Herzog: Eugenische Phantasmen

Dagmar Herzog: Eugenische Phantasmen. Eine deutsche Geschichte.

Suhrkamp Verlag, 1. Auflage 2024.
(Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2021)
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Bischoff. Mit zahlreichen Abbildungen.
390 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag. € 36.
ISBN 978-3-518-58814-7.

 

Geschichte der Behinderten:
Verachtung, Mord, Bemäntelung, dann aber Wege zur Inklusion.
Ein elend langes 20. Jahrhundert.

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Ein eindrücklicher, sehr behutsamer Bericht über die Herabsetzung von Behinderten von 1890 an, der Zwischenkriegs- und NS-Zeit, und wie erst eine ganze Generation später die Euthanasie und Sterilisation genau erforscht wurde und gegen viele Widerstände wenige Vorkämpfer eine neue Biopolitik anstießen: die Auflösung der Massenanstalten und die Inklusion der Behinderten als vollwertige Menschen.

Ausführlich:

Ein aufwühlendes Buch über Behinderte und ihre Verachtung und Wertschätzung vor, während und nach dem „Dritten Reich“, das den Nationalsozialismus in den historischen Kontext stellt: Die Morde im NS waren vorbereitet und hatten eine lange Nachgeschichte, keine Ausnahme! Ausnahme nur in der Hinsicht in ihrer Umsetzung in die Praxis, die Euthanasie, staatlich verordneter und willentlich vollstreckter Massenmord und massen­weise Zwangssterilisation.[1] Das war Staatsziel des Nationalsozialismus: die Ausmerzung schlechter Gene aus dem Volkskörper, der vermeintlich eugenischen Rasse. Obwohl die eigentlichen Ursachen bekannt waren, vor allem Armut, Mangelernährung, mangelnde medizinische Versorgung, wurde seit den 1890er Jahren fast nur noch über die Vererbung innerhalb der Familie diskutiert: veröffentlichte Meinung. „Rassenhygiene“ und Biopolitik waren zwar auch inter­national ein Thema (48-51), wie man durch Gesetze die Rasse rein halten könnte, aber Dagmar Herzog[2] erzählt „eine deutsche Geschichte“.[3]

Behinderte stellen seit dem Wendepunkt des Ersten Weltkriegs ein offen diskutiertes Thema dar: Sollte man Behinderte, auch angesichts der ökonomischen Katastrophe der Folgen des Weltkriegs, nicht besser töten? Veröffentlicht wurde die Behauptung der Unheilbarkeit (Kapitel 1, S. 27-59) etwa 20 Jahre nach dem Boom an Neugründungen von Anstalten für die Behinderten in den 1870er Jahren, durchwegs konfessionelle Einrichtungen, die aus christlicher Nächstenliebe die Fürsorge für die Behinderten sich zum Ziel setzten, unterstützt vom Staat mit einer kleinen Summe. Die Anstalten trugen sich durch Spenden und die Arbeit der Behinderten im Haus, Garten, Landwirtschaft, Pflege weitgehend selbst, dazu die unbezahlte Arbeit der Diakonissen oder katholisch der Ordensmitglieder. Dennoch rechneten die Gegner hohe volkswirtschaftlichen Kosten vor – fiktive Hochrechnungen.

Das Vorbild aus der Bibel ist eine Szene aus dem Johannesevangelium (Joh 9,1-3; bei DH in einer Anmerkung 293, Anm. 1 und S. 222 erwähnt): Als Jesus einen Behinderten trifft (seit seiner Geburt blind), wird er gefragt: „Wer hat gesündigt? Dieser Mensch oder seine Eltern“ Das heißt, als Ursache für die Behinderung wird eine Strafe Gottes angenommen für eine ‚Sünde‘, die auch vererbt sein könnte. Jesu Antwort ist entwaffnend gegenüber dieser Unterstellung: Keiner hat gesündigt. Er ist blind, damit die Werke Gottes an ihm offenbar werden. „Unsere Pflicht ist es, die Werke dessen zu erarbeiten, der mich geschickt hat. (ἡμᾶς δεῖ ἐργάζεσθαι τὰ ἔργα)“ Und heilte ihn. (Den Satz „Unsere Pflicht …“ erwähnt DH nicht). – In der von Friedrich von Bodelschwingh kreativ aufgebauten und immer erweiterten Stadt für Behinderte, dem Vorort von Bielefeld bekamen alle Häuser biblische Namen einschließlich der Stadt selber: Bethel nach Bet-El „Haus Gottes“.

Der Erste Weltkrieg bedeutete eine Wende. Wie viele andere Bücher nach dem Krieg, die die bisherigen Konsense radikal aufkündigten und ‚entlarvten‘, forderte das Buch von Binding und Hoche Die Freigabe der Tötung lebensunwerten Lebens 1920. Das schmale Buch bediente die alten (schon widerlegten) Argumente, auf die der Diktator Hitler ein Gesetz aufbauen konn­te (Kapitel 2, S. 61-97). So unverhohlen die Tötung von Behinderten zu fordern, rief nicht etwa einen Sturm der Entrüstung hervor. Die protestantischen Theologen (also die Betreiber der Anstalten) sahen sich gezwungen, das malthusianische Gesetz der Biopolitik aufzugrei­fen.[4] Mehrheit­lich kamen sie zu dem Kompromiss, dass Christen nicht töten dürfen, aber Sterilisation das Mittel sei, die Eugenik zu fördern[5] (was dann später in der NS-Zeit massen­weise umgesetzt wurde, während die Tötungen versucht wurden zu verheimlichen).[6] DH nennt das Theo-Biopolitik. Nur wenige widersetzten sich dem mainstream, DH hebt aber hervor, dass Katholiken klar widersprachen und ‚der Natur‘ ihren Lauf ließen bzw., dass Gott der Herr über Leben und Tod sei (85f, 125). – Die Einzelheiten der Mordaktion werden gar nicht ausführlich dargestellt, weil, so DH, die genauen Vorgänge erst in den 1980er Jahren erforscht und ans Licht der Öffentlichkeit kamen, lange verheimlicht und sogar gerechtfertigt wurden, Thema des dritten Kapitels: Wie erkennt man ein Verbrechen? (99-134). Statt die Euthanasie als Mord mit Tätern zur Anklage zu bringen, (wie etwa der Ober­staatsanwalt Fritz Bauer die Beweise für einen Prozess vorbereitete, der dann aber nicht verhandelt werden konnte, weil die Organisatoren der Euthanasie sich selbst getötet hatten, geflüchtet oder verhandlungs­unfähig waren: DH 108-110. Bauer wies nach, dass die Täter weit mehr Menschen um­brachten, als auch nach damaligen Kriterien „lebensunwert“ bewertet wurden) wurde die Meinung veröffentlicht, man müsse Mitleid mit den Tätern haben. Das Entschädigungs­gesetz von 1956 gestand allen Opfern des Nationalsozialismus eine staatliche Entschädigung zu, die aufgrund ihres Widerstandes gegen den NS, aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung Nachteile erlitten hatten. Galt das auch für Behinderte? Fast alle Gutachter – viele davon hatten in der NS-Zeit Menschen für die Sterilisation ausgesucht – sprachen sich dagegen aus, das habe mit Rasse nichts zu tun. Erst die Habilitationsschrift von Gisela Bock von 1984 erbrachte den Nachweis, dass der ‚anthropologische‘ (gegen Juden und Sinti u.a.) mit dem ‚hygienischen‘ (gegen Behinderte, ‚Asoziale‘ u.a.) Rassismus verbunden waren. Nur die unermüdliche Arbeit für die Behinderten des Psychiaters Klaus Döring und das detektivische Lebenswerk von Ernst Klee (1942-2013) brachten die Verbrechen und ihre verheimlichte Gegenwart ans Licht.[7] Ganz spannend ist dann das Kapitel 4, wie man die NS-Ideologie gegenüber den Behinderten aus dem Köpfen bekam und die Inklusion zum Ziel wurde (135-186). Behinderte wurden seit den 1890er Jahre abgesondert in Anstalten fürsorglich behandelt; in den heruntergekom­menen Häusern herrschten Disziplin, Strafen, schlechte Ernährung. Zwei Professoren für Behindertenpädagogik suchten neue Wege, die Behinderten nicht als Objekt, sondern als „Du“ zu begegnen, das eigene Wünsche hat (Martin Bubers Ich-Du-Beziehung und Karl Marx‘ Ziel, die Entfremdung der Menschen aufzulösen, standen dafür Pate: DH 150-160). Wolfgang Jantzen und Georg Feuser (beide Jahrgang 1941, Professoren an der ‚roten‘ Universität Bremen) betraten neue Wege, mit dem Ziel, die Absonderung und die Massen-Anstalt zu ersetzen durch Wohngruppen in Familiengröße („um einen Tisch“) möglichst in der Stadt. Das bedeutete Inklusion in den Schulen, kleine Häuser in Wohnvierteln, oder völlige Umgestaltung der großen Einrichtun­gen. Der Weg dorthin war steinig, aber veränderte grundlegend die Lebenssituation von der Betreuung zur unterstützten Selbständigkeit. Vorbild war Italien, wo das 1978 gesetzlich umgestellt wurde, dank der Initiative von Franco Basaglio. Die problematische Rolle des „Lebenshilfe“-Vereins wird deutlich. – Das fünfte Kapitel untersucht, wie die Wirklichkeit der Behinderten in der DDR war mit ihrem Versprechen eines sozialistischen Humanismus. Da die Gleichberechtigung von Frauen und Männern bedeutete, dass beide arbeiten mussten, war die Kinderbetreuung von klein auf die Regel. Behinderte Kinder mit erhöhter Fürsorge sollten, ja mussten in Heime eingewiesen werden, die sich in schlechtestem Zustand befanden. DH berichtet aber von drei Prozessen in der DDR, die Behinderte als Menschen sahen und ihre Situation verbesserten: Noch bevor Ernst Klees Euthanasie-Buch die Morde dokumentierte, schrieben zwei Professoren der DDR „Die Verantwortung der sozialistischen Gesellschaft für ihre geistig sehr schwer behinderten Mitglieder“ 1981, in dem sie geschickt die Verbrechen der NS-Zeit, Praxis-Vorschläge und DDR-Ideologie verbanden. Zu einem Fotoband zu Behinderten schrieb der anerkannte Schriftsteller Franz Fühmann einen eindrucksvollen Essay, wie berührt (auch im wörtlichen Sinne) er von den Behinderten war, denen er eine Zeitlang immer wieder begegnete. Eine dritte Geschichte ist die Reformierung des Katharinenhofs (im entlegenen Dreiländereck Polen/ Tschechien/ Sachsen) durch das Kinderärzte-Paar Uta und Jürgen Trogisch. Statt der Abgeschlossenheit der Anstalt besuchten die beiden und ihre Mitarbeiter (es gab in der DDR keine staatliche Ausbildung für Heilerziehungspfleger) mit Behinderten benachbarte Dörfer, Feste, ermög­lichten Urlaubsreisen, teils mit den Eltern. Für die Stasi war die Einrichtung ein Dorn im Auge, weil sie dissidente Jugendliche anzog. Was der Staat nicht wollte, konnten diese drei Eigeninitiativen erreichen: das Thema öffentlich machen und praktische Verbesserungen anstoßen. Die Entinstitutionalisierung und Inklusion, wie sie im zweiten Teil des vierten Kapitels beschrieben ist, war dann der Weg, den die ganze BRD beschritt, nachdem die neuen Bundesländer dem Grundgesetz beigetreten waren.

