Religionsphilosophie und Religionskritik

Religionsphilosophie und Religionskritik.
Ein Handbuch.

Herausgegeben von Michael Kühnlein.

(Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft STW 2140)
Berlin: Suhrkamp 2018. 946 Seiten.
ISBN 978-3-518-29740-7

 

Die Debatte für und Wider die Religion in Europa,
in wichtigen Werken vorgestellt.

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Das Handbuch stellt wichtige Werke der Debatte um das Für und Wider von Religion (nur) in Europa vor, hat aber eine Tendenz einseitig das Positive zu betonen. Die Säkularisie­rung wird als Fehlinterpretation prinzipiell verworfen. Es gehe um  die transzendenz-offene ‚Wende‘ (‚Wende‘ ist meine Formulierung).

Ausführlich: Das Handbuch stellt 80 Werke vor, indem die Bearbeiter (1) Kontexte, (2) das Werk, (3) Rezeption und Kritik beschreiben, am Ende (4) eine Zusammenfassung und je die Literaturangaben [leider meist nicht zur Original­ausgabe] zu einer deutschen Ausgabe. Eine – oft nicht sehr hilfreiche – Zuordnung zu einer Schulrichtung charakterisiert den Verfasser in einem Satz. Die (2) Werkbeschreibung haben die 52 beteiligten Autoren für das jeweilige Werk mit aller Sorgfalt gemacht mit ausführlichen Zitaten und einer Zusam­men­fassung der Argumentationslinie. Die (1) Kontexte sind öfter nicht wirk­lich in den damaligen histori­schen Kontext eingebettet, sondern ziehen Linien in geistesge­schichtlichen Bezügen auf andere Werke. Historische Veränderungen sind aber für eine neue Perspektive oft wichtiger als die Antwort auf ein anderes Buch. Als Beispiel nehme ich den Beitrag des Herausgebers zu Charles Taylor, den katholischen Philosophen, mit seinem 2007 erschiene­nen Werk Ein säkulares Zeitalter (931-943; das letzte der vorgestellten Werke und ein Lieb­lings­werk des Herausgebers).[1] Als ‚Kontexte‘ beschreibt MK den internen Denkweg des Philosophen, der erst im Alter sich dem Problem der Säkularisierungsthese (Max Webers) zuwandte. Dabei müsste hier doch beschrieben werden, dass Taylor in Kanada ganz andere Erfahrungen machte, die den europäischen Diagnosen vom Verschwinden der Religion völlig wider­sprechen. Und dass er als Berater der Regierung für die Frage, wie man in Kanada, dem für die Integration von Immigranten vorbildlichen Staat, das symbolische Kapital von Religions­gemeinschaften einsetzen kann als wichtigste Ressource für Teilhabe. In Europa dagegen wird Religion vielfach als Spaltpilz verstanden, die der Integration schade: man müsse sie neutralisieren. Also bringt er seine katholische Perspektive ein, die er den anderen Glaubens­formen entgegenstellt: den Glauben an die Aufklärung, die Wissen­schaft. Unter deren Eindruck habe sich die Religion in der Moderne selbst aufgehoben, selbst säkularisiert. Nur Spiritualität kann sie retten. Eine normative Gegenerzählung (943), die MK auch schon ein „Meister-Narrativ“ nennt (934).

