Troeltsch Soziallehren

Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen.

Hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf […].

(Kritische Gesamtausgabe. Herausgegeben von Friedrich Wilhelm Graf
und Gangolf Hübinger, Band 9, 1-3)

Berlin: De Gruyter 2021.
2086 Seiten.

ISBN 978-3-11-043357-9.

 

„Die Soziallehren der christlichen Kirchen“:
Ernst Troeltschs Klassiker in der Neuausgabe

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Die Soziallehren von 1912 sind Ernst Troeltschs Hauptwerk. Sie beschreiben die Wechselwirkung zwischen religiösen Gruppen und Institutionen zur Ordnung der Gesellschaft in politischer, wirtschaftlicher, sozialer Hinsicht: eine Kulturgeschichte des Christentums. Ernst Troeltsch arbeitete an einer Neuauflage. Die Randbemerkungen, eingelegten Zettel usw. ergeben zwar kein neues Buch, aber lassen erkennen, wie er sein ‚Lieblingsbuch‘ verändern wollte.

Ausführlich: Ernst Troeltsch 1865 in Augsburg geboren, starb 1923 in Berlin, gerade 58 Jahre alt geworden. Als Theologe berühmt, aber auch umstritten, wie sich an zwei vergeblichen Versuchen zeigte, ihn von Heidelberg an die Berliner Theologische Fakultät zu berufen. Beim zweiten Berufungsverfahren verweigerte zwar die Theologische Fakultät die Berufung, aber er wurde dennoch nach Berlin geholt auf einen ad personam eingerichteten Lehrstuhl in der philosophischen Fakultät. Nachdem er sich in den nationalistischen Taumel des Ersten Weltkriegs zunächst hatte hinein ziehen lassen,[1] entwickelte sich ET zu einem der wichtig­sten Vertreter der Demokratie, wie sie dann in der Weimarer Republik realisiert wurde – mit der Hypothek des verlorenen Krieges, der wirtschaftlichen Verausgabung, des Versailler Vertrages.[2] Hier ist von seinem Lieblingsbuch und Hauptwerk die Rede.

In Heidelberg wohnten Max Weber und Ernst Troeltsch mit ihren Familien im gleichen Haus und entwickelten eine „Fachmenschenfreundschaft“ und einen weiten Freundeskreis. Zu einer ernsten Auseinandersetzung kam es während des Weltkrieges 1915. ET hatte sich zwar nicht dem Aufruf deutscher Professoren angeschlossen, die den Vorwurf deutscher Barbarei – nach der Zerstörung der Universitätsbibliothek in Löwen/Louvain, dem Beschuss der Kathedrale von Reims[3] und dem Bruch des Völkerrechts durch das kriegerische Eindringen in das neutrale Belgien – nicht auf sich sitzen lassen wollten. Aber er hielt patriotische Reden (KGA 12 – noch nicht erschienen). Max Weber dage­gen war zwar nicht so scharf gegen den Krieg wie Martin Rade, aber legte sich mit jedem an, der die Kriegsziele weiträumiger Eroberungen unterstützte. Das Fass kam zum Überlaufen, als ET, verant­wortlich für ein Lazarett, das Max Weber unterstand, einem Professorenkollegen, einem Elsässer, der mit einer Französin verheiratet war, den Besuch bei verwundeten Franzosen nur erlaubte, wenn ein deutscher Soldat ihn begleitete und zuhörte. Weber ging ET scharf an (KGA 20, 23). – Die Freund­schaft war also nicht so einfach, blieb aber auch bestehen, als Troeltsch ab August 1915 nach Berlin zog.

