Jan Heilmann: Lesen in Antike und frühem Christentum.
Kulturgeschichtliche, philologische sowie kognitionswissenschaftliche Perspektiven
und deren Bedeutung für die neutestamentliche Exegese.
(Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter 66)
Tübingen: Narr Francke Attempto, [2021].
707 Seiten.
ISBN 978-3-7720-8729-5.
120 €.
[Habil Bochum 2019/2020]
„Verstehst Du auch, was du liest?“
Vom Lesen und Verstehen in der Antike,
besonders im Neuen Testament.
Eine Rezension von Christoph Auffarth
Kurz: Ein Meilenstein für das Verständnis – nicht nur der Bibel, aber für deren Texte ganz besonders -, wie in der Antike Texte medial aufgenommen und durch Lesen dekodiert wurden. Die These vom lauten Vorlesen und den der Schrift unkundigen Hörern ist geplatzt.
Ausführlich: Diese Bochumer Habilitationsschrift ist nicht nur vom Umfang her, sondern in ihrer Sorgfalt und umfassenden Kenntnis der dafür zu berücksichtigenden Texte, in der klaren Argumentationslinie ein grundlegendes Werk. Obwohl nur dem Thema Lesen gewidmet, trifft sie ins Zentrum wichtiger Aspekte antiken Literatur: Wie wurde sie rezipiert? Als Handbuchwissen gilt: Texte wurden erst seit der Spätantike auch leise gelesen, davor in der Regel laut vorgelesen. Jan Heilmann[1] stellt die Texte vor, die für diese Behauptung herangezogen werden, interpretiert sie und stellt andere Quellen dagegen, die das individuell-direkte leise Lesen belegen.
Das Verhältnis von Sprechen und Schreiben und wieder Sprechen ist ein Vorgang, der bis heute eine zentrale Kulturtechnik darstellt: Gesprochenes wird von jemand gehört und, wenn sie oder er das gelernt hat, in eine visuelle unhörbare Grafik umgewandelt (kodiert), um dann an anderer Stelle, für ein anderes Gegenüber wieder in Gesprochenes dekodiert zu werden. Wie das geschieht, dafür gibt es experimentelle Studien, etwa, wie weit das Auge vorausgreift, wenn es den Text wieder in Sprache dekodiert.[2]
Im digitalen Zeitalter ist nur scheinbar der mittlere Teil, die Umwandlung in einen geschriebenen Text, überflüssig geworden ist. Wenn ich in meinem Handy die weibliche Stimme „Siri“ um eine Information frage und sie eine Internetseite mit der Antwort präsentiert, die ich mir auch vorlesen lassen kann. Meine gesprochene Frage wird erst maschinell – für mich unsichtbar –in eine Computerschrift übertragen, die die Frage kodiert, so dass sie eine kodierte Antwort finden und präsentieren kann.
JH untersucht zunächst die griechischen (lateinischen und hebräischen) Wörter und Metaphern für die Kulturtechnik. In anderen Kulturen, die wie im Hebräischen keine Vokale geschrieben haben, müssen die Leser*innen diese aus dem Zusammenhang erraten. Die Schrift, die die Griechen nach einem ersten Mal als eine Art Keilschrift gelernt hatten, aber nur wenige zu schreiben und zu lesen wussten, ein zweites Mal aus dem Orient als Alphabetschrift adaptierten, ist für viel mehr Menschen erlernbar, demokratischer, hat aber mit den (um die) 24 Buchstaben nicht für jeden Laut einen geeigneten Buchstaben. Das griechische Wort für Lesen ist vor allem anagignosko ἀναγιγνώσκω, was so viel wie ‚wieder-erkennen‘ bedeutet. Dabei geht es nicht, wie beim ersten Leselernen, um das Erkennen einzelner Buchstaben, sondern für geübtere Leser*innen um Wörter und, indem das Auge schon vorausschaut, um das Erkennen halber Sätze. Die bisherigen Vertreter der These vom lauten Vorlesen meinten, die Schrift sei nur die Hilfsbrücke zwischen Gesprochenem und Gesprochenem. Dazu kommt, dass die meisten antiken Texte in scriptio continua geschrieben sind: ohne Zwischenräume zwischen den Wörtern, ohne Satzzeichen. Daraus entstand die These, dass solche Texte nur verstanden werden können, wenn man sie laut liest und im Lesevorgang Worteinheiten isolieren kann. Die Leseforschung hat aber gezeigt, dass es für das Dekodieren des geschriebenen Textes keine Stimme braucht, auch nicht ein Murmeln, eine Bewegung der Lippen, sondern das stimmlos erfolgen kann.