Der Papst, der schwieg

David I. Kertzer: Der Papst, der schwieg.
Die geheime Geschichte von Pius XII., Mussolini und Hitler

Aus dem Englischen von Tobias Gabel und Martin Richter.
Darmstadt: wbg Theiss 2023.
704 Seiten, ISBN  978-3-8062-4502-8
39 Euro. E-Book: 31,99 Euro

 

Das Schweigen des Papstes zu den Kriegsverbrechen:
Neue Dokumente zu Pius xii (1939–1945).

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Die Darstellung gibt ganz die Sicht des Vatikans wieder mit neuen Begründungen, warum der Papst als hoch geachtete moralische Instanz und bestens informiert die Kriegsverbrechen der Wehrmacht und die Genozide nicht anprangerte.

Ausführlich: Das Pontifikat Pius‘ XII. fand statt in einer Zeit, in der Unvorstellbares geschah:  der totale Krieg, der nicht mehr die nur ausgerüsteten Soldaten betraf, sondern gegen die Zivilbevölkerung geführt wurde als Bombenkrieg, als Vernichtungskrieg und als Völker­mord gegen die Juden, Sinti und Roma, gegen Slawen und als Krieg gegen Homosexuelle, ‚Asoziale‘, Behinderte, ganz vorne auch gegen Kommunisten. Wer konnte sich das überhaupt denken. Aber der Papst wurde sehr gut und von vertrauenswürdigen Klerikern informiert, an denen kein Zweifel bestand. Warum gab er diese Informationen nicht weiter an die Weltöffentlichkeit oder zumindest an die Alliierten? Eine Ausnahmesituation, für die nach der Katastrophe die Alliierten ein Gericht einrichteten, das die unvorstellbaren Kriegsverbrechen juristisch vor Gericht beurteilen sollte, für die des kein Gesetz gab,[1] weil es bis dahin nicht denkbar war. Der Papst als hohe moralische Autorität blieb stumm.

Wie soll man dann das Schweigen eines Papstes beurteilen, der zweifellos eine sehr anerkannte moralische Größe darstellt? Sein Vorgänger Pius xi. hatte – noch vor dem Weltkrieg – scharfe Worte gefunden gegen den NS, schon früher in Polen,[2] dann, als Kardinal Innitzer beim ‚Anschluss‘ Österreichs den NS jubelnd mit Glockengeläut begrüßte, und schließlich mit der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ kurz vor seinem Tod.

Zu Papst Pius xi., dessen Staatssekretär (also die oberste Exekutive der Entscheidungen des Papstes) Eugenio Pacelli war, und der nach dessen Tod zum Papst gewählt wurde, hat David Kertzer eine Monographie geschrieben. Sie erregte Aufsehen, weil deutlich wurde, dass entgegen der kritischen Aussagen des Papstes Pius xi. zum italienischen Faschismus es geheime Kanäle gab, über die die faschistische Regierung mit dem Vatikan verhandelte und Informationen vermittelte. Während die Faschisten nach dem Marsch auf Rom die Kleriker einschüchterten und quälten, kam es überraschender Weise zu einem Abkommen zwischen der Regierung und dem Vatikan in den Lateranverträgen 1929, die auch die frommen Katholiken zur Unterstützung der Faschisten brachte, indem der Kirche ihre alten Privilegien eingeräumt wurden. Kertzers früheres Buch trägt den Titel The Pope and Mussolini : The Secret History of Pius XI and the Rise of Fascism in Europe (2014).[3]