Die Kritische Gesamtausgabe (KGA), begonnen vor 23 Jahren mit Band 5: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912) 1998, ist mittlerweile zu etwa zwei Dritteln der Planung (27 Bände, die neueste Planung am Ende des dritten Bandes S. 2283-2286) erschienen. Fast alle Werke Troeltschs in der KGA lagen schon gedruckt vor. Der Mehrwert liegt in den sehr ausführlichen Einleitungen und den Nachweisen der verwendeten Bücher und ihrer damaligen Autoren (fast alle sind von Männern geschrieben, das Studium von Frauen an Universitäten begann erst gerade, aber eine der bedeutendsten unter den Schüler­Innen war Gertrud von Le Fort). Neben den fünf Briefbänden (KGA 18-22), in denen viel nicht publiziertes Material enthalten ist, ist die Edition der Soziallehren der Höhepunkt der KGA, auch was die Anstrengung des Herausgebers und seiner MitarbeiterInnen angeht.[4] Die Zusätze waren zu entziffern aus ETs kleiner, flüchtiger Handschrift, alle Zitate zu prüfen und vielfach zu korrigieren, die bibliographischen Angaben zu ergänzen. Und die Einfüh­rung mit dem editorischen Bericht (132 Seiten) zu verfassen.

Eine wichtige gemeinsame Unternehmung von Max Weber und Ernst Troeltsch ergab sich durch die Einladung zu einem Weltkongress der lutherischen Protestanten in St. Louis im Zusammenhang mit einer Weltausstellung (des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts und Überlegenheit des Westens) im Jahre 1904.[5] In der Vorbereitung der Amerika-Reise beschäftigten sich beide intensiv mit der aufstrebenden Industrienation USA. Sie fragten sich, inwieweit der ökonomische Erfolg mit den religiös sozialisierten Verhaltensweisen und Weltsichten zusammenhing. Max Weber schrieb seine zwei berühmten Artikel für das Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 1904 und 1905, die er dann 1920 um eine Zwischen­betrachtung erweitert als Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus noch einmal herausgab.[6] Troeltsch tat das gleiche: Erst eine Aufsatzfolge im Archiv ab 1908, dann um viele Kapitel (etwa 40%) erweitert, erschien 1912 sein bedeutendstes Buch, die Soziallehren. Da war Troeltsch schon so bekannt, dass er das Buch im Verlag Mohr (Siebeck) gleich als ersten Band seiner ‚Gesammelten Schriften‘ bezeichnete. Das 1000 Seiten starke Buch ist eine Geschichte der Soziallehren, also wie die christlichen Kirchen (im Plural!) und Gruppen sich zur sozialen Ordnung der Gesellschaft stellten. Da sein Interesse den Entwicklungen und der Vielfalt in der modernen Welt galt, fragte er auch anders als bisher. Weder war die Kirchen­geschichte ein schnurgerader Weg von Jesus zum heutigen Papst, vom Abendmahl zur Messfeier, von der einen Kirche der Wahrheit, die Ketzereien vernichten musste. Oder die protestantische Perspektive: eine Verfallsgeschichte mit Reformationen. Oder Hegels Fortschritts-Geschichte von der Aufhebung der Konflikte, dass die These die Antithese verschlingt, dabei als Synthese aufhebt im dreifachen Sinne: Erst vernichtet, dabei aber das beste von ihr aufbewahrt und so auf eine höhere Stufe gehoben. Vielmehr war Vielfalt von Anfang an. Denn die Stellung des Christentums zu den Sozialordnungen sei ambivalent und plural:[7] Distanziert kritisch und Abkehr von der ‚Welt‘ oder gestaltend auf ein Ziel hin. Mit Hilfe von Idealtypen konstruiert ET eine Geschichte des Christentums zum Zwecke der „Zusammenfassung der Gegenwart zu einem ihr Wesen charakterisierenden allgemeinen Begriff“.[8] Dazu führt er neben den von Max Weber schon als zwei Pole entwickelten Typen Kirche und Sekte einen dritten ein, der für die religiöse Entwicklung seiner Gegenwart um 1910 etwas begriff, was die beiden anderen nicht leisteten: „Die Mystik hat Wahlverwandt­schaft zur Autonomie der Wissenschaft und bildet das Asyl für die Religiosität wissen­schaftlich gebildeter Schichten“.[9] So konnte ET etwas einbeziehen, was Thomas Nipperdey 1988 als „Die Unkirchlichen und die Religion“ in seiner Deutschen Geschichte konzipierte.[10] Zugleich war „die Mystik“ ein Programm, wie sich Kirche und Christentum weiterent­wickeln sollte, um angesichts der rasanten Veränderungen der kulturellen, wirtschaftlichen, technischen Entwicklung die vielfach gestellte Frage nach dem Sinn zu befriedigen.[11] Das richtete sich auch gegen die Staatskirche preußischer Art, die zugleich Mittel der Herr­schaftsstabilisierung gegen Demokratiebestrebungen wie Legitimation der Dynastie war.

