemnitz zu den low-migration cities, Amsterdam zu den superdiverse cities zählt, vor allem aber warum es dazu gekommen ist – SV betont ja immer, dass es sich um ‚emergente Prozesse‘ handelt – bleibt ohne Konkretionen und erst recht ohne Geschichte.[6]

Chemnitz war eine boom-town in der Gründerzeit. Die neu gegründeten Industrien verlangten nach Arbeitskräften weit über die Region hinaus. Wie im Ruhrgebiet die Polen, so wanderten in Chemnitz im südwestlichen Sachsen Tschechen aus der benachbarten Region und aus Polen ein, die beide erst nach dem Ersten Weltkrieg eigene Nationalstaaten bilden konnten. Wie haben die gut organisierten deutschen Arbeitergewerkschaften die Dumpinglöhne der ‚österreichisch-ungarischen‘ Konkurrenten aufgenommen? Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg war Chemnitz Teil der DDR. Arbeiter aus den ‚kommunistischen Bruderstaaten‘ kamen, vor allem aus Vietnam. Nach dem Beitritt der östlichen Bundesländer zum Grundgesetz kamen die Chefs der Behörden und der für wenig Geld erworbenen Industriegelände aus dem Westen, die Arbeiter aber, aus dem SED-Staat entlassen, entluden ihren Frust an den Migrant:innen, die AfD in Sachsen bietet ihnen ein Sprachrohr und politische Vertretung, der Fußballverein die Bühne für Aktionen. Wo wohnen die Afrikaner im superdiversen Stadtteil Sonneberg, wo die Vietnamesen, wo die diversitätsoffenen Chemnitzer im Alternativen Jugendzentrum. Solche kleinen Biographien von Städten fehlen. Nur für London bietet SV im Grundlagenkapitel so etwas.

Das Buch widmet sich der Frage: Wie wurde mein Konzept (in dem ‚ursprünglichen‘ Aufsatz) rezipiert? In der Tat sind 8200 Zitationen eines einzigen Aufsatzes sensationell (bis Juni 2022 SV 95f). Kapitel 3 unterscheidet verschiedene Bedeutungen des Begriffs bzw. Konzepts. Kapitel 4 beschreibt Diversifizierungsprozesse, darunter die Einstufung der Aufenthaltstitel für Migranten, die die Nationen jeweils vorgeben und damit Stratifizierung der Migrant:innen erzeugen. [1]

Eine Kritik, die SV 107f aufgreift, wirft ihm Naivität in Bezug auf Rassismus vor. SV geht davon aus, dass die Gesellschaften immer diverser werden, besonders in den jüngeren Generationen (153-155). Daraus zieht er einen Optimismus, dass damit auch Rassismus und Xenophobie, Othering u.a. abnehmen würden. „Zum Kontext gehört auch das, was wir als diskursive Sphäre der Diversität bezeichnen könnten: Jüngere Generationen wachsen in einem öffentlichen Raum auf, der – insbesondere durch viele verschiedene Medien und Bilder – starke Botschaften über die Werte der Diversität und der Anerkennung von Unterschieden trägt (siehe Vertovec 2012).“ (SV 155, differenzierter SV 204). Kapitel 5 thematisiert Reaktionen auf Diversifizierung (SV 163-209), Abstiegsängste, die nicht auf realem Abstieg beruhen. Die Wahrnehmungen und die öffentliche Diskussion über die Gefahren der Migration, über Verwendung von Steuergeldern stünden in keinem Verhältnis zur Realität. (Björn Höcke und die AfD: VS 187; zur Wahl von Donald Trump 190-195). – Im sechsten Kapitel geht es um Soziale Komplexität, die immer schwerer zu durchschauen ist. Das macht vor allem denjenigen Angst, die kaum Diversität in ihrer Lebenswelt begegnen und mit einer Gegenbewegung (backlash) reagieren. SV 225 nennt ihn ‚konservativ‘ und ‚defensiv‘; das gilt sicher nicht für die Politik der Rechten und den Trend zu autoritären Regierungen oder den Trumpismus, die Unterschiede wieder auf höchste Salienz[7] der öffentlichen Debatten heben. Unterschiede, die auf wirtschaftlichen Diversitäten beruhen und Macht behalten oder gewinnen wollen. SV macht deutlich, wie sich Identitäten erst herausbilden etwa am Beispiel einer Nigerianerin, die in die USA eingewandert ist, und dort lernte ‚eine Schwarze‘ zu sein (SV 231). Ähnliches gilt für Gender und Sexualität, Religion (SV 239-241), Sprache. Erstaunlich finde ich, dass die Generationenfolge der Migrant:innen so gut wie keine Rolle spielt, erst recht fehlt die Schule als die Institution, die alle jungen Menschen besuchen müssen und dort ebenso Anleitung zur Integration wie Ablehnung und Mobbing erfahren. Auf dem Gebiet gibt es umfangreiche Forschungen, die in dem Buch nicht vorkommen.