Was ich vermisse, ist ein Wort zu zwei Entwicklungen: Die neuen Verhütungsmethoden ermöglichen sicheren Sex, statt in den Anstalten zu überwachen, dass es nicht dazu kommt. Das andere ist die regelhafte, fast aufgezwungene Untersuchung des Fruchtwassers bei Schwangeren, die schon pränatal (statt postnatal) Behinderungen vermeidet. Grundlegend aber ist die Entlarvung des Mythos der Vererbung: Behinderungen entstehen meist durch Chromosomen-Anomalien, durch Probleme bei der Geburt oder in der frühen Kindheit.

Die umfangreiche Debatte zu dem Thema ist sowohl in den zeitgenössischen Stimmen, von der Fachzeitschrift, den juristischen und medizinischen Maßnahmen bis zur populistischen Veröffentlichung, als auch in den aktuellen Forschungen aus den Akten mustergültig aufgearbeitet, in Deutsch und Englisch, und ist in den sehr wertvollen Anmerkungen (S. 257-386, also rund ein Drittel des Buches) ausführlich und detailliert dokumentiert. Dort sind auch die genauen Zahlen und die Forschungsliteratur angegeben.

Dagmar Herzog hat ein großartiges Buch geschrieben, hervorragend informiert sowohl zu den Epochen des späten Kaiserreichs, den Debatten der Zwischenkriegszeit, den Verbrechen der NS-Zeit, dem Schutz der Täter und deren Entlarvung weitgehend erst in den Achtziger Jahren, den Prozessen der Auflösung der Massenversorgung und Absonderung der Behinderten und ihrer Inklusion. Das alles beschreibt sie mit Sympathie, aber auch sorgsam abwägend, wie es zu der Wende in der Biopolitik kam. Das Vorwort macht noch einmal eindringlich darauf aufmerksam, dass es der gleiche Rassismus war, der die Juden zu vernichten plante als auch die Behinderten und dass es oft die gleichen Personen waren, die beide Morde planten, organisierten, realisierten. Das Nachwort reflektiert, was die erzählte Geschichte methodisch bedeutet, wenn neue Erfahrungen die Erinnerungen verändern.[8] Das Buch ist Pflichtlektüre in die Abgründe, die nicht plötzlich von den Nationalsozialisten erzwungen wurden, sondern die Geschichte eines Jahrhunderts und mehr, das die Behinderten entwürdigte, verachtete, und schließlich zur Tötung aussonderte. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, im Grundgesetz vor 75 Jahren an der Spitze aller Menschen­rechte formuliert, konnte die Geltung für alles menschliche Leben erst dank einzelner Aktivisten und Wahrheitsforscher und dann politischer Entscheider erlangen. Das menschliche Leben ist unvollkommen. Wie dies bestritten, dann aber in inklusive Lebensrealitäten umgesetzt wurde, beschriebt dieses hervorragende Buch. Das sollte jede und jeder lesen.

 

Bremen/Wellerscheid, August 2024                                                                     Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Ermordet wurden unter hohem finanziellem und personalem Aufwand fast 300 000 Menschen, davon 210 000 im Reich, 80 000 im besetzten Osteuropa.

[2] Dagmar Herzog, *1961, ist Professorin für Geschichte am Graduate Center der City University of New York. Der Wikipedia-Artikel enthält auch den Link zu ihrer Homepage sowie ihre weiteren Bücher einschließlich der deutschen Übersetzungen. Ihren Namen kürze ich im Folgenden ab mit den Initialen DH.

[3] „In keinem anderen Land entwickelte diese Idee [sc. die Tötung von Behinderten] eine solche Zugkraft wie in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg.“ (295, Anm. 8). – Die NS-Gesetze oder geheimen Verordnungen für die „Euthanasie“-Aktion konnten US-amerikanische Vorbilder übernehmen. DH macht auf die Inkonsequenz aufmerksam: Die Alliierten annullierten die Nürnberger Gesetze, obwohl sie ziemlich genau das Jim-Crow Gesetz zur Rassentrennung in den USA übernahmen, ließen das Sterilisierungs-Gesetz von 1933 aber bestehen, weil es entsprechende Gesetze in den Teilstaaten der USA gab, insbesondere in Vermont. Zu der entsprechenden Debatte über den vermeintlichen Untergang der weißen Rasse s. Charles King: Gods of the Upper air. New York: Doubleday 2019 (dt. Schule der Rebellen. Wie ein Kreis verwegener Anthropologen Race, Sex und Gender erfand. München: Hanser 2020. DH meldet bei der internationalen Eugenik Forschungsbedarf an und nennt einige Studien 252 + 371f Anm. 19. – 324 Anm. 52 verweist sie auf das Buch von Omer Bartov, dazu meine Rezension: Der Völkermord an den Juden – konkret mit Menschen in einer Stadt in der Provinz. Omer Bartov: Anatomie eines Genozids. Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz. Berlin: Jüdischer Verlag (im Suhrkamp Verlag) 2021. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/10/13/anatomie-eines-genozids/(13.10.2021).