Das Buch antwortete auf die soziale Verantwortung der Kirchen (weniger in der eigenen Institution als vielmehr) für den Zusammenhang der Gesellschaft. Das Problem war durch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert brennend geworden, bei der die Politik den Indus­triellen große Freiräume gewährte, während die Arbeiter die Bedingungen akzeptieren mussten, die man ihnen gewährte – bis hin zur Ausbeutung.[12] Die Politik betrieb besonders unter Bismarck eine patriarchale Zügelung des Kapitalismus durch Begrenzung der Arbeits­zeit, Rentenversicherung, Sonntagsruhe, gleichzeitig stellte sie unter Strafe, wenn die Arbeiter für ihre Rechte kämpften. Die Kirchen, vor allem die Protestanten, waren eine bürgerliche Institution. Es gelang ihnen nicht, die Arbeiterbewegung in die Kirchen einzu­laden. Zwei Richtungen entwickelten sich in den Kirchen. Einerseits hielten sie sich verant­wortlich dafür, den bereits am Boden Liegenden zu helfen. Das tat insbesondere die Innere Mission. Eine andere unterstützt die Anliegen der Arbeiterbewegung nach mehr Rechten. Katholisch gab der Kolpingverein den v.a. jungen Arbeitern und Lehrlingen ein Milieu und Papst Leo XIII. formulierte 1891 erstmals eine Soziallehre Rerum novarum.[13]  Troeltsch beschreibt die Soziale Frage, dass sie von Anfang an ein Anliegen der Christen gewesen sei,[14] aber drei Richtungen erkennbar seien. Zum einen die Kirchen, die Verantwor­tung für die Gesamtgesellschaft zeige und das jenseitige Heil für alle offen halten. Demge­genüber kümmerten sich die Sekten nur um ihre Mitglieder und begrenzten auch das Heil auf die Ihren. Ein dritter Typ ist der Mystiker.[15]

Am Ende der Einleitung zu den Soziallehren (B 15 = KGA 169) steht die vielleicht wichtigste Bemerkung zur Zielsetzung in der Anm. 9: „Das sind dann die prinzipiellen Fragestellungen vom ethischen, theologischen oder kulturphilosophischen Interesse und Standpunkt aus, während die vorhin genannten Beispiele Max Webers dem rein Tatsächlichen zugewendet sind, und zwar vom Standpunkt und Interesse der Wirtschafts- und Sozialgeschichte aus. […] Ihr (meiner Arbeit) etwaiges Verdienst liegt überhaupt nicht in selbständiger Quellen­forschung, sondern in selbständigem Durchdenken der aus der jeweiligen Lage und Konstel­lation der Interessen der Vereinheitlichung des Ganzen zu einer Theorie der Stellung des Religiösen zum Politisch-Sozialen.“ Die Vermittlung der Spannung zwischen der eschato­logisch und an Transzendenz orientierten ‚reinen‘ oder ‚wahren‘ Religion Jesu von Nazareth und den innerweltlichen Ordnungsprinzipien der jeweiligen Zeit ließ sich durch die christ­liche Idee des Naturrechts überbrücken. Es sei das eigentliche Kulturdogma der Kirche (B 173 = KGA 476).