Religion spielt kaum eine Rolle. Die Einsicht ist wichtig, dass die Schublade „Weltreligion“ zu falschen Vorurteilen führt. Wie im ‚ursprünglichen‘ Aufsatz gesagt: „Londons muslimische Bevölkerung von 607 083 Menschen ist wahrscheinlich die diverseste der Welt, abgesehen von Mekka“, schrieb der Guardian 2005. (SV 53). – Eine sehr anschauliche, lesenswerte Einführung, in der auch Vertovec‘ Superdiversity vorgestellt und verarbeitet ist, haben zu dem Thema Martin Baumann und Alexander Nagel geschrieben.[8]

Nach der Lektüre der Kapitel des Buches helfen die Kategorien und Abstufungen der genaueren Unterscheidung der gesellschaftlichen Diversität, eine Sprache zu finden für die Phänomene (28). Es enttäuschen mich aber die wenig konkretisierten Aussagen (am besten noch im ‚ursprünglichen‘ Aufsatz, der sich auf London und England bezog). Welch schöne kleine Stadtbiographien von Migranten und Eingesessenen wären möglich gewesen! Stattdessen Statistiken und Forderungen nach neuen Forschungen. Die berichteten Debatten sind aus England[9] und den USA, kaum die in Deutschland und den EU-Ländern, auch wenn internationale Daten verwendet sind. Wer nach dem ‚ursprünglichen‘ Aufsatz, der konkret soziale Verhältnisse und Entwicklungen in England und London beschreibt, ähnliche Beschreibungen für andere Lebenswelten erwartete, findet die in dem Buch nicht.

 

Bremen/Wellerscheid/Merades (Kreta), August 2024                                                                                                                                      Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Messerattacke in Southport im United Kingdom am 29. Juli 2024. Es gibt bereits einen wikipedia-Artikel dazu. Vergleiche die Berichte der Tageszeitung (taz) Rechter Mob in Großbritannien: Stichwortgeber für die Schande – taz.de. Ausgeglichener der Artikel der Neuen Zürcher Zeitung Strassenschlachten in England: Rechtsradikale gegen Islamisten (nzz.ch) (alles abgerufen 13.08.2024).

[2] Das Max-Planck-Institut zur Erforschung multiethnischer und multireligiöser Gesellschaften wurde 2007 gegründet. (Es trat an die Stelle des MPI für Geschichte, das eine hervorragende Arbeit leistete mit vielen Langzeitprojekten und der Überwindung nationaler Ideologien in der Geschichtswissenschaft durch die Angliederung von französischen, polnischen, britischen Abteilungen. Es war ein wichtiger Pfeiler der Geschichtswissenschaft, der jetzt fehlt: m.E. die falsche Entscheidung). Die Daten im Wikipedia Artikel). Direktor der Abteilung zu multireligi­ösen Gesellschaften war bis 2021 Peter van der Veer Religious diversity | Max Planck Institute for the Study of Religious and Ethnic Diversity (mpg.de). Für multiethnische Gesellschaften ist Steven Vertovec der Direktor: Steven Vertovec | Max Planck Institute for the Study of Religious and Ethnic Diversity (mpg.de). Eine dritte Abteilung zu Recht und Ethik war geplant und von 2015-2020 geleitet von Dr. Ayelet Shachar (alles abgerufen 14.08.2024). „Hochgelobt“: die vielen bedeutenden Institutionen, die ihm Forschungsmöglichkeiten boten, ersieht man aus seinem Lebenslauf. Im Folgenden kürze ich seinen Namen mit den Initialen ab. SV mit einer Zahl bedeuten die Seitenzahlen im Buch.