[4] Das Argument behauptete – ohne das statistisch belegen zu können –, dass von Jahr zu Jahr mehr Behinderte geboren würden. Der Engländer Thomas Malthus hatte das Gesetz in seinem Essay on the Principle of Population 1798 aufgestellt, dass die Bevölkerung exponentiell ansteige, während die Ernährung nur arithmetisch zunehmen könne, und so eines Tages die Lebensmittel nicht mehr ausreichten. Das Gesetz wurde soziologisch so ausgelegt, gerade die ärmeren Familien immer mehr Kinder zeugten, so dass sie die Aristokratie bzw. Elite verdrängten, das Volk also keine Führer mehr hervorbringe.

[5] In Treysa 1931, DH S. 77 und 304-306 Anm. 38-40.  Eine Minderheitenmeinung plädierte dafür, dass Christen nicht töten dürfen, der Staat aber schon.

[6] Die Predigt des Münsteraner Bischofs von Galen gilt als der Wendepunkt (DH 23). Einen sehr genauen Nachweis, dass die Sterblichkeitsrate in den Anstalten sprunghaft in die Höhe schnellte, erstellte der Pastor Paul-Gerhard Braune (DH in einer Anm. 305) und übersandte die ‚Denkschrift‘ an Hitler. In Württemberg protestierten Eltern, unterstützt von Landesbischof Theophil Wurm, gegen die Todesnachrichten ihrer behinderten Kinder, die alle aus der Tötungsanstalt Grafeneck und meist mit der gleichen Todesursache mitgeteilt wurden. Die These, dass die Euthanasie der Probelauf für die Durchführbarkeit von Massenmorden war, der dann an Jüdinnen und Juden vollzogen wurde, hat sich erhärtet. Die Euthanasie wurde in den einzelnen Anstalten weitergeführt, man schätzt (DH 89), dass nach dem offiziellen Ende von „T4“ noch einmal doppelt so viele Behinderte ermordet wurden. Trotzdem darf man auch den ausgeübten Zwang nicht vergessen: Welche Anstaltsdirektoren sich weigerten, an der Aktion teilzunehmen, drohten die NS mit Schließung der Anstalt DH 122f.

[7] Ernst Klee: Euthanasie 1983 nennt DH ein Meisterwerk und würdigt die Lebensarbeit Klees 116-124, weiter S. 202f; 323-325, Anm. 47-64. Die Forschungen des Leipziger Professors für Kirchengeschichte, Kurt Nowak, der 1978 ein Buch zur Euthanasie schrieb, ist erst 372f Anm. 23 nur erwähnt.

[8] DH verweist auf die Psychoanalyse. Der Historiker Otto Gerhard Oexle beschrieb das als „Problemgeschichte“, dass jede Generation mit ihren Erfahrungen andere Fragen an die Geschichte stellen muss.

Aneignungen Luthers

Thomas Kaufmann: Aneignungen Luthers und der Reformation.

Wissenschaftsgeschichtliche Beiträge zum 19.-21. Jahrhundert.

Hrsg. von Martin Keßler. (Christentum in der modernen Welt 2)
Tübingen: Mohr Siebeck 2022.
XIV, 653 Seiten. ISBN 978-3-16-161336-4

 

Aneignungen Luthers zu einem deutschen Helden
und Vorbild für den Nationalsozialismus

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Die Sammlung von Aufsätzen zeigen vorzüglich die Fokussierung auf Luther als den Deutschen, besonders auch in der Zeit des Nationalsozialismus, und die Wissenschaftsge­schichte der (deutschen) Kirchengeschichte als Theologie, aber kaum einen Weg künftiger Forschung.

Ausführlich:

In der Tat spielt die Forschung zu Luther und weniger zur Reformation als ‚Bewegung‘ den zentralen Bezugspunkt der Wissenschaftsgeschichte, zu der Thomas Kaufmanns Aufsatz­sammlung bestens informierte und deutlich im Verhältnis zum Nationalsozialismus wertend Beiträge liefert. Im Mittelpunkt stehen die Deutungen von Ernst Troeltsch und Karl Holl wie seiner ‚Schule‘, was das Zentrum der Reformation ausmache. Ernst Troeltsch hatte in seinem Tausend-Seiten-Buch Die Soziallehren 1912,[1] vorbereitet in 1906, die deutsche Ausnahme­stellung zur Reformation als weltgeschichtliche Wende bestritten. Luther und der Altprotes­tantismus waren, so Troeltsch, noch weitgehend dem Mittelalter verpflichtet, erst mit dem Neuprotestantismus begann die Neuzeit. Übersetzt in die Gegenwart waren das die Schweizer Reformierten in Westeuropa und dann vor allem die nach Nordamerika ausge­wanderten Christen, die Puritaner. Max Weber schrieb seine zwei Aufsätze zu Die protes­tantische Ethik 1904/1905, Troeltsch sein Der Protestantismus und die protestantische Kirche in der Neuzeit. Zusammen mit seinem Fachmenschenfreund Max Weber war er eingeladen zu einem Kongress in St. Louis im Zusammenhang mit der dortigen Weltausstellung. In der Vorbereitung hatten sie sich eingearbeitet in das nordamerikanische Christentum und seine calvinistischen Wurzeln.[2] Damit war ein Streit vom Zaun gebrochen, der am deutschen Selbstverständnis des Kaiserreichs nagte, mit dem Ersten Weltkrieg zum Skandal wurde. Mit der Radikalität, Konventionen aufzukündigen, traten zwei theologische Positionen gegen Troeltsch‘ Geschichtskonstruktion an: Zum einen die Dialektische Theologie mit dem himmelweiten Abstand von Gott und Mensch und auf der anderen Seite Karl Holl und seine Schule, die die gerade edierten frühen Schriften des jungen Luther interpretierten und den Zeitpunkt der „reformatorischen Erkenntnis“, die Rechtfertigungslehre viel früher ansetzten und als massiven Bruch mit dem Mittelalter verstanden.[3] Die Weimarer Republik als ‚gott­losen‘ Staat ablehnend, konnten viele Protestanten sich identifizieren mit dem autoritären Führerstaat und beriefen sich dafür auf Luther. Ein herausragendes Beispiel ist der Berliner Kirchenhistoriker und Reorganisator des theologischen Curriculums, Erich Seeberg.[4] ThK hatte schon in dem großartigen Aufsatz die Seebergs mit den Harnacks verglichen, zwei Professoren-Dynastien, die im Baltikum als Minderheit das Deutschtum vertreten hatten, und nun in Berlin die eine (Harnacks) die Demokratie stärkten bis hin zum Attentat auf Hitler, die andere (Seebergs) in vorderster Front für den Nationalsozialismus eintrat. Besonders eindrücklich ist der Nachweis, wie Werner Elert sein Kriegserlebnis (des Ersten Weltkriegs) im Kampf um das Christentum 1921 und dann in seiner Morphologie des Luthertums verarbeitete, um dann 1934 gegen die Barmer Synode den Ansbacher Ratschlag zu veröffent­lichen, der Rasse als Gottes Schöpfungsordnung theologisch rechtfertigte.[5] Noch aufregender ist das Lutherverständnis Hermann Dörries, der sich nach 1945 als Opposition zum NS stilisierte, aber einen Beitrag in seiner Bibliographie verheimlichte, der bereits 1932 An die Kritiker des NS: ein Schutzwort statt einer Kritik für den damals noch weitgehend geächteten NS schrieb.[6] Differenziert zu Heinrich Bornkamm, dessen wichtige Studie zu Luther und das Alte Testament zwar erst 1948 erschien, er das Thema aber schon im Krieg – gegen die Verwerfung des AT – gewählt und erarbeitet hatte.[7]

Im Schnelldurchgang noch die anderen Aufsätze: ThK weist nach, dass der Antisemitismus Luthers nicht erst durch die Ausgabe 1938 bekannt, sondern in Zitatensammlungen (Florilegien) das ganze 19. Jh. präsent war.[8] Protestantisch-theologische Wurzeln des Personenkults im 19. Jh.?[9] Friedrich August Tholuck kritisiert aus der Sicht der Erweckungsbewegung den Rationalismus und seine Vorgeschichte 59-87. Zum schwierigen Verhältnis von Luthertum und Humanismus [2013], 399-431.