Als der Vatikan 2020 die Archive öffnete für das Pontifikat Pius xii. durften erfahrene Teams von Historikern, darunter das von Hubert Wolf und das von David Kertzer die gewaltigen Aktenberge öffnen und erforschen. Als eine der ersten Gesamtdarstellungen der Jahre 1939 bis 1945 erscheint jetzt Kertzers The pope at war.[4] Und es gibt tatsächlich neue Erkenntnisse, die das Verhalten des Papstes, sein Schweigen zu den Verbrechen der Nationalsozialisten hinter der Front des Krieges in einem etwas anderen Licht erscheinen lassen, aber nicht besser erklären. Bisher forderte man, der Papst hätte die Ermordung der Juden publik machen müssen (und so vielleicht die Alliierten zur Zerstörung von Auschwitz bringen können). Aber warum sollte das Oberhaupt der Katholiken sich für eine Religion einsetzten, die er selbst für falsch, die Juden für Drahtzieher des die Religion zerstörenden Kapitalismus hielt? Die eigentliche Gegenmacht waren für den Vatikan die protestantischen kapitalisti­schen Staaten Großbritannien und die USA, gleich nach dem Kommunismus in der Sowjet­union. Bezüglich der Juden verlangte der Papst, dass die zum Christentum Konvertierten von den Rasseverfolgungen ausgenommen werden müssten. – Die faschistische Regierung in Italien erließ nach Hitlers Staatsbesuch im Frühjahr 1938 ebenfalls Rassegesetze (wie die Nürnberger Gesetze 1935), berief sich dabei aber auf Gesetze „wie sie verschiedene Konzilien der Kirche erlassen hatten“ (126), und setzte sie weniger scharf durch. Aber ganz unver­ständlich ist das Schweigen des Papstes zum Überfall von Hitlers Armee auf Polen im September 1939 (109-115). Der Papst drängte Polen zwar zu Zugeständnissen im letzten Moment, aber der Hitler-Stalin-Pakt kurz davor (23. August 1939), eröffnete den Plan zur Herrschaft über Europa.[5] Der Zweite Weltkrieg war geplant. Warum machte der Papst nicht die Kriegsverbrechen öffentlich, die Ermordung von hunderten von Zivilisten als Rache, wenn ein deutscher Offizier erschossen wurde, die Verhaftung von katholischen Priestern, Enteignung von Seminaren, Schulen, Zerstörung von religiösen Denkmälern: den Angriff auf die nationale katholische Kirche Polens?

Was jetzt zum Vorschein kommt in den neu geöffneten Akten, ist eine der großen Über­raschungen. Es gab streng geheim gehaltene indirekte Verhandlungen zwischen Hitler und dem Papst. Es lag in Beider Interesse, das Verhältnis zwischen NS-Regierung und der katholischen Kirche zu verbessern. Der Papst bekam ständig Berichte über Übergriffe der NS auf katholische Einrichtungen, Prozesse gegen Priester wegen „Sittlichkeitsverbrechen“, wegen Devisenvergehen, Beschlagnahme von Klöstern usw. Er kritisierte das nicht öffentlich, denn sein Ziel war ein verbessertes Konkordat unter Einschluss von Österreich.[6] Hitler seinerseits war es daran gelegen, die Zustimmung der katholischen Bevölkerung zu gewinnen, angesichts des geplanten Krieges. Allerdings gab es in der NS-Elite starke Kräfte, die einen Kampf gegen die Kirchen führten.[7] Hitler konnte über seinen Boten Prinz Philipp von Hessen geheime (auch vor der übrigen Elite des NS geheime) Kontakte pflegen. Denn der Prinz aus dem Hochadel war mit einer Tochter des italienischen Königs verheiratet und lebte immer eine Zeit des Jahres in Italien und im Königspalast in Rom. (88-98).

Kertzer kolportiert S. 27: „In den letzten Monaten hatte der [alte] Papst [Pius xi.] immer deutlichere Worte gefunden für das Vorgehen der Nazis gegen die katholische Kirche in Deutschland und den Versuch, eine heidnische Blut-und-Boden-Religion mit Hitler als neuem Gott zu schaffen.“[8] Das ist eine grobe Fehlinterpretation der Enzyklika. Dort geht es nicht um den Nationalsozialismus oder die NS-Weltanschauung im Ganzen, sondern eine Version, die Alfred Rosenberg und Heinrich Himmler verbreiteten. Von ‚Hitler als Gott‘ ist nirgends auch nur eine Spur zu erkennen.[9]

Was hat Kertzer zu sagen zur Weihnachtsansprache des Papstes 1942, die der katholischen rechtfertigenden Geschichtsschreibung als – endlich – die klare Aussage der katholischen Kirche gegen Rassismus und Kriegsverbrechen gilt?[10] Wie immer der Tradition verhaftet und ‚neutral’ gegenüber allen Mächten, also zweideutig von beiden Seiten deutbar, aber mit einer Schlagseite zu den Nazis und Faschismus, weist der Papst erst auf Seite 24 (seiner Ansprache, also nach seiner üblichen ‚barocken‘ Rhetorik, [Kertzer 308]) darauf hin: „-„… Hunderttausende, die persönlich schuldlos, bisweilen nur um ihrer Nationalität oder Abstammung willen dem Tod geweiht sind, …“ Kein konkretes Wort zu “National­sozialisten“, Konzentrationslagern, Genozid, Juden, ganz zu schweigen von anderen Mitgliedern der „Menschheit“, die der Papst doch ständig als hohes zu schützendes Gut im Munde führt.