Das Buch wurde vielfach nachgedruckt.[16]  Für die Edition in der kritische Neu-Ausgabe war angekündigt, dass der Text erheblich ergänzt wurde um etwa 40%, das Vorwort beziffert jetzt „knapp 17%“ (S. vi). Die Ergänzungen hätten das Werk auf etwa 1200 Seiten wachsen lassen. Bereits im Jahr des Erscheinens sammelte der Autor Material für eine Neuauflage, schrieb an den Rand der Seiten Ergänzungen, legte Blätter ein, wollte zudem sein Buch über Augustin einarbeiten. Viele Ergänzungen sind Literaturangaben, zu den 858 Angaben im Druck (Band 9,3, 1873-1951) kamen 418 neue (1951-1987) hinzu. Register zu Personen und Sachen erschließen den Text. Allerdings was helfen beim Suchen, wenn es rund 500 Belege für „Sekte“ gibt, ohne jede Differenzierung? FWG beruft sich S. 128f darauf, dass er darin ET folge, der etwa die Differenzierung bei „Absolutismus“ alle unter das gleiche Lemma sub­sumiert habe. Das scheint mir aber für eine Kritische Neuausgabe wenig sinnvoll, einerseits das Register enorm zu erweitern (Troeltsch hatte unter „Sekte“ 32 Einträge), andrerseits das Prinzip des Autors zu ‚bewahren‘, keine Differenzierungen in den Stichwörtern vorzuneh­men. FWG sammelt an einem Beispiel in der Einleitung die vielen Begriffe, die ET etwa für Kirche und Gemeinde unterscheidet (35-38). Das hätte ein Register viel wertvoller gemacht (Die Max Weber-Ausgabe MWG/MWS hat das viel besser dargestellt).

Das Buch regte seine Kollegen auf, besonders die These von der Rückständigkeit Luthers. Luthertum war in der preußischen Staatskirche das moralische Rückgrat. Besonders der seit 1906 ebenfalls an der Berliner Universität lehrende Karl Holl positionierte sich gegen ET.[17] Der Lutherspezialist, aber auch sonst breit forschende Gelehrte fand Troeltschs ‚Überflieger­historie‘ zu wenig in den Quellen verankert. So schrieb Holl einen Aufsatz, der ihn „in den schärfsten Gegensatz zu Troeltsch führte.“[18] Sicher war Troeltschs Einschätzung von Luther­tum und Calvinismus ebenso überzeichnet wie Holls Bild von dem Beginn der Neuzeit bei Luther. Sie bleiben lesenswert, sind Klassiker. Troeltschs Buch hat erheblich an Kontur gewonnen durch die detaillierte Beschreibung in der Einleitung und die kritische Ausgabe des Textes und der Weiterarbeit des Autors an seinem Lieblingsbuch. Ein Monument der Erforschung aller Einzelheiten, das viele Vermutungen und Thesen korrigiert und auf eine feste Grundlage und in die Wissenschaftsgeschichte stellt.

 

Bremen/Wellerscheid, 11. Juni 2021                                                                 Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail:   auffarth@uni-bremen.de

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[1] Vgl. Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens. München: Hanser 2005, 710-712. Robert E. Norton: The Crucible of German Democracy. Ernst Troeltsch and the First World War. (BHTh 197) Tübingen: Mohr Siebeck 2021.

[2] Im Gegensatz zu Max Weber gibt es immer noch keine befriedigende Biographie. Die Einleitungen, besonders die zu den fünf Bänden Briefe, bieten viele Details dazu. Hans-Georg Drescher: Ernst Troeltsch. Leben und Werk. Göttingen: Vandenheock&Ruprecht 1991 beschränkt sich v.a. auf den Theologen.

[3] Thomas W. Gaethgens: Die brennende Kathedrale. Eine Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg. München: Beck 2018. Wolfgang Schivelbusch: Die Bibliothek von Löwen. Eine Episode aus dem Ersten Weltkrieg. München: Hanser 1988. überarbeitet Eine Ruine im Krieg der Geister. Die Bibliothek von Löwen; August 1914 bis Mai 1940. Frankfurt am Main: Fischer 1993.