Das Ganze ist erschlossen durch üppige Indices. Die meist mehr als die halbe Seite einneh­menden Fußnoten dokumentieren die Forschung außerordentlich dicht, aber viele Nach­weise sind mit den vollen bibliographischen Angaben redundant und verständlicherweise gibt es Überschneidungen, bes. in Kapitel 10 und 13.[10] Ein Manko ist, dass das Datum der Erstveröffentlichung in den bibliographischen Angaben oft fehlt.[11]

Zwischenfazit: Eine herausragende, bestens dokumentierte Wissenschaftsgeschichte, mit Wertungen, die je mit eindeutigen Zitaten belegt sind. Wissenschaftsgeschichte ist jedoch einzuschränken: Auch wenn die historischen Kontexte oft genannt sind, so geht es doch durchgehend um die Wissenschaft der Kirchengeschichte als eine theologische Disziplin, weitergehende wissenschaftsgeschichtliche Einordnungen sind selten.

Und das ist erstaunlich. Der Band ist eher ein Abgesang an eine verschwindende Epoche, ein spezifisch deutscher Zugang, der durch die deutsche Institution der theologischen Fakultä­ten geschützt ist und immer neu begründet werden muss in ihrer Andersheit zu den ‚Profan­historiker:innen‘.[12] Erstaunlich wenig ist von den neueren Entwicklungen die Rede, beson­ders Berndt Hamms Forschungen sind bibliographisch präsent, aber nicht in ihrer Konse­quenz dargestellt.[13] Ein Ausblick auf Themen, die künftig der Erforschung harren, fehlt völlig. Und das von einem Forscher wie Thomas Kaufmann, der umfassend das Medium Buchdruck/Flugschriften erforscht hat und dafür den kecken, geradezu provozierenden Titel gewählt hat Die Mitte der Reformation.[14] Die Fragestellungen haben sich verschoben auf die Mobilisierung der Öffentlichkeit, eine Bewegung, nicht ein theologischer Denker, der seinen Studenten den Römerbrief auslegt. Die Reformation auch in Kaufmanns Sinne hat (mindestens) vier Zentren: Wittenberg, Zürich, Genf und Straßburg. Insofern ist der Satz völlig überzogen (506): … der Begriff ‚Reformation‘ wurde von den Pluralisten enteignet, inhaltlich entkernt und umgedeutet – ein Akt der semantischen Expropriation zum Behufe der historiographischen Relativierung, was bisher darunter verstanden wurde.“ Man kann so argumentieren: „Ohne Luther keine Reformation“. Aber Luther ist nicht die Reformation. Die weitgehende Engführung auf die deutsche Forschung, auf die theologische Kirchenge­schichte eröffnet keine Perspektiven. Und die Frage, was die Reformation an ‚Neuem‘ für welche Gruppe erbracht hat, das erscheint auch nicht am Horizont.

Fazit: Die hier herausgegebene Sammlung von Aufsätzen zeigt Kaufmann als exzellenten Kenner der Kirchengeschichtsschreibung mit bohrenden Fragen und scharfen, aber immer gut belegten Urteilen zur Stellung zum Nationalsozialismus samt Vor- und Nachgeschichte. Da ist sie großartig und unbedingt lesenswert. Aber es ist eher ein Grabgesang einer ver­gangenen Epoche als ein Aufbruch zu neuen, frischen Fragen. Und das von einem, der genau solche Aufbrüche wagt.

 

Bremen/Wellerscheid, August 2022                                                                     Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

 

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[1] Jetzt die fundamentale Ausgabe mit den späteren, geplanten Ergänzungen als Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe (KGA) 9, 1-3, hrsg. [und vorzüglich eingeleitet] von Friedrich Wilhelm Graf u.a. siehe meine Rez.: „Die Soziallehren der christlichen Kirchen“: Ernst Troeltschs Klassiker in der Neuausgabe. Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe. Berlin: De Gruyter. Band 9,1-3 Die Soziallehren. 2021. ISBN 978-3-11-043357-9 https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/06/30/troeltsch-soziallehren/ (30.6.2021).

[2] Das 20. Jahrhundert würde das amerikanische sein, hatte schon Ulrich von Wilamowitz in seiner Rede auf das Neujahr 1900 prophezeit. S. Christoph Auffarth: „Ein Hirt und keine Herde“. Zivil­religion zu Neujahr 1900. In: CA; Jörg Rüpke (Hrsg.): Ἐπιτομὴ τῆς Ἑλλάδος. Studien zur römischen Religion in Antike und Neuzeit für Hubert Cancik und Hildegard Cancik-Lindemaier. (Potsdamer Altertums­wissenschaftliche Beiträge 6) Stuttgart: Steiner 2002, 203-223.

[3] Das Thema des „Durchbruchs“ der „reformatorischen Erkenntnis“ reduziert die Reformation auf ein kognitives Ereignis eines Individuums. Bei dem von Karl Barths Dialektischer Theologie geprägten Ernst Bizer wird das zu einer sich verstärkenden Reihen von Durchbrüchen. Sein Lutherbuch fides ex auditu 1958 führte zu einer langen Kontroverse ([2004] 463-489). [Das sind das Jahr der Erstveröffent­lichung und die Seitenzahlen im vorliegenden Buch von Thomas Kaufmann].

[4] Die Harnacks und die Seebergs [2005], 119-170. Erich Seeberg als NS-Theologiepolitiker, 249-270. Der letztere Aufsatz ist eine Zusammenfassung eines 150-seitigen Aufsatzes von 2002. Zum Schüler See­bergs Ernst Benz, der dessen Programm der Umgestaltung der Kirchengeschichte zum Fach Deutsche Frömmigkeit vorantrieb, in der Bonner Republik aber – weiterhin antikommunistisch und anti­katholisch – als Kulturpolitiker die globale Öffnung repräsentierte, s. Auffarth, Frömmigkeit im protestantischen Milieu: Marburg während des Nationalsozialismus. In: Olaf Blaschke; Thomas Großbölting (Hrsg.): Was glaubten die Deutschen 1933-1945? Religion und Politik im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main: Campus 2020, 415-442.

[5] Werner Elert als Kirchenhistoriker [1996], 197-248. Dort auch eine gute Charakteristik der Gemein­samkeit mit Rudolf Otto 224, Anm. 94, sich auf Luthers „unableitbare“ Erfahrung berufend.

[6] Mit angeblichen Lutherzitaten. ThK kann auf den Nachlass von Elert zurückgreifen, den er privat archiviert hat [unveröffentlicht], 371-395).

[7] Heinrich Bornkamm als Vorsitzender des Vereins für Reformationsgeschichte [2008], 271-320. Ein Blick auf Bornkamms Bruder Günther, Prof. für NT, klarer Gegner des NS, wäre erhellend. Dazu Gerd Theissen: Neutestamentliche Wissenschaft vor und nach 1945: Karl Georg Kuhn und Günther Bornkamm. Heidelberg: Winter 2009.

[8] [2015], 3-36. Johannes Wallmann hatte das bestritten in zwei Rezensionen, ThK stellt das nicht heraus (4, Anm.2).

[9] [2015], 37-58 verweist auf die Schrift von Carl Ullmann.

[10] 10 Evangelische Reformationsgeschichtsforschung nach 1945 [2007], 321-369 (um den Kritiker Ernst Wolf herum). 13 Die deutsche Reformationsforschung seit dem Zweiten Weltkrieg [2009], 433-461.

[11] Fehler sind sehr selten. 172 A. 1 heißt der Autor Wolfgang Schluchter, nicht Schlachter. Andere Versehen liste ich hier nicht.

[12] Obwohl gerade die Frühneuzeit-Historiker:innen das Thema Religion entdeckt haben, kommen sie in den Forschungsberichten fast nicht vor (außer prominent Peter Blickle). Wo steht etwas zur „Sozial­disziplinierung“ (Gerhard Oestreich) und La grande peur (Jean Delumeau 1978), Schorn-Schütte ist gerade einmal erwähnt, Renate Dürr gar nicht. Die Forschung von Franziska Loetz zu Zürich ergab ein überaus interessantes Bild vom Verhältnis der Ratsherren und der Theologen (Mit Gott handeln, 2002). Gerade erschienen ist ihr Gelebte Reformation. Zürich 1500-1800. Zürich TVZ 2022, 391-409.