Der zugunsten des Papstes immer wieder behauptete Einsatz für Juden wird deutlich reduziert (413-428): Der Vatikan setzte sich für Getaufte ein, den Abtransport der Juden aus dem Ghetto in Rom ließ er ohne Protest geschehen, obwohl er wusste, dass sie in den sicheren Tod fuhren. In Klöstern wurden viele Juden versteckt aber ebenso viele abgewiesen. Der Papst hatte die Klöster nicht zur Rettung aufgefordert (436f).[11]

Fazit: Das Buch bietet nach der Öffnung der Vatikanischen Archive wichtige neue Erkennt­nisse zum Schweigen des Papstes. Das Buch reproduziert die Ansichten des Vatikans, es bietet keine historische Analyse. Pius xii. hoffte als guter Kenner Deutschlands, wo er in München und Berlin 12 Jahre gelebt hatte, auf ein gutes Verhältnis mit dem Nationalsozialis­mus und unterließ – obwohl gut informiert – den notwendigen Protest über die Massaker in Polen zu Beginn und aller kommenden Kriegsverbrechen der NS im Zweiten Weltkrieges. Stattdessen gefiel er sich in einer Nichts sagenden Rhetorik und wohlverpackten Informationen, die beide Seite als Zustimmung ihrer Handlungen verstehen konnten. Der Papst erwartete lange den unaufhaltsamen Sieg der Deutschen und hoffte auf ein gutes Verhältnis, zwischen dem von Gott eingesetzten Staat (Römer 13) und Gottes Institution auf Erden. Das alles ist detailreich und interessant erzählt. Die italienisch-päpstliche Perspektive ist sehr wertvoll und bringt detaillierte neue Informationen. Insofern ist das Buch eine Fundgrube präzise nachgewiesener Zitate aus den Quellen. Wenige Informationen sind neu für den Nationalsozialismus in Deutschland. Und leider verstärkt er die falsche Vorstellung von der antireligiösen Weltanschauung des NS.

 

Bremen/Wellerscheid, Juli 2023                                                                Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Die Gegner des Kriegsverbrechertribunals in Nürnberg nannten das Siegerjustiz. Sie beriefen sich auf den römischen Grundsatz nulla poena sine lege: Strafen können nur verhängt werden, wenn es (bereits vorher) ein formuliertes Gesetz mit definierten Sanktionen gab. Das Tribunal beruhte aber (1) auf der Extrapolation von Gesetzen für normale Verbrechen und (2) sehr sorgfältiger Beweisaufnahme aus den vorhandenen Akten (von denen die Nazis viele vernichtet hatten im Bewusstsein ihrer Verbrechen) oder nur mündlicher Befehle wie den für die Vernichtungskation an den Europäischen Juden.

[2] Als nach dem Ersten Weltkrieg Polen als Nationalstaat neu gegründet wurde, entzog er dem deutschen Episkopat die Aufsicht über weite Teile, auch mehrheitlich von Deutschen besiedelte Gebiete (Schlesien)

[3] Im Deutschen wählte man den Titel (den Rolf Hochhut in seinem Theaterstück schon geprägt hatte) Der erste Stellvertreter. Papst Pius XI. und der geheime Pakt mit dem Faschismus, Übersetzung Martin Richter. Darmstadt: wbg Theiss 2016. David I Kertzer (* 1948) ist Professor emeritus für Sozialwissen­schaft, Anthropologie und italienische Studien an der Brown University in Providence, Rhode Island.

[4] The pope at war: the secret history of Pius XII, Mussolini, and Hitler. New York: Random House 2022.