[4] Friedrich Wilhelm Graf ist emeritierter Professor an der LMU München, evangelisch-theologische Fakultät, Nachfolger seines Lehrers Trutz Rendtorff. Seine Homepage Prof. em. Dr. Dr. h.c. Friedrich Wilhelm Graf – Systematische Theologie – LMU München (uni-muenchen.de) (11.6.2021). Im Folgenden ist sein Name mit den Initialen angegeben FWG. Als MitarbeiterInnen an dem Band sind genannt Daphne Bielefeld, Eva Hanke, Johannes Heider, Fotios Komotoglou, Hannelore Loidl-Emberger.

[5] Drescher, Troeltsch 1991, 181-184. – Im Jahre 1893 hatten anlässlich der Weltausstellung in Chicago zu 400 Jahren Entdeckung Amerikas die sehr liberalen und dogmenlosen Unitarier zu einem „Weltparla­ment der Religionen“ eingeladen. Dazu (gleichzeitig) Tomoko Masuzawa: The Invention of World Religions. Or, How European Universalism Was Presented in the Language of Pluralism. Chicago: CUP 2005 sowie Christoph Auffarth: „Weltreligion“ als ein Leitbegriff der Religionswissenschaft im Imperialis­mus. in: Ulrich van der Heyden; Holger Stoecker (Hrsg.): Mission und Macht im Wandel politischer Orientierungen. Europäische Missionsgesellschaften in politischen Spannungsfeldern in Afrika und Asien zwischen 1800 und 1945. (Missionsgeschichtliches Archiv 10) Stuttgart: Steiner 2005, 17-36. Zuvor Dorothea Lüddeckens: Das Weltparlament der Religionen von 1893 : Strukturen interreligiöser Begegnung im 19. Jahrhundert. (RGVV 48) Berlin: de Gruyter 2002. Zuletzt Auffarth, https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2020/05/25/weltreligion-im-umbruch/ (25.5.2020).

[6] In der Max Weber Gesamtausgabe, Band I/9 und I/18 mit weiteren Texten. In der Studienausgabe als I/18. 2021, die auch Texte aus I/9 integriert.

[7] Zum Plural „Christentümer“ FWG, Einleitung 118. Auffarth, Die frühen Christentümer als Lokale Religion. Zeitschrift für Antikes Christentum 7(2003), 14-26.

[8] So ET 1911 (in der KGA 8,205).

[9] B 967. (KGA 1849). FWG, Einleitung S. 13-15 [In der Edition der KGA sind die Aufsatzfolge mit der Sigle A, das Buch mit B unterschieden.

[10] Thomas Nipperdey: Religion im Umbruch. Deutschland 1870.1918. München: Beck 1988, 124-153, dann aufgenommen in seiner Deutschen Geschichte. Nipperdey verstand etwas von Religion, wie wenige Historiker seiner Generation. Seine Schwester war die zwei Jahre jüngere Dorothee Sölle. Zu Nipperdey (1927-1992) Paul Nolte: Lebens Werk. Thomas Nipperdeys Deutsche Geschichte – Biographie eines Buches. München: Beck 2018.

[11] Eine hervorragende religionswissenschaftliche Religionsgeschichte der Religion und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bietet Thomas Auwärter in seiner Bremer Habilitationsschrift zu Albert Kalthoff (1850-1906) und dem Experimentierort Bremen. Zuvor schon Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland. Tübingen: Mohr 1994.

[12] Eine frühe Parteinahme für die Verlierer der Industrialisierung leistete Bettine von Arnim mit genauen Listen, welche Familien durch Pauperisierung mit dem Sterben bedroht waren: Dies Buch gehört dem König 1843 und Armenbuch, das nach dem Aufstand der Weber in Schlesien 1844 nicht mehr gedruckt werden durfte. (Sehr gute Edition und Kommentar in Bettine von Arnim: Politische Schriften. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1995). Die Weber mit ihren Handwebstühlen konnten gegen die Maschinenwebstühle und die billige, weil von Sklaven bearbeitete Baumwolle nicht mithalten. Im englischen Manchester massierte sich der Kapitalismus. Glänzend aufgearbeitet durch Sven Becker: King Cotton. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus. München: Beck 2014 (2019).