[13] Die herausragende Monographie (mit meiner Rezension) zeichnet geradezu ein Gegenbild zu Luther, jedenfalls eine Alternative zu Luthers Menschenbild: Gerechtigkeit in der Stadt – Ein Prediger vor der Reformation. Berndt Hamm: Spielräume eines Pfarrers vor der Reformation. Ulrich Krafft in Ulm. Ulm: Stadtbibliothek 2020. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/04/19/hamm-spielraeume-eines-pfarrers/ 27.4.2021. Zum „Ablass“ ders.: Ablass und Reformation – erstaunliche Kohärenzen. Tübingen: Mohr Siebeck 2016.

[14] Im Kontext dieses wissenschaftsgeschichtlichen Bandes wäre die „Mitte der Reformation“ die theologische Erkenntnis der (passiven) Rechtfertigung und der Gnadenlehre und die Mobilisierung der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit dem Ablassstreit 1517. ThK hat das in seinem Der Anfang der Reformation begründet (Meine Rezension: Anfänge und Bruch. Thomas Kaufmann: Der Anfang der Reformation. 2012. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2013/02/27/der-anfang-der-reformation ) und in seinem abschließenden Aufsatz Wider die Pluralisierung der Reformation (491-514) noch einmal festgeschrieben., nachdem sein Buch Das Ende der Reformation von der Titelgebung eine Trilogie suggerieren. Meine Rezension zu Die Mitte: Thomas Kaufmann:  Die Mitte der Reformation. Eine Studie zu Buchdruck und Publizistik im deutschen Sprachgebiet, zu ihren Akteuren und deren Strategien, Inszenierungs- und Ausdrucksformen. Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XX, 846 Seiten. (Beiträge zur historischen Theologie 187) https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2019/11/19/mitte-der-reformation/ (19.11.2019). Zu diesem gelehrten Buch erschien gerade eine populärere Version: Die Druckmacher. Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte. München: Beck 2022.

Carl Erdmann

Folker Reichert: Fackel in der Finsternis.
Der Historiker Carl Erdmann und das »Dritte Reich«.

 

2 Bände, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft wbg academic 2022.

ISBN 978-3-534-27403-1

[I] Die Biographie. 423 Seiten.

[II] Briefe 1933-1945. 504 Seiten.

 

Das kurze Leben des Mittelalterhistorikers Carl Erdmann,
der sich dem Nationalsozialismus nicht anpasste.

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Eine herausragende Biographie und Edition seiner Briefe, die den Wissenschaftler in der NS-Zeit als einen zeigt, der nicht vorauseilend der Verkehrung des Geschichtsbildes diente, sondern widersprach und seinen Prinzipien treu blieb.

Ausführlich:
Carl Erdmann war ein herausragender Wissenschaftler auf dem Gebiet der mittelalterlichen Geschichtswissenschaft, dem aber eine Professur, ja jede Forschungs-Beamtenstelle verwehrt wurde, weil er sich nicht ‚anpasste‘ und deshalb von den nationalsozialistischen Universi­täts-„Führern“ bekämpft wurde. Trotz seines frühen Todes ist sein Name bis in die Gegen­wart berühmt, sein Buch Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens 1935 bis heute ein grund­legendes und befruchtendes Werk.[1] Gerd Tellenbach hat ihn in seiner Autobiographie als leuchtendes Beispiel politischer Gradlinigkeit hervorgehoben.[2] Folker Reichert wählt den Titel Fackel in der Finsternis, denn nur wenige Wissenschaftler haben so viel Nachteile in Kauf genommen, um sich nicht anzupassen oder gar mit dem Parteibuch Karriere zu machen. FR hat nun eine herausragende Biographie erforscht, die es nicht bei den relativ wenigen direkten Zeugnissen einer ‚Biographie‘ belässt, sondern eine Wissenschaftsgeschichte der Mediävistik besonders der NS-Zeit mit Fokus auf diesen außerordentlichen Gelehrten erarbeitet.[3] Arbeit steckt in dieser Geschichte enorm viel: Dafür hat FR nicht nur die Stätten seiner Jugend und seinen Grabstein aufgesucht, sondern alle in unterschiedlichen Archiven erreichbaren Nach­lässe der damaligen Historiker nach Zeugnissen durchforstet, die Akten der Universitäts­archive durchgelesen und eine stattliche Anzahl (218 Nummern) von Briefen von CE (Briefe an diesen fehlen, denn es gibt es so gut wie keinen Nachlass), von denen die meisten (also in Auswahl) ab dem Jahre 1933 im zweiten Band ediert und sehr gut kommentiert sind. Zum Kriegsdienst im Zweiten Weltkrieg eingezogen als Dolmetscher mit den (nach Mussolinis Sturz von den Deutschen gefangen genommenen)[4] Italienern erreichte er im überstürzten Rückzug der deutschen Truppen aus dem Balkan noch Zagreb/Agram, infizierte sich aber und starb dort am 7. März 1945, 46-jährig.

Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens 1935. Ursprünglich sollte das Buch Militia S. Petri [Kriegsdienst für St. Petrus] heißen. FR führt den deutschen Titel darauf zurück, dass man in der NS-Zeit besser keine lateinischen Buchtitel verwenden wollte. Das trifft aber nicht zu. In der Reihe, herausgegeben von Erich Seeberg, gemeinsam mit Erich Caspar und Wilhelm Weber, enthält der folgende Band 7 den Obertitel Libertas, eben das Buch von CEs Freund Tellenbach mit einer historischen Stellungnahme zu den Eingriffen des Staates in die Freiheit der Kirchen.[5] Der ursprüngliche Titel traf nicht die These des Buches, denn die Bedeutung des Papstes für die Kreuzzüge umfasste ja nicht die ganze Bewegung.[6] Im Schlusskapitel diskutiert CE die Frage nach der „grundlegenden Unterscheidung zwischen der hierarchi­schen und der populären Kreuzzugsidee, die einige Zeit nebeneinander herliefen, um sich unter Urban II. zu weltgeschichtlicher Vereinigung zu finden“, wie schon im Vorwort (ix) die Fragestellung formuliert wird. Und im Resüme beantwortet er: „Das scheidet ihn (Urban II.) grundsätzlich von Gregor, für den das Schillern zwischen Frömmigkeit und Vasallität, zwischen Sacerdotium und Militärmacht charakteristisch geblieben war. Urban II. „begnügte sich damit, sich an die Spitze der populären Bewegung seiner Zeit zu stellen, auch ohne dass sie ihm unmittelbaren Vorteil brachte.“ Das heißt, „Urban hat es verschmäht, diesen Gewinn (an moralischer Autorität) in direkte staatliche Macht umzuwechseln.“ (alles S. 325). Milita s. Petri umfasste aber nicht diesen populären und religiösen Aspekt des Kreuzzugsgedankens. Die religionswissenschaftliche Perspektive hat zum einen die religiöse Motivation der Laienfrömmigkeit herausgestellt, u.a. mit der Wahl der (jüdischen!) Makkabäer als Vorbild und Heilige der Ritter (neben den von CE untersuchten Erzengel Michael, Hl. Georg).[7] Weiter ist die Pilgerfahrt eine eigene Motivation von Laien mit viel älterer Tradition, die sich zwar gemeinsam mit dem militärischen Zug auf den Weg machte, aber eigene Ziele verfolgte. Die Rede von der „bewaffneten Wallfahrt“ vermischt, was getrennt zu betrachten ist.[8] In der Tat hat CE mit seinem Buch die Mediävistik weit geöffnet von der Verengung auf Kaiser- und Papstgeschichte hin zu einer Kulturgeschichte und Religionsgeschichte.[9] FR macht deutlich, dass das Buch zwar bis heute grundlegend ist, CE sich aber nicht als Kreuzzugshistoriker verstand.