[3] Dazu gibt es weitere Zeichen, die den Text gliedern, wie Überschriften, Kolumnen, die nicht zu breit sein sollten, Paragraphen, Akzente, Anzeige des Sprecherwechsels, etc. Hier wären noch andere Hilfsmittel einzubeziehen wie den Finger, der die Zeile und das Wort im Satz mitverfolgt – neben den Augen. Wichtig ist dann das entsprechende Wort für die Rezeptionsweise[4] akoúo ἀκούω. In der Regel wird das Wort im Deutschen mit „hören“ übersetzt, das Aufnehmen eines Lautes und Wortes über die Ohren. Die Verwendung zeigt aber, dass das Wort auch andere Formen der Wahrnehmung bedeuten kann, etwas ‚wahrnehmen, verstehen‘.[5] Es ist kein Beleg dafür, dass Texte in der Antike laut vorgelesen wurden. So prüft JH nach allen Regeln der philologischen Kunst die Bedeutungen der Wörter.[6]
Besonders mühsam zu entziffern sind die griechischen Steininschriften. Meist sind sie nämlich stoichedón geschrieben, also Buchstabe unter Buchstabe, schön in Reih und Glied; die Zeile endet, wo eben die Zeile hundert oder soviel Buchstaben voll hat, oft mitten im Wort. Sie ergeben ein schönes Schriftbild, dafür sind sie schwerer zu lesen. Ich vergleiche das Hörverständnis einer Fremdsprache: Man hört einen gesprochenen Satz und muss sich die Wörter wieder abtrennen.
Diese Untersuchung zu der Lexik und Metonymie/Metaphorik begrenzt JH nicht auf das relativ kleine Corpus des Wortschatzes im NT, sondern breit in der antiken Literatur unter Berücksichtigung der Forschungsliteratur.[7] Nur kurz ist schließlich angesprochen die Erreichbarkeit von Büchern in Form von Rollen oder in Codices (271-289).[8]
Der zweite Teil (311-539) wendet nun die im ersten Teil erarbeiteten Grundlagen an auf spezifische Corpora. Zunächst auf die Hebräische Bibel, auf das Werk Philons und auf die Rollen aus Qumran (313-380). Das meist verwendete Wort kara‘ קרא bedeutet zwar ‚rufen‘, wird aber auch verwendet, wenn jemand leise liest. Ein besonderes Augenmerk gilt dem Kapitel, in dem es um das Vorlesen eines Abschnitts aus der Tora in der Synagoge geht (364-375).[9] Das Handbuchwissen leitet die Lesung im christlichen Gottesdienst direkt aus der Lesung in der Synagoge ab und bewertet das als ein revolutionäres Element gegenüber dem sonst üblichen Kultus im Tempel. JHs Skepsis bezieht sich darauf, dass die regelhafte Lesung in der Synagoge erst aus rabbinischen Quellen belegt ist. Die Theodotos-Inschrift, die das schon für die Zeit des (noch stehenden Zweiten) Tempels belegt, ist vielleicht später zu datieren (was JH 367 Anm. 239 aber selbst nicht teilt). In dieser Inschrift ist zweierlei in der Synagoge vorgesehen: Das Vorlesen des Gesetzes und die Lehre der Gebote. Auch Josephus bezeugt das Vorlesen der Tora am Sabbat, aber ist damit auch ein Gottesdienst gemeint? Ebenfalls skeptisch sieht JH die neutestamentliche Stelle Jesus in der Synagoge von Nazareth (Lukas 4,16-21; JH 399-406). Wenn das keine kultische Lesung, also ein Vortrag des Textes aus der Tora-Rolle mit anschließender Auslegung sein soll,[10] wie anders kann man die Situation verstehen? Die angespielte Möglichkeit, dass es sich um eine Katechese (also sagen wir Konfirmandenunterricht) handelt, trifft nicht, was da passiert. Es folgt keine Erklärung des Textes, den Jesus gerade aus dem Propheten Jesaja vorgelesen hat (ein Zimmermann[11] kann lesen!), sondern ein Bekenntnis vor der versammelten Gemeinde: Hier und heute ist die Prophezeiung des Jesaja [61,1-2] erfüllt.“
