Thomas Hobbes: De cive / Vom Bürger. Lateinisch/Deutsch.
Hrsg. unter Mitarbeit von Isabella Zühlke
von Andree Hahmann und Dieter Hüning.
Übersetzt von Andree Hahmann.
Ditzingen: Reclams Universal Bibliothek 18601. 2017
803 Seiten
ISNB 978-3-15-018601-5
Kart. 19,80 €
»Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf«:
Thomas Hobbes‘ Klassiker der politischen Wissenschaft vom „Bürger“ 1642
Eine Rezension von Christoph Auffarth
Kurz: In einer vorzüglichen zweisprachigen Ausgabe macht der Reclam-Verlag den Klassiker der politischen Wissenschaft zugänglich, in dem Hobbes im englischen Bürgerkrieg Grundlagen legt, die über den Einzelfall Gültigkeit beanspruchen. Um den unbezähmbaren ‚Wolf‘ in die Schranken zu weisen, bedarf es eines starken Staates.
Ausführlich: Thomas Hobbes ist berühmt durch sein Werk Leviathan (1651), in dem er die Notwendigkeit eines starken Staates begründet, um den natürlichen Zustand in Schach zu halten. Denn dieser ist ein Krieg aller gegen alle oder mit dem berühmten Zitat Homo homini lupus: Gegenüber anderen Menschen ist der Mensch ein Wolf! Nur ein Vertrag unter den Menschen verhindert das gegenseitig Zerfleischen, Streitsucht: der Gesellschaftsvertrag. Dieser muss allerdings vermittelt werden nicht nur durch Staatsgewalt, sondern auch, auf der Ebene der Einzelnen, durch Religion. Doch schon neun Jahre vor diesem Klassiker der Politikwissenschaft sah sich Hobbes aufgerufen, ein Buch zu veröffentlichen, eben das Über den Bürger De cive 1642. Hobbes hatte sich schon einen Namen gemacht, als er, noch einmal 14 Jahre zuvor, eine Übersetzung des Thukydides vollendet hatte, bis heute gerühmt. Der griechische Historiker Thukydides hat in seinem Werk über die Niederlage der Athener im Peloponnesischen Krieg schon herausgearbeitet, dass Macht korrumpiert, nach immer mehr verlangt, im Krieg immer zuerst die Lüge siegt. Insofern waren antiker Autor und der englische Übersetzer kongenial. Jetzt war Hobbes 56 Jahre alt und auf der Flucht im französischen Exil. Grund war die Angst vor Festnahme und ein lebensgefährliches Gerichtsverfahren. Denn in England hatte sich der König Karl I. (regierte 1624-1649) gegen die Bürger ins Unrecht gesetzt, weil er autokratisch gegen deren Rechte verstieß. Das Parlament sah sich als Versammlung der Bürger, die vom König gefragt werden müssten. Der Bürgerkrieg und die Hinrichtung des Königs 1649 setzten die Herrschaft des Parlamentes durch. Scheinbar in Stein gemeißelte und angeblich von Gott in der Bibel bestätigte Prinzipien galten nicht mehr. Eine grundlegende Wissenschaft der Politik erwies sich als nötig, statt einer Legitimation der gerade Herrschenden. Hobbes hatte schon das Ganze im Kopf, musste nun aber den dritten Teil zuerst schreiben und anonym veröffentlichen:[1] De cive. Der Bürger. Später den ersten Teil über den Körper,[2] dann im zweiten Teil über den politischen Körper,[3] was dann den Titel Leviathan bekam, den Namen des biblischen Ungeheuers,[4] der gleich auf Englisch erschien.[5]
Abbildung des Titelblatts (Dank der Houghton Library, Harvard University gemeinfrei: *EC65 H6525 642e) vom Kupferstecher Jean Matheus. Das Blatt zeigt die drei Teile des Werkes: Libertas, der Naturzustand ist durch einen ‚Wilden‘ dargestellt; Imperium, die Herrschaft, trägt Schwert und Waage der Justiz. Im oberen Register Religio mit Christus als Richter über Gute (von ihm aus gesehen die [Ge-]Rechten) und Böse, die der Engel des Paradieses mit seinem Flammenschwert vom Himmelreich weg in die Hölle verweist. …
Im Widmungsschreiben steht der berühmte Satz vom Wolf, allerdings adversativ zum Gegenteil: „In der Tat ist beides richtig: Homo homini deus & Homo homini lupus. Ersteres (der Mensch ist dem Menschen Gott), wenn wir die Mitbürger untereinander vergleichen, das zweite, wenn wir die Staaten vergleichen. Im ersten Fall nähert man sich mit Gerechtigkeit und Hochschätzung den Tugenden[6] des Friedens, der Ähnlichkeit mit Gott. Im zweiten Fall müssen selbst die Guten, wenn sie sich schützen wollen, wegen der Verkommenheit der Bösen Zuflucht nehmen bei der Tugend des Krieges, der Gewalt und der List, d.h. bei der Raubsucht eines wilden Tiere.“ (7 f).