Das Pontifikat Pius’ xii. dauerte vom 2. März 1939 bis zu seinem Tod am 9. Oktober 1958.

[5] Dass die Aufteilung Polens in einen westlichen Teil, den die Deutschen erobern konnten und einen östlichen Teil, den die Sowjetunion sich aneignen konnte, in einem Zusatzvertrag vereinbart wurde, konnte die Welt nicht wissen; er war geheim abgeschlossen. – Kertzer macht das nicht klar.

[6] Das alte Konkordat in Österreich machte die katholische Kirche zu einer Macht in der Republik, an der vorbei keine Regierung möglich war. Mit dem Einmarsch der NS in Österreich 1938 wurde dieses Konkordat gekündigt. Oft wird diese – notwendige – Kündigung bewertet als Maßnahme des NS, wie er nach dem Sieg verfahren würde mit den Kirchen insgesamt. Dazu meine Rez. ) https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2018/03/02/religion-im-kriegszustand/ (2.3.2018).

[7] Kertzer 92. Am Beispiel des Gesetzes über die Deutsche Schule habe ich die Fraktionen beschrieben. Parteiungen im Totalitarismus: Christenheiten und Ideologien im „Dritten Reich“. In: Ansgar Jödicke; Carsten Lehmann; Christian Meyer (Hrsg.): Religion, Partei, Parteiung – Komparative Perspektiven auf dem Weg zu einem Grundbegriff religionswissenschaftlicher Forschung. [=Themenheft der] Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik (Hg. von Gert Pickel und Annette Schnabel) 2022, #. https://link.springer.com/article/10.1007/s41682-022-00106-3 . [Open access 9. März 2022].

[8] Kertzer 27 zu Hitlers Staatsbesuch in Rom, 2.Mai 1938. Die Meinung des (Vorgänger-) Papstes bezieht sich auf die Enzyklika „Mit brennender Sorge“, verlesen in allen deutschen katholischen Kirchen am 21. März 1937. – Obwohl aus Kertzers Darstellung hervorgeht, dass vor allem Hitler die Akzeptanz durch die katholische Bevölkerung für notwendig hielt, wiederholt er seine falsche These von der „antireligiösen Doktrin des Nationalsozialisten“ (so etwa 231 und öfter).

[9] So im ganzen Buch Kertzers, obwohl die Details nicht zu dieser generellen Aussage passen. Zur Enzyklika Auffarth (wie Anm. 6), Abschnitt 5. Handbuchbeitrag zur Religionsgeschichte des Dritten Reiches Auffarth, Drittes Reich. In: 20. Jahrhundert. Hrsg. von Lucian Hölscher, Volkhard Krech. (Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, Band 6/1) Paderborn: Schöningh 2015, 113-134; 435-449; Farbtafel I nach S. 320; Literaturverzeichnis 542-553. Dazu die vielen bahnbrechenden Arbeiten von Manfred Gailus, zusammengefasst in Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reich. Freiburg: Herder 2021 mit meiner Rezension  https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/01/03/glaeubige-zeiten-religiositaet-im-dritten-reich/ (3.1.2022).

[10] Im Epilog beschreibt Kertzer, dessen Vater im Zweiten Weltkrieg Feldrabbiner der amerikanischen Armee war, wie sogleich nach der Niederlage der Achsenmächte Italiens, Deutschlands und Japans, die Geschichte umgeschrieben wurde, insbesondere im katholischen Milieu. Dazu besser Mark Edward Ruff: Katholische Kirche und Nationalsozialismus. Erinnerungspolitik und historische Kontroversen in der Bundesrepublik 1945 – 1980. Paderborn: Brill Schöningh 2022 (engl. Cambridge: UP 2017 ).

[11] John Cornwell: Pius XII. – Der Papst, der geschwiegen hat. [London; New York: Viking 1999] München: Beck 1999 beschrieb in seiner Biographie, wie Eugenio Pacelli in einem antisemitischen Milieu aufwuchs und sein späteres Handeln so motiviert gewesen sei. Darauf antwortete Michael F- Feldkamp (s. die wikipedia-Seite) mit Pius XII. und Deutschland. 2000 in der Absicht, Pacelli als Judenfreund und -retter zu erweisen. Das kann man nach Kertzers Dokumenten nicht bestätigen.

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