Die Behandlung von Stellen im Neuen Testament zeigt nun die ganze Meisterschaft JHs. Die Paradestelle ist, wie der äthiopische Hofbeamte in der gerade gekauften Rolle Jesaja 53 liest, aber (wie oben in der Überschrift zitiert) nicht versteht, was das bedeuten soll (Apostelgeschichte 8,28-35; JH 407-411). Ganz beeindruckend ist die Erschließung der (bisher nicht beachteten) Textkritik über die Rezeptionsgeschichte für das Verständnis der Seligpreisung in Apokalypse 1,3 (464-482 in der Angleichung an die ähnliche Seligpreisung in Lukas 11,28). Oder die Frage nach dem Schluss des Markusevangeliums und der hinzugefügten Erweiterung 457-464. Als Ergebnis der Studie ist festzuhalten, (511-533) und das hat Konsequenzen für die Entstehung des Kanons: „Das Christentum war von früher Zeit an eine Buch- und Lesereligion“. Aber dieses Lesen war nicht nur das Vorlesen eines Textes im Gottesdienst, sondern es gab eine Vielfalt, wie und was gelesen wurde. Das bedeutet auch, dass es kein Lese- und „Deutungsmonopol von Theologie und Kirche gab“ (539).
Auf 150 Seiten bietet der Anhang eine Liste mit Belegen für nicht-vokalisierendes [lautes] Lesen, die üblichen griechischen Verben zu den Materialien, dem Vorgang des Lesens. Abkürzungen, die Quellen und Hilfsmittel und das Literaturverzeichnis. Die Register q1umfassen das Stellenverzeichnis, antike Autoren, ein wertvolles Sachregister und wichtige lateinische und griechische Lexeme. Das Buch ist ordentlich gebunden (nicht fadengeheftet).
Für einen ausgebildeten Gräzisten und Religionshistoriker mit Schwerpunkt auf der Antike war das ein reines Lesevergnügen, wenn man die ganzen Begriffe der Philologie und das harte Geschäft der Textkritik selbst kennt und verwendet. JH kennt nicht nur die Wissenschaftssprache, sondern findet auch überzeugende Beispiele, wofür man diese Kompetenz erwerben muss, will man in der Wissenschaft auf dem höchsten Niveau arbeiten. Für Klassische Philologen wird die Forschung leichter zu lesen sein als für Studierende der Theologie im neutestamentlichen Seminar. Dennoch ist es aller Mühe wert, dieses Buch durchzuarbeiten, das sowohl ein grundlegendes Thema von ‚Literatur‘ umfassend behandelt als auch zeigt, wie man methodisch zu gültigen Ergebnissen kommt.
Bremen/Wellerscheid, Oktober 2022 Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen
E-Mail: auffarth@uni-bremen.de
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[1] Jan Heilmann ist seit Sommersemester 2021 Professor für Neues Testament an der evangelisch-theologischen Fakultät an der Ludwig-Maximilians-Universität in München (*1984). Er studierte Theologie, Geschichte und Germanistik, war 2010-2013 Assistent von Peter Wick an der Uni Bochum und 2013-2019 an der TU Dresden bei Matthias Klinghardt. Seine Homepage Jan Heilmann – Neues Testament 1 – LMU München (uni-muenchen.de) (30.10. 2022). Die Arbeit wurde ausgezeichnet mit dem Hanns-Lilje-Preis der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen und dem Dr. Klaus Marquardt Preis der Gesellschaft der Freunde der Ruhr-Universität Bochum. Im Folgenden kürze ich seinen Namen ab mit den Initialen JH.