[13] Denzinger, Enchiridion 3265-3271. Es sei ein Naturrecht, Eigentum zu besitzen. Eigentum verpflichte aber dazu, es sozial zum Nutzen der Allgemeinheit und zur Unterstützung von Armen einzusetzen.

[14] Die Frage auf die gesamte Geschichte auszudehnen, ist das Verfahren des damals alles durchdrin­genden Historismus. Dass mit dem Blick rückwärts und der selbstgerechten Bewertung, dass die Gegenwart den Höhepunkt einer Entwicklung erreicht habe, stellt Friedrich Nietzsche mit seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung scharf in Frage. Es müsse um Zukunft, um das Leben gehen. Dazu meine Rezension des Nietzsche-Kommentars in der Zeitschrift für Religionswissenschaft 29(2021), 151-158. Grundlegend Otto Gerhard Oexle: Troeltschs Dilemma, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Ernst Troeltschs »Historismus«. (Troeltsch-Studien 11), Gütersloh 2000, 23-64.

[15] Arie Molendijk: Zwischen Theologie und Soziologie: Ernst Troeltschs Typen der christlichen Gemein­schaftsbildung: Kirche, Sekte, Mystik. (Troeltsch-Studien 9) Gütersloh: GVH 1996. Troeltsch wollte in die Neuauflage eine Darstellung der mittelalterlichen Mystik einbeziehen, die in der Fassung 1912 fehlte. Überblick bei Auffarth, Begabt zu außerordentlichen Erfahrungen: Mystik und Religion. Jahrbuch für Biblische Theologie (2022).

[16] Der Nachdruck bei Mohr 1919 und 1922, als Taschenbuch in zwei Teilen ebenfalls 1994. Dazwischen wurde es in dem Nachdruck-Verlag scientia in Aalen 1961 und mehrfach 1965/66 und 1981 nachge­druckt zusammen mit den anderen drei Bänden der Gesammelten Schriften. Diese vierbändige Ausgabe druckte zuletzt die Wissenschaftliche Buchgesellschaft in Darmstadt 2016 nach. Die von Troeltsch selbst verantwortete Auswahl der Aufsätze aus Band 2 (Band 3 Der Historismus und seine Probleme ist als KGA 16,1-2 hrsg.  von Friedrich Wilhelm Graf (in Zusammenarbeit mit Matthias Schloßberger) soll, so entschieden die Herausgeber, auch so wieder in der KGA als eigener Band erscheinen.

[17] Er und seine Schüler stehen im Mittelpunkt der ausgezeichneten Studie Heinrich Assel: Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance – Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Her­mann (1910–1935) (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 72). Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 1994.

[18] FWG behandelt die Distanzierung ausführlich 41-57. Er zitiert das Zitat 42 Anm. 138 aus einem Brief Holls an Adolf Schlatter 1920. Holls Aufsatz „Der Neubau der Sittlichkeit“ erschien in seinen Gesam­melten Aufsätzen, Band 1: Luther. Tübingen: Mohr 1921 (4-51927, 155-287), wo er die doppelte Sittlichkeit von Berufsethik und Persönlichkeitsethik kritisiert oder, dass ET Luther dem Mittelalter zuweise. Troeltsch seinerseits fügte für die Überarbeitung der Soziallehren immer wieder zustimmend Arbei­ten von Holl ein. Holl starb 1926. Tiefere Gründe der Distanz war die Bewertung des verlorenen Krieges und die Bevorzugung des Calvinismus namentlich der USA, einem der Kriegsgegner.

1 Gedanke zu „Troeltsch Soziallehren“

  1. Prof. Gangolf Hübinger, Frankfurt an der Oder schreibt (an Prof. Christoph Auffarth per mail am 2.7.2021): “Sie bringen das Ganze knapp und bündig auf den Punkt: Die Soziallehren sind Troeltschs Hauptwerk, eine bis heute vorbildliche Transfergeschichte von Religion und sozialer Welt.”

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