[3] SV 31 „Die emergente Natur der von Migranten angetriebenen Diversifizierung hat die vorangegangenen Konfigurationen der Diversität in Großbritannien abgelöst – it superseded them – daher das Wort Superdiversity.“ Ähnlich wenig aussagekräftig ist New diversity.

[4] Die Übersetzerin Alexandra Berlina erläutert S 13f ihre Entscheidung, viele englische Begriffe nicht zu übersetzen. Race im Englischen hat nicht die biologisch-genetische Bedeutung wie Deutsch ‚Rasse‘. Während das Wort im Deutschen wissenschaftlich widerlegt ist (und die NS-Forschung trotz intensiver Forschung das nicht belegen konnte), behält das Wort eine unverzichtbare Bedeutung (wie im Grundgesetz: „Niemand darf wegen seiner Rasse benachteiligt werden!“, des Rassismus, des racial profiling bei der Polizei, wenn sie Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe besonders kontrolliert. Dennoch wäre für deutsche Leser eine Erklärung je am Ort wünschenswert. Was ist z.B. New Commonwealth? Was sind britische Expats? (91) Oft erläutert der nachfolgende Text implizit den englischen Begriff. Es gibt aber auch Fehler: Das Wort „hierzulande“ meint Großbritannien, nicht Deutschland. Fehler in den Grafiken S. 44-51: Nummer muss heißen Anzahl. In drei verschiedenen Grafiken sind die Tausenderzahlen dreimal verschieden abgetrennt: mit Komma, mit Punkt, mit Spatium.

[5] Das Prinzip der MPIs war, (Als Wissenschaftsorganisator erfand der Kirchengeschichtler Adolf [von] Harnack 1910 das Prinzip für die an den Universitäten noch unzureichend ausgestatteten Naturwissenschaften) beste Forschungsbedingungen und -finanzierungen für je einen hervorragenden Professor und dessen Forschungsprojekt. Nach dessen Ausscheiden kann ein anders Gebiet gewählt werden, im Erfolgsfall wird eine Findungskommission eine Nachfolge bestimmen.

[6] Im Teilkapitel zur Geschichtswissenschaft 103-107 erwähnt SV ein Buch zu Rotterdam, das den Zeitraum von 1600 an beschreibt (van der Laar; van der Schoor 2019). Nur im Literaturverzeichnis genannt, aber nicht im Text beschrieben ist das Handbuch von Dirk Hoerder Worlds in Contact, das 2003 eine globale Migrationsgeschichte versucht von 1100 bis 2000. Grundlage waren seine historisch genauen Untersuchungen von Stadtvierteln in dem Einwandererland Kanada: Wer wohnte neben wem? SV begrüßt die Fragestellung; für Superdiversität komme aber nur die Generation seit etwa den 1970er Jahren als Forschungsobjekt in Frage: also keine Geschichte!

[7] Aufmerksamkeitsstufe, ‚Stellenwert‘. Ein Begriff der Sozialpsychologie.

[8] Dazu meine Rezension: Religion der Migrant:innen als Brücke und als Zaun: ein Lehrbuch: Martin Baumann; Alexander-Kenneth Nagel: Religion und Migration 2023. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2024/03/10/religion-und-migration/(10.3.2024). – Die wichtigen Forschungen von Nagel kennt SV (laut Literaturverzeichnis) nicht, obwohl dieser an der Göttinger Universität forscht und lehrt, keine 500 m vom MPI entfernt.

[9] Schottland, Wales und Nordirland kommen nicht vor. Welche Veränderungen hat der Brexit geschaffen und haben sich die (erlogenen) Erwartungen gezeigt? (VS 181f, 198, 228) Warum kommt es zu den Eingangs erwähnten Ausschreitungen, kurz nachdem Labour wieder regiert?

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