Zur Mediävistik in der Geschichtswissenschaft der NS-Zeit:[10] Die zwölf Jahre der Zeit des Nationalsozialismus waren für ein so kompetitives Verfahren wie eine Wissenschaftskarriere entlarvend. Zum einen wurden viele Professuren unerwartbar frei, weil ihre Inhaber entlas­sen wurden, zumeist Juden. Der Fall Ernst H. Kantorowicz in Frankfurt ist der bekannteste.[11] Finanziell unabhängig, konnte er in der Vorlesung offen den NS anprangern, dann ohne Lehrverpflichtung an seinen Projekten arbeiten. EC wäre für die Vertretung und wohl auch die Nachfolge gefragt worden, aber machte zur Bedingung, dass er den Skandal anprangern würde (133-163).[12] Das konnte der Vertreter der Universität nicht annehmen. Bei der Vergabe eines (schlecht bezahlten) Lehrauftrags an der Berliner Universität schaltete sich der NS-Dozentenbund ein, der das politische Engagement beurteilte. Das erwies sich als vernichtend für den – nach bis dahin üblichen Kriterien – Star unter den Wissenschaftlern, die als nächste auf eine Professur berufen würden. Statt um Qualität des wissenschaftlichen Könnens und didaktischer Fähigkeiten wurde jetzt nach dem Datum des Eintritts in die NSDAP gefragt.[13] CE weigerte sich. Eine Chance zur Öffentlichkeitsarbeit bot sich für die Mediävistik und CE trieb das Projekt voran: Eine Fraktion in der NSDAP beschimpfte Karl den Großen als den „Sachsenschlächter“, als er die Sachsen seiner Herrschaft unterwarf und 4500 aus deren Elite entweder zur Annahme des Christentums zwang oder sie würden enthauptet. CE gewann Kollegen zu einem Büchlein, das den antifranzösischen Titel trug Karl der Große oder Charle­magne? Die acht Kapitel hatten zweierlei zum Ziel: Karl den Großen als den ersten Kaiser des Abendlandes bzw. des Deutschen Reiches zu feiern und das Recht auf Wissenschaft, ohne einer Ideologie zu dienen. Hitler bekannte sich in seiner Grundsatzrede auf dem Reichs­parteitag 1935 zu Karl dem Großen als seinem Vorbild der Einigung des Abendlandes, auch unter Gewalt (sprich der Eroberung ganz Europas dann im Zweiten Weltkrieg). Ob er das tat nach (und wegen) des Eindrucks der Historiker oder weil er das Germanenbild der Rosen­bergs und Himmlers ablehnte, aber auch weil er das Christentum für eine unverzichtbare Macht hielt, lässt sich so nicht entscheiden. Ich neige anders als FR dem letzteren zu.[14] Spannend CEs Widerspruch gegen die Weihestätte, die Heinrich (Himmler) seinem Namensvetter König Heinrich I. einrichtete und mit einem ‚sensationeller Weise entdeckten‘ Skelett authentifizierte, das sich aber als plumpe Fälschung erwies (254-264).

CE konnte mit seinem schon in jungen Jahre staunenswert umfangreichen Werk eine Forscherstelle, ja die Direktorenstelle in den Monumenta Germaniae Historica erwarten. Statt seiner wurden Emporkömmlinge auf die Stelle gesetzt, „Herr und Knecht“ nennt FR das Kapitel, wie CE das Institut eigentlich leitete und im Krieg vor der Ausbombung rettete. Sein Chef, Theodor Mayer, überließ CE die sorgfältige Evakuierung (die auch viele der von FR gefundenen Akten rettete). Mayer war mit seiner NS-Vergangenheit nach der Kata­strophe nicht mehr auf eine Professur zu befördern, aber wie vielen der Kollaborateure richtete man ihm ein eigenes außeruniversitäres Institut ein.[15] Die sich gegen den NS stemmten, wurden nach 1945 nicht etwa gelobt und gefördert, sondern meist wie Geächtete behandelt. Wie es CE ergangen wäre?

Die Wissenschaftsgeschichte der Mediävistik hat mit Reicherts Buch einen großen Fortschritt gemacht. Weit über Carl Erdmann hinaus treten andere Wissenschaftler auf und auf diesem Hintergrund wird die außergewöhnliche Persönlichkeit Erdmanns deutlich. Seine Gradlinig­keit und Mut, die Ablehnung des Nationalsozialismus auch auszusprechen, wo andere geschwiegen hätten, hat Folker Reichert mit all seiner Kenntnis der Forschung und einer umfassenden Arbeit in unterschiedlichsten Archiven erforscht und erzählt. Eine hervor­ragende Edition der Briefe und eine Biographie, die die ‚Spielräume‘ von Wissenschaftlern im ‚Dritten Reich‘ erkennen lassen, die die meisten mit Blick auf ihre Karriere, auch die schon etablierten, vorauseilend nicht nutzten. Diese Biographie zeigt, dass es auch solch eine „die Fackel in der Finsternis“ gab.

 

Bremen/Wellerscheid, März 2022                                                              Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,

Universität Bremen

E-Mail:
auffarth@uni-bremen.de 

 

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[1] Carl Erdmann: Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens. (Forschungen zur Kirchen- und Geistesge­schichte 6) Stuttgart: Kohlhammer 1935. (Nachdrucke 1955, 1965, 1972, 1980. Englische Übersetzung erst Princeton: Princeton University Press 1977 von Marshall Baldwin The Origin of the Idea of Crusade) – Das umfangreiche Werk dokumentiert sehr präzise FR im Anhang zu Band 2, 423-438. Erdmanns Namen kürze ich ab mit den Initialen CE. Zum Nachleben: 334-345.

[2] GT: Aus erinnerter Zeitgeschichte. Freiburg: Wagner 1981, 82-94.

[3] Folker Reichert (* 1949) ist Prof. emeritus der Universität Stuttgart. Er hat die Mediävistik bereichert unter anderem durch die Geschichte des Reisens, also in globalgeschichtliche Richtung. Wissen­schaftsgeschichtlich ist er mit der Erschließung des Tagebuchs im Ersten Weltkrieg des Heidelberger Mittelalterhistorikers Karl Hampe hervorgetreten. – Seinen Namen kürze ich ab mit den Initialen FR.

[4] Zu den italienischen ehemaligen Waffenbrüdern, aber nach Mussolinis Sturz Kriegsgefangenen Christoph Schminck-Gustavus: Kephalloniá 1943 – 2003. Auf den Spuren eines Kriegsverbrechens. Bremen: Donat 2004.

[5] Gerd Tellenbach: Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Inverstiturstreits. [Habil. Heidelberg 1932] Stuttgart: Kohlhammer 1936. Die Titel der übrigen 21 Bände vor dem Ende des NS enthalten viele theologische Fachbegriffe. Im gleichen Verlag, aber aus mir nicht bekannten Gründen außerhalb der Reihe – Die Reihe wurde herausgegeben von Benz‘ Mentor Erich Seeberg und war mit  Benz‘ Willensmetaphysik  eröffnet worden – war  im Jahr davor Ernst Benz: Ecclesia spiritualis. Kirchenidee und Geschichtstheologie der Franziskanischen Reformation. Kohlhammer: Stuttgart 1934. erschienen. Gewidmet ist der Band „Der kommenden Kirche“, ein Motto, das den Verfasser als Deutschen Christen kenntlich macht, wie auch die Einleitung (1-3) zeigt. Zu Benz Christoph Auffarth: Frömmigkeit im protestanti­schen Milieu: Marburg während des Nationalsozialismus. In: Olaf Blaschke; Thomas Großbölting (Hrsg.): Was glaubten die Deutschen 1933-1945? Religion und Politik im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main: Campus 2020, 415-442.

[6] Schon CEs nicht gedruckte Dissertation phil. 1925 in Würzburg trug den Titel Der Kreuzzugsgedanke in Portugal.

[7] Christoph Auffarth, Irdische Wege und Himmlischer Lohn. Kreuzzug, Jerusalem, Fegefeuer in religionswis­senschaftlicher Perspektive. (MPIG 144) Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2002. In der Fragestellung treffend (Kein ‚Krieg des Papstes‘), in der Ausführung nur teilweise gelungen: Tim Weitzel: Kreuzzug als charismatische Bewegung. Päpste, Priester und Propheten 1095-1149. (Mittelalter-Forschungen 62) Ostfildern: Thorbecke 2019. Zum Kult des Erzengels Michael CE, Kreuzzugsgedanken S. 17; St. Georg 257.