In der Beschreibung sind auch immer wieder Kritik an bestimmten Konzeptionen ange­sprochen. Bei Taylor etwa seine Kritik einerseits am Theismus (Gott als Person), andrerseits an säkularen Weltentwürfen. Die genannten Kritiken charakterisiert MK (940) schräg: Die moderne biete einen „nie zur Gänze eingeholten Glaubensanspruch: wahlweise durch den Glauben an den Menschen selbst (Feuerbach), durch den Glauben an die proletarische Weltrevolution (Marx). Durch den Glauben an die Intellektualisierbarkeit von Kultur (Freud) oder durch den unbeirrbaren Glauben an das nachmetaphysische Denken (Habermas)“.[2] Dazu müsste auch ein Wort die Titelwahl erklären. Denn religionsbejahende Werke bilden bei weitem die Überzahl. Und unter den Bearbeitern ist eine deutliche Mehrzahl katholischer Autoren.[3] Von den vier Werken der Antike       ist keines der für die moderne Religionskritik maßgeblichen und wirkungsmächtigen Werke aufgenommen. Kein Lucretius De rerum natura, kein Epikur, kein Xenophanes oder Demokrit, kein Kelsos (und kein Origenes).[4] So könnte man für das Mittelalter[5] und die Moderne weiterfahren. Eigentlich sind keine Überraschungen dabei.[6] Es fehlt eine Einleitung (die zwei-einviertel Seiten werden dem nicht gerecht). Die differenzierte Themenstellung der DVRW-Tagung in Bayreuth 2005 wäre hilfreich: Ulrich Berner hat hier der fundamentalen Religionskritik von außen, extrem im Atheismus, die religionsinterne Kritik zur Seite gestellt, die, selbst religiös, eine Reform der Religion (bestimmter Formen) einfordert.[7]                

Für Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens 1912 (Andreas Pettenkofer 458-467 kennt auch die französische Forschung; Moebius fehlt)[8] ist unter Kontexten die Schulreform und die Suche nach einer säkularen Moral für den laizistischen französi­schen Staat genannt. Nicht aber, dass die Trennung von Staat und Kirche 1905 Gesetz wurde, nachdem seit 1894 die doch noch katholisch dominierte öffent­liche Meinung gegen den jüdischen angeblichen Landesverräter Dreyfus falsche Zeugnisse für bare Münze nahm.[9] Das zentrale Argument, dass die Trennung von Sakral/Profan (also der französische Laizismus) ein universales Prinzip sei, das man an der ältesten  bekannten Kultur, den Aborigines in Australien (schräg: „australischer Wüstenbewohner“ 459), schon sehe, spielt AP herunter zugunsten der ‚neuen Moralsoziologen‘. AP stellt zwar richtig heraus, dass D sich auf einen religionskritischen Text bezieht, lässt aber der – schlecht begründeten – Uminterpretation breiten Raum. Hier wird D’s Funktionalismus von Religion zurechtgebogen zu einem Religionsbejaher. – Für Rudolf Otto, Das Heilige 1917 (Jean-Pierre Wils, 468-478) fehlt unter den Kontexten der Erste Welt­krieg mit dem Zusammenbruch aller bisheri­gen Werte, u.a. des Kulturprotestantismus, und ist die Rezep­ti­on und die Gründe für den Para­digmenwechsel völlig unzureichend dargestellt.[10]                  . 

Für Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz 1987 fehlt sowohl die Originalausgabe 1984, der Hinweis auf die Kritische Gesamtausgabe und dass der Mythos, den HJ S. 15-19 erzählt, bereits 1963 veröffentlicht wurde (Zwischen Nichts und Ewigkeit. Göttingen, S. 55-57), damit in einen anderen Kontext gehört, nämlich der Debatte um den Nihilismus im Nachkriegsdeutschland, als dessen Höhepunkt man im Nationalsozialismus sah – der im Gegenteil religionsproduktiv wirkte.

So könnte ich weitere Artikel vorstellen aus meinen Notizen; doch es mögen die Beispiele genügen. Das Handbuch nehme ich zur Hand, um gediegene Werkinterpretationen zu lesen, um sie mit meinen eigenen Lektüreerfahrungen zu vergleichen, mit der Vorsicht, der Grund­tendenz des Handbuchs nicht folgen zu müssen: „Die säkulare Gegenwart hat an Verbind­lichkeit verloren“ (11). Wissenschaftsgeschichtlich sind die Kontexte un­zureichend darge­stellt. Unter ‚Wirkung‘ finde ich viele gute Hinweise, aber auch wieder oft in eine Richtung gedrängt.