[2] Sakkaden – Fixierung – Regression: Die empirischen Studien zeigen ein schnelles Voranschreiten des Auges im Text, dann bleibt es bei einem Wort stehen und geht wieder ein paar Buchstaben zurück, um das zu verstehen, und eilt dann weiter.
[3] Ob da der Begriff der inner voice richtig gewählt ist (225), müsste noch untersucht werden. Es gibt die Vermutung, dass, wenn man beim Geldabheben die PIN wissen muss und man sie sich selbst ohne Lippenbewegung in Erinnerung ruft, dass KI sie ‚ablesen‘ kann.
[4] Umfassend hat das „Wahrnehmen“ beschrieben und für eine Religionsästhetik aufbereitet Hubert Mohr: Wahrnehmung/Sinnessystem. Metzler Lexikon Religion 3(2000), 620-633.
[5] Im Neugriechischen kann man auf die Vermutung, es muss irgendwo gebrannt haben, als Antwort bekommen, ich habe den Brandgeruch auch ‚gehört‘ im Sinne von ‚gerochen‘, ‚wahrgenommen‘.
[6] Für das Lateinische gibt es ein Lexikon, das alle lateinischen Wörter der Antike sorgfältig auf unterschiedliche Bedeutungen hin untersucht und entsprechend die Stichwörter gliedert. Der Thesaurus Linguae Latinae TLL hat seit 1899 sich bis zum Buchstaben „R“ vorgearbeitet. Für das Griechische, das ungleich mehr Wörter umfasst, kann das Wörterbuch Liddel-Scott-Jones (91940 + Supplement 1968; in Kürze auch auf Deutsch das neue von Franco Montanari (für März 2023 angekündigt bei de Gruyter: 140 000 Einträge auf etwa 2 500 Seiten) eine Bedeutungsunterscheidung anbieten, aber bei weitem nicht alle Belege auflisten. Das digitale Hilfsmittel des Thesaurus Linguae Graecae ist vollständig, auch weitestgehend für die Papyri, aber ist eben nicht durchgearbeitet in den Bedeutungsvarianten. Das muss man dann selbst ausarbeiten und JH hat das für die von ihm untersuchte Lexik getan.
[7] Der Forschungsbericht setzt sich insbesondere mit den viel rezipierten Thesen von P.H. Saenger auseinander. Mehrfach bezieht sich JH auf eine Vorarbeit in der Gestalt der Habilitationsschrift (unpubliziert Tübingen 1996) des Latinisten Helmut Krasser.
[8] Martin Wallraff: Kodex und Kanon. Das Buch im frühen Christentum. Berlin: De Gruyter 2013.
[9] Ich verweise darauf, dass Angelika Neuwirth für den Koran (dem dasselbe Verb zugrunde liegt) zu einem gegenteiligen Ergebnis kommt: aus den im Gottesdienst eingeübten Lesungen und Gesängen entsteht in Neudeutungen das neue heilige Buch. Dazu etwa meine Rezension https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/03/21/neuwirth-spaetmittelmekkanische-suren/ (21.3.2022).
[10] „Es gibt keine Anhaltspunkte, das Lesen eines Zitats aus dem Buch Jesaja in Lukas 4,16-20 als eine ‚gottesdienstliche‘ Lesung zu charakterisieren.“ (406). Zur ‚Sakralität‘ der Synagoge im Unterschied zum ‚Kult‘ im Tempel wäre eine eigene Erörterung zu führen. JH stellt sich distanziert zu kultischer Vortrag/ Performanz. – Da JH eine Spätdatierung des Lukas vertritt, ist die Stelle kein Beleg für das erste Jahrhundert. Zur Spätdatierung s. Markus Vinzent: Offener Anfang. Die Entstehung des Christentums im 2. Jahrhundert. Freiburg im Breisgau: Herder 2019. Rez CA in ThLZ 145(2020), 951-952.
[11] Zur Bedeutungsbreite von τέκτων (deutsch ist daraus gebildet Archi-tekt) s. Hans-Peter Mathys: Jesus τέκτων. Theologische Zeitschrift [Basel] 78(2022), Heft 2.