[8] Schon Auffarth: „Ritter” und ”Arme” auf dem Ersten Kreuzzug. Zum Problem Herrschaft und Religion ausgehend von Raymond von Aguilers. in: Saeculum 40(1989), 39-55. Auffarth: Nonnen auf den Kreuzzügen: ein drittes Geschlecht? In: Das Mittelalter. Zeitschrift des deutschen Mediävisten­verbandes Band 21, Themenheft 1: Kreuzzüge und Gender, hrsg. von Ingrid Baumgärtner und Melanie Panse. Berlin: de Gruyter 2016, 159-176. mit der Unterscheidung der Teilnehmer und ihrer Interessen.

[9] Otto Gerhard Oexle: Staat – Kultur – Volk. In: Deutsche Mittelalterhistoriker auf der Suche nach der historischen Wirklichkeit 1918-1945. In: Peter Moraw; Rudolf Schieffer (Hrsg.): Die deutsche Medi­ävistik im 20. Jahrhundert. Ostfildern: Thorbecke 2005, 63-101. Auch von FR 128f zitiert, aber mit einem Vorbehalt gegenüber ‚Kulturgeschichte‘.

[10] Gleichzeitig erschien der Band (mit einen Beitrag von FR zu CE) Arno Mentzel-Reuters, Martina Hartmann, Martin Baumeister (Hrsg.): Das Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde 1935 bis 1945 – ein „Kriegsbeitrag der Geisteswissenschaften?“ (Monumenta Germaniae Historica. Studien zur Geschichte der Mittelalterforschung 1) Wiesbaden: Harassowitz 2021.

[11] Die lesenswerte Biographie von Robert E. Lerner, Princeton 2017 ist auch übersetzt Stuttgart: Klett-Cotta 2020. Eine Sammlung seiner Aufsätze mit einer vorzüglichen Einleitung von Johannes Fried: EHK: Götter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendländischen Königtums. Stuttgart: Klett-Cotta 1998.

[12] Dazu 154f, II 39 (Brief 8).

[13] Da das oft unbekannt ist bei der Beurteilung der Nähe zum Nationalsozialismus: Angewidert von der gewaltigen Nachfrage nach einen Parteieintritt verbot Goebbels vom Mai 1933 an den Eintritt in die NSDAP. Erst ab 20. April 1937 wurde das Verbot aufgehoben. Dafür schrieben sich die, die eine Stelle im Staatsdienst haben wollten (nicht nur die Karrieristen), in anderen Organisationen der NSDAP ein wie Dozentenbund, Lehrerbund, Automobilisten,…

[14] Auffarth: Drittes Reich. In: 20. Jahrhundert. Hrsg. von Lucian Hölscher, Volkhard Krech. (Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, Band 6/1) Paderborn: Schöningh 2015, 113-134; 435-449, bes. 121f.

[15] FR 331. Anne C. Nagel hat das Zuschieben von Posten nach 1945 beschrieben: Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1970. (Formen der Erinnerung 24) Göttingen 2005, meine Rezension in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 104(2006 [2007]), 391-394. Zu Theodor Mayer die Biographie von Reto Heinzel, Paderborn: Schöningh 2016. Sehr gut die Wissenschaftsbiographie zu Percy Ernst Schramm von David Thimme: Percy Ernst Schramm und das Mittelalter. Göttingen: V&R 2006. Meine Rezension in: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 106(2008), 255-257. Zu dem von Schramm unfair angegriffenen großen französischen Mediävisten hat großartig Ulrich Raulff geforscht und dargestellt: Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Marc Bloch. Frankfurt am Main: S. Fischer 1995.

„Entjudung“ – Kirche im Abgrund. Von Oliver Arnhold


 

 

 

 

 

 

 

Oliver Arnhold
ʺEntjudung“ ‐ Kirche im Abgrund.
Die Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen 1928 ‐ 1939

und

 

 

 

 

 

 

 

 

„Entjudung“ – Kirche im Abgrund.
Das ʺInstitut zur Erforschung und Beseitigung
des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Lebenʺ 1939 – 1945.


Berlin: Institut für Kirche und Judentum 2010.

ISBN 978‐3‐938435‐00‐7. [xxiv, 926 Seiten. 24,80 Euro]

 

Das Christentum nur für ‚Deutsche’

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Paulus stellt im Galaterbrief den Grundsatz auf, das Christentum kenne weder die Diskriminierung von Frau und Mann, von Sklaven und Freien, noch von Juden und Griechen, sondern sei eine Religion für alle gleich vor Gott, ungeachtet ihrer Unter­schiede (Gal 3, 28). Als die evangelischen Landeskirchen im Jahr der nationalsoziali­sti­schen Revolution diskutierten, das Berufsverbot für Nichtarier im staatlichen Dienst[1] auch in den Kirchen zu übernehmen, da zitierte das Marburger Gutachten (Hans von Soden, Bultmann, Schlier und Jülicher ) den genannten Satz des Paulus. Dabei ging es in dem „Kirchen­kampf“ nicht etwa um den Kampf der evangelischen Kirchen gegen die staatliche Exekution und Legalisierung des Rassismus, sondern um die Minderheit derer, die sich – mit Berufung auf das Evangelium – gegen die Übernahme des ‚Arierparagraphen’ [staatlich 7.April; kirchlich 6./7.Sept. (S. 92)] auf die christlichen Gemeinden wandten. In den meisten Landeskirchen wurden die (ganz wenigen) Pfarrer entlassen, deren (erst die) Eltern sich hatten taufen lassen. Nicht die Angst der Kirchen ‚in vorauslaufendem Gehorsam’, sondern der Ehrgeiz, sich als Nationalkirche an die Spitze der national­sozialistischen Bewegung zu setzen, trieb die Kirchen, dominiert von den „Deutschen Christen“, die dank des Über­raschungs­­­coups der Kirchenwahlen am 23. Juli 1933 gesetzt hatten.[2] Sie warben einer­seits mit Mitteln der Volksmission die wenigen (ca. 5 %) Nicht-Kirchenmit­glieder zur Mitgliedschaft. Sie sonderten andererseits die nicht wenigen getauften Juden aus der christlichen Kirche aus – und unterschrieben gewissermaßen deren Todesurteil.[3]  Mehrere christliche Institutionen dienten sich dem NS-Staat an, die notwendigen wissenschaftlichen Voraussetzungen zu schaffen für die religiöse Begründung des historischen und biologistischen Antisemitismus. Die Institution, die die neue Theologie begründete, die Bibel von ihren jüdischen Denkformen zu reinigen, das Gesangbuch zu einem deutschen Erbe zu gestalten, also einen neuen deutschen Kanon zu definieren, gründeten die Thüringer DC 1939 – am Fuße der Wartburg: der Traum von der Vollendung der Reformation, von einer zweiten Refor­mation. Theologischer Vordenker wurde Walter Grundmann (1906-1976).

Die umfangreiche Arbeit von Oliver Arnhold erschließt nicht nur durch Bibliogra­phi­en und lange Zitate aus den Archivquellen (die teils erst nach der Wende wieder aufgefunden wurden) die Arbeit des Entjudungs-Instituts, sondern macht auch deut­lich, dass man detailliert die Vorgeschichte kennen  muss, um das Programm zu ver­stehen. So macht die (Vor-)Geschichte der Thüringer Deutschen Christen etwa die Hälfte des Doppelbandes aus. Hatte die vorausgehende Forschung mehrfach behauptet, Grundmann sei erst 1938 zum NS-Rassisten geworden, nachdem er, der bei den großen Neutesta­ment­lern Adolf Schlatter und Gerhard Kittel studiert und promoviert hatte, bis dahin gute und ‚reine’ Wissenschaft betrieben hatte (bes. S. 138 A. 140 und 138-142), so kann OA zeigen, dass er Theologie-Wissenschaft als Anti­judais­mus und rassistischen Antisemitismus sehr wohl zusam­men gedacht hat. Grundmann ist nicht als ein abseitiger Häretiker zu verstehen, sondern ein bedeu­tender Wissen­schaft­­ler, der auch nach der Selbstvernichtung des NS-Herrschaft zentrale Thesen beibe­hielt (so S. 22)[4] und damit weite Teile der evange­lischen Theologie und des christ­lichen Selbstverständnisses zwischen 1918 und 1968 repräsentiert.[5] Was Leonore Siegele-Wenschkewitz Mitte der Siebziger Jahre kühn aufdeckte, die Mit­schuld der Christen am Holocaust (OA erkennt ihre Arbeit als grundlegend an), erweist sich nicht als Verirrung von Wenigen, sondern weitgehend als Konsequenz der Wissen­schaft bis zum Generationenwechsel 1968.