In seiner Wissenschaft von der Politik[7] versteht Hobbes gegen Aristoteles‘ Behauptung, der Mensch sei [von Natur aus] ein Lebewesen, das die Polis-Gemeinschaft braucht (ein ζῷον πολιτικόν zoon politikón), den Staat als menschengemacht und somit jede Herrschaft als begründungsbedürftig. Ist in der Natur der „erste Beweger“, also Gott und die von ihm eingerichteten Naturgesetze,[8] so bewegten den Bürger die staatlichen Gesetze. Nahm hier Hobbes die skeptische und auf den Gottesbeweis verzichtende Ideen von Epikur (vermittelt über Lukrez) auf? (793-95).[9] Letztlich aber beruft sich Hobbes nicht auf ältere Autoritäten, sondern auf seine Vernunft und nachvollziehbare Argumente.
Der Text ist gegliedert in die drei Teile (1) Libertas Freiheit wo Hobbes über den natürlichen Schöpfungszustand reflektiert, der nur Eigennutz kennt. (Kapitel 1-4, S. 44-185). (2) Imperium Herrschaft. Die Entstehung, Herrschaft des einen Königs oder Gemeindeversammlung, die drei Typen der Verfassung Monarchie-Aristokratie-Demokratie, dann das Recht der Eltern gegenüber ihren Kindern, Gründe für die Selbstzerstörung von Staaten. Die Notwendigkeit eines starken Staates (Kapitel 5-14, S. 186-501). (3) Religion mit den Epochen der Herrschaft Gottes, erst über die Natur, dann den alten Bund,[10] den neuen Bund und endet mit der Frage, was notwendig sei, um ins Himmelreich einzutreten (Kapitel 15-18, S. 502-743).
Auf die 738 Seiten lateinischen Text mit auf der gegenüber liegenden Seite der neuen Übersetzung folgen die Anmerkungen, teils der Nachweis der Zitate aus den antiken Staats-Theoretikern, den Verweisen auf Hobbes‘ eigene Werke, Hinweise auf wichtige Untersuchungen. Das ausführliche Literaturverzeichnis (die Aufteilung der Forschungsliteratur stört) und das Nachwort (781-800) zeigen den Herausgeber und Übersetzer auf der Höhe der gegenwärtigen Diskussion. Der lateinische Text ist übernommen aus der führenden kritischen Edition, ed. Howard Warrender. Oxford: OUP 1983.
Der Reclam-Verlag hat wieder Mut bewiesen, einen wichtigen Klassiker zweisprachig mit einem gut edierten lateinischen Text und einer modernen Übersetzung, knapp kommentiert und präzise eingeleitet durch Andree Hahmann herauszubringen, neben und durchaus verschieden zum auf Englisch konzipierten berühmteren Leviathan.
23 Februar 2018
Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen
E-Mail: auffarth@uni-bremen.de
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[1] Deshalb lautet der Titel auch Elementorum Philosophiae Sectio Tertia De Cive „von den Grundlagen der Philosophie die dritte Abteilung: Der Bürger“.
[2] De Corpore Der Körper erscheint 1655. De homine Der Mensch erscheint 1658.
[3] Im Titelbild des Leviathan besteht der Körper des Herrschers mit Szepter und Schwert aus lauter Bürgern. Dazu Horst Bredekamp: Thomas Hobbes, der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder 1651 – 2001. [1999] Neuausgabe Berlin: Akademie 22003; 42012.
[4] Leviathan kommt (als Seeungeheuer parallel zum Land-Untier Behemot) bei Hiob vor: 40,25 – 41,26. Der Psalm 104, 26 macht sich lustig über die Gefahr, die von Lewiathan ausgehe: Gott habe ihn geschaffen, um damit zu spielen. Jesaja 27,1 prophezeit, dass Gott ihm das Haupt zerschmettern werde. Dazu Otmar Keel: Jahwes Entgegnung an Ijob : eine Deutung von Ijob 38 – 41 vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Bildkunst. (FRLANT 121) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1978.
[5] Die Tatsache, dass Hobbes seine Schrift Der Bürger zwar als Antwort auf den Bürgerkrieg versteht, sie aber auf Latein verfasst, veranlasst den Herausgeber 787, Anm. 11 das in Frage zu stellen.
[6] Virtus (sg. femininum) und virtutes (Plural) mit „Tugend(en)“ zu übersetzen ist oft richtig, wenn es sich um gute Eigenschaften handelt (im Gegensatz zu vitum/vitiia Fehler, engl vice). Hier aber, wo sie mit negativen Eigenschaften im Vergleich stehen, müsste man mit „Fähigkeiten“, „Kompetenzen“ wiedergeben.
[7] Hobbes beansprucht als erster Wissenschaft scientia und nicht nur Philosophie der Politik zu treiben, zumal gegen Aristoteles gerichtet (wichtig 789 f mit Anm. 15 und 16).
[8] Damit ist weniger Aristoteles gemeint als vielmehr die Scholastik (Thomas von Aquin).
[9] Diese These hat Andree Hahmann ausführlich begründet in Aristoteles gegen Epikur. Eine Untersuchung über die Prinzipien der hellenistischen Philosophie ausgehend vom Phänomen der Bewegung. (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 125) Berlin: De Gruyter 2017.
[10] Pactum vetus übersetzt AH mit „nach dem alten Vertrag“, gemeint ist das Alte Testament oder besser hebr. berit bzw. διαθήκη mit Luther „Bund“, das in der Tat Vertragscharakter hat, also beide Seiten, auch Gott verpflichtet.