 Bremen/Much, April 2019

Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Gerade erscheint in der Reihe Klassiker auslegen 59 eine Aufsatzsammlung, hrsg. von MK zu diesem Werk. Berlin; Boston: De Gruyter 2019. VIII, 245 Seiten. Schon auf S. 11 bezieht sich MK auf Taylor. Schon seine Dissertation galt Taylor: Religion als Quelle des Selbst. Zur Vernunft- und Freiheitskritik von Charles Taylor. (Re­ligion in Philosophy and Theology 33)Tübingen: Mohr Siebeck 2008. – Michael Kühnlein ist Lehrbeauftragter an der Goethe-Universität in Frankfurt und habilitiert sich gerade.

[2] Feuerbach verwies als Prinzip nicht auf den Menschen, sondern die Menschheit. Marx‘ Weltrevolu­tion ist Teil einer Geschichtsphilosophie der Rückkehr zur guten Schöpfung und dem Urkommu­nis­mus der frühen Christen. Was Freud auszeichne, meint vielleicht die ‚Sublimierung‘, aber ist das die Intellektualisierbarkeit von Kultur? Dass Habermas unbeirrbar geglaubt habe an das nachmetaphysi­sche Denken trifft den Denkweg von Habermas denkbar schlecht. Vielmehr kam er durch Beobach­tung der sog. ‚Rückkehr der Religion‘ induktiv zu seinem Paradigmenwechsel.

[3] Kardinal Karl Lehmann hat den Band mit gesponsert. Mit der Bemerkung einer Affinität zum Katholizismus soll nicht ausgesagt sein, dass bewusste Glaubenssätze die Bewertung färben.

[4] Wie wichtig als Alternative zu Augustinus für die Frühe Neuzeit Origenes Adamantinus wurde, zeigen die Bände der Reihe Adamantina, hrsg. von Alfons Fürst.

[5] Dorothea Weltecke: „Der Narr spricht: Es ist kein Gott“. Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit. Frankfurt am Main: Campus 2010.

[6] Vielleicht Carl Schmitt, Politische Theologie 1922 im Gespräch mit u.a. Erikson „am rechten Rand eines häretischen Katholizismus“. Ich kenne rechtere Formen offiziellen Katholizismus.

[7] Ulrich Berner: Einführung: Religionswissenschaft und Religionskritik, in: Zeitschrift für Religions­wissenschaft 14/2 (2006), 107–110. Ulrich Berner; Ilinca Tanaseanu-Döbler (Hrsg.): Religion und Kritik in der Antike. (Religionen in der pluralen Welt. Religionswissenschaftliche Studien 7) Berlin: LIT 2009. Ulrich Berner, Johannes Quack (Hrsg.): Religion und Kritik in der Moderne. (Religionen in der pluralen Welt. Religionswissenschaftliche Studien 9) Berlin: LIT 2012. Christoph Auffarth: Theologie als Religi­onskritik in der Europäischen Religionsgeschichte. in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 15 (2007), 5-27. [= Themenheft Theologie als Religionskritik. (Hrsg. von Christoph Auffarth) Einführung S. 1-4].

[8] Siehe meine Rezension „Der große französische Religionswissenschaftler Marcel Mauss auf Deutsch neu entdeckt“. Marcel Mauss:  Schriften zur Religionssoziologie. Hrsg. und eingeleitet von Stephan Moebius; Frithjof Nungesser und Christian Papilloud. Übers. von Eva Moldenhauer. (Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft 2032) Berlin: Suhrkamp 2012 http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/ (5.12.2012).  

[9] Beiläufig dann doch 465 erwähnt. Zu Dreyfus „Ein Offizier wird verurteilt wegen Landesverrat, weil er Jude ist: der Fall Dreyfus, Frankreich 1894-1906“. George R. Whyte: Die Dreyfus-Affäre 2010. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2011/03/01/die-dreyfus-affare-von-george-r-whyte/ (1.3.2011).

[10] Siehe Christoph Auffarth: Sind heilige Stätten transportabel? Axis Mundi und soziales Gedächtnis. In: Axel Michaels; Fritz Stolz (Hgg.): Noch eine Chance für die Religionsphänomenologie? (Jahrbuch Studia Helvetica Religiosa 5, 2000/2001) Bern 2001, 235-257.

 

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