OA arbeitete seit 1993 an dem Projekt. 17 Jahre später veröffentlicht das Berliner Institut Kirche und Judentum seine Paderborner Dissertation. Ein beeindruckendes Ergebnis in den ausführlichen Zitaten von veröffentlichten und nicht publizierten Quellen. Die Darstellung ist gegliedert nach der Einleitung 1-40 in Teil I zur Kirchen­bewegung Deutsche Christen 1928-1933 (S. 41-98); Teil II 1933-1939 (S. 99-453) zielt auf den politischen Höhepunkt der Reichspogromnacht, dem die DC die zweite Re­formation zur deutschen Kirche zur Seite stellt. Juden werden physisch und geistlich vernichtet. Teil III (S. 455-762) stellt die Arbeit des Instituts vor als Konsequenz der deutschen Kirche im nationalsozialistischen Staat. Programm, Finanzierung, Perso­nal, die Tagungen und Publikationen: das gereinigte Evangelium, das entjudete Gesangbuch, ein deutscher Katechismus und der historische Nachweis, dass Jesus ein Arier war. Wenigstens noch sieben Seiten zu den Karrieren nach 1945. Der Schluss gibt Folgerungen und Perspektiven (763-783), bevor im Anhang von knapp 150 Seiten das Buch erschlossen wird – neben der umfangreichen Bibliographie – Biogramme die im Buch vorkommenden Personen knapp vorstellt, die Mitarbeiter des Instituts, seine Organisation.

Kritisch ist zu bemerken: Die Zitate belegen nicht immer, was OA an Schlüssen aus ihnen zieht. Die Distanzierung der NS-Führung von der Idee, dass eine überkonfessionelle Nationalkirche den „Glau­ben“ an Volk und Rasse in der „Volksgemeinschaft“ missionarisch religiös binden sollte, bekam Widerspruch und Konkurrenz durch andere NS-Projekte. Das ist nicht als „Distanzierung“ (117) zu deuten, sondern typisch für die Polykratie des NS, die gerne Parallelstrukturen wollte. Eine davon, die Deutsche Glaubensbewegung, kennt OA nicht gut genug – obwohl die einschlägige Literatur zitiert ist: Richtig ist, dass Jakob Wilhelm Hauer, den die NS als deren Führer durchsetzten, aus der evangelischen Jugendbewegung hervorging, aber die DGB definierte sich als nicht-christlich. Dennoch bildet die völkische, erst recht die germanische Religionstradition nur eine winzige Splittergruppe, an der der NS schon bald wieder das Interesse aufkündigte; es bleibt nur Himmlers germanische Religi­osität der SS und SA. – Bultmanns Konzept vom „Christusgeschehen“, das er benutzt an Stelle von (Christus-)Geschichte des geschichtlichen (d.h. jüdischen) Jesus, verwendet OA S. 147, es kommt aber nicht im Zitat der DC vor und unterscheidet sich erheblich!

Für die Arbeit des Instituts ist dann die Abgrenzung vom alttestamentlichen Gottes­bild theologisch der entscheidende Punkt: Gottes-Sohnschaft sei jüdisch undenkbar, darin aber Christus Vorbild für die Christen: Selbstbewusste Helden sollen sie sein, nicht leidende erlösungsbedürftige Schwächlinge (OA 649-47).

Jesus sei ein Arier ist eine Kernaussage der Rassismus-Christen. Hatte sein Lehrer Schlatter das noch als spätere Legende abgelehnt, so versuchte Grundmann das als historischen Beweis aufzubauen.[6]

Oliver Arnhold hat, etwas detailverliebt, einen wichtigen Baustein zur evangelischen Religion in der Mitte des 20. Jahrhunderts vorgestellt. Die Zitate zeigen einerseits den Anspruch, in der „Volksgemeinschaft“ eine führende Rolle ausfüllen zu wollen, dem NS-Staat die christliche Religion als Sinnstiftung vorauseilend zum einenden Band anzudienen. Auch wenn der Bekennenden Kirche die Behauptung zu weit ging, Gott habe in der Schöpfung den Rassismus geschaffen („Und Gott sprach: es werde Volk! Und es ward Volk.“ Grundmann 1934 zitiert OA 140), so fand die deutsche Reforma­tion Luthers ihren gemeinsamen Nenner (neben dem Antikatholizismus) vor allem im Ausschluss des Judentums. „Gottes Nein zu den Juden“,[7] die Vernichtung der Juden, sei das erschreckende, aber auch – für die Christen – die heilsame Folge jeder Abwendung von Gott (Grundmann zitiert OA 142). Kein fundamentaler Verstoß gegen den Kern des Christentums (Irrlehren 163), kein Betriebsunfall, sondern Kon­tinuität ist das erschreckende Ergebnis. Einer Religionsgeschichte des 20. Jahrhun­derts – ein Desiderat – steht hier ein gut belegter Baustein zur Verfügung.[8]

Dank an das Institut für Kirche und Judentum, dass es erneut ein wichtiges Buch zu einem sehr erschwinglichen Preis veröffentlicht! Auch neben und nach Heschels Buch behält es seinen Wert, gerade durch die Details.

 

August 2011                                                            Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933, der  sog. Arierparagraph

[2] Im Folgenden DC.

[3] Hier kommen zwei Vorgänge zusammen: 1. die Forderung der DC, ‚getaufte Juden’ in eigenen Gemeinden rassistisch zu trennen. 2. die Amtshilfe für den NS-Staat, die ‚arische Herkunft’ anhand der Kirchenbücher nachzuweisen. Dazu war jeder Pastor verpflichtet. Manfred Gailus: Kirchliche Amtshilfe 2008. Rez. Auffarth in: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsi­sche Kirchengeschichte 106 (2008), 257-258. Dass das zum Todesurteil würde, war den Pastoren aller­dings zu der Zeit nicht bewusst. Aber etwa in Schleswig-Holstein vermehrte das die Zahl der „Juden“ um etwa ein Drittel.

[4] Dass Grundmann spät behauptete, er sei gegen den NS gewesen, kann man nur als gängige Rhetorik der Selbstentschuldung verstehen: OA S. 22

[5] Der Rezensent hat in einem Aufsatz die anti-jüdische Geschichtskonzeption von Rudolf Bultmann aufgezeigt, einem führenden Gegner des Antisemitismus der Deutschen Christen (erscheint in dem Band zum 125. Geburtstag von RB, hrsg. von Wolfgang Weiß; Kim Strübind. Berlin 2011, im Druck). Zur Kontinuität s. Gerd Theißen: Neutestamentliche Wissenschaft vor und nach 1945. Karl Georg Kuhn und Günther Born­kamm. Heidelberg 2009.

[6] Das stellt Susanna Heschel: The Aryan Jesus. Christian theologians and the Bible in Nazi Germany. Prince­ton, NJ: Univ. Press 2008 in den Mittelpunkt ihrer Darstellung des Eisenacher Instituts.

[7] Auch wenn Eberhard Busch (Unter dem Bogen des einen Bundes: Karl Barth und die Juden 1933 – 1945. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verl. 1996) für das berüchtigte Diktum Karl Barths – noch 1967 – Belege für sein Eintreten zugunsten der Juden anführt, so ist doch eher die Kontinuität auch innerhalb der Bekennenden Kirche (Wolfgang Gerlach: Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden. [Diss. Hamburg 1970, gedruckt erst] Berlin : Inst. Kirche und Judentum 1987; ²1993) typisch, dass das Christentum als anti-jüdische Neugründung verstanden wurde.

[8] Wie zum Nationalprotestantismus – leider mit 1933 abschließend – Roland Kurz:  Nationalprotestan­tisches Denken in der Weimarer Republik. Voraussetzungen und Ausprägungen des Protestantismus nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Begegnung mit Volk und Nation. Gütersloh: Gütersloher 2007, das OA nicht berücksichtigt.

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