José Casanova: Europas Angst vor der Religion. Herausgegeben von Rolf Schieder

Europas Angst vor der Religion

José Casanova: Europas Angst vor der Religion.
Berliner Reden zur Religionspolitik
hg. von Rolf Schieder
Berlin University Press
133 Seiten

Je moderner eine Gesellschaft, desto weniger Religion braucht sie. So haben europäische Religionssoziologen die Dynamik der Religion in Europa eingeschätzt. In Amerika hingegen, zweifellos einer modernen Gesellschaft, hat die Konkurrenz der Religionen zu einem Boom der Religionen geführt. Der in Spanien geborene Religionssoziologe José Casanova, jetzt Professor in den USA (Washington und Leiter des Berkley Centers für Globalisierung, Religion und Säkularismus) ist ideal geeignet, zu diesem Problem Stellung zu beziehen, kennt er doch beides. Seine Diagnosen der Bedeutung der Religion in der Moderne erkennen „Europas Angst vor der Religion“. Die Rede von der Säkularisierung (als gäbe es nur die eine westliche Säkularisierung) hat sich mittlerweile zu einer Anklage gegen Migranten einerseits, Globalisierung andererseits zugespitzt: eine xenophobe (fremdenfeindliche) und anti-islamische westliche Perspektive, die auf Voraussetzungen beruht, die sich als falsch erwiesen haben. Die Behauptung, erst müsse sich der Islam säkularisieren, Religion und Staat trennen, bevor er demokratisch werden kann, wird am Parallelbeispiel des Katholizismus diskutiert und widerlegt. Der Widerspruch von Religion zu Demokratie ist nicht unüberbrückbar. Das Problem liegt vielmehr in der europäischen Meistererzählung von Aufklärung und Republikanismus/Demokratie, die Religionen die demokratische Wandlung nicht zutraut.

Casanova macht deutlich, dass viele Argumente bislang (und teils noch) sich gegen den Katholizismus richteten. Und in der anti-modernen Haltung des Katholizismus auch berechtigt waren. Mittlerweile hat sich aber in einer „dritten Welle der Demokratisierung“ das gewandelt, die gerade von katholischen Religionskulturen getragen wurde: gemeint ist das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) und seine Wirkungen, das Ende der katholischen Diktaturen in Spanien und Portugal, aber auch der kommunistischen Diktatur durch den polnischen Katholizismus usf. Das Auftreten der Christdemokratischen Parteien zeigt diesen Prozess. Wenn man aber diesen überraschend schnellen Umbruch anerkennen muss, kann man auch eine islamische Modernisierung und eine höhere Teilnahme der Menschen an der politischen Ordnung zubilligen. Die Türkei ist Casanovas Musterbeispiel, dass der Prozess dort weit vorangeschritten ist. Wenn als Nagelprobe dafür die freie Entfaltung und Gleichstellung der Frauen gilt, dann zeigt der katholisch-islamische Vergleich, dass katholisch die Minderbewertung von Frauen zusammengeht mit der Minderbeteiligung der Laien an der institutionellen Gestaltung der Religion durch die Kleriker. Wenn für den Islam das Kopftuch als Beweis gilt, ermöglichte in islamischen Ländern gerade die Verschleierung eine verschleierte Revolution, die den Frauen das Eindringen in (vorher Männern vorbehaltene) Bildung und Berufe erlaubte.

Die drei Vorträge mit knappen Anmerkungen dazu konzentrieren sich auf 1. Das Problem der Religion und die Ängste der säkularen europäischen Demokratien (7-30). 2. Religion, Politik und Geschlecht im Katholizismus und im Islam (31-84). 3. Westliche christliche Säkularisierung und Globalisierung (85-120). Ein kurzes Nachwort beschließt den Band. Die Aufteilung der Säkularisierungs- und Modernisierungsthese in drei Bereiche, die man wissenschaftlich untersuchen kann, hat Casanova in anderem Zusammenhang vorgestellt (Public religions in the modern world, 1994) , nämlich in 1. Niedergang der religiösen Praxis, 2. Rückzug aus der Öffentlichkeit in das Private, 3. Ausdifferenzierung der kulturellen Bereiche in autonome Sektoren. Alle drei Trends lassen sich widerlegen.

Die Reden setzen etwas Vorbildung voraus, sind vorzüglich in der Argumentation zu lesen, das historische Material knapp vorgestellt, Soziologische Untersuchungen nur in den Thesen angesprochen, also ein voraussetzungsreicher Text, der reizt zum genaueren Hinschauen. Sprachlich wünscht man sich mehr Deutsch.

Um nur wenige Beispiele zu nennen: Judaism ist deutsch Judentum, nicht Judaismus, osmanisch nicht ottomanisch, post-axial beruht auf der These Karl Jaspers von der Achsenszeit, richtig also achsenzeitlich. Im Deutschen ist das französische „Integralist“ nicht gebräuchlich, sondern Fundamentalist. – Typographisch halte ich die Kursive für misslungen.

Manchmal, das ein kleiner Einwand, ist westlich und christlich zu leicht identifiziert. Die ‚Religionisierung’ der politischen Diskussion problematisch und wird hier nicht genügend differenziert. Aber der Schluss macht deutlich, dass hier ein weiter Begriff von Christentum gemeint ist, wenn er im Westen „den Kult des Individuums“ und damit im Zusammenhang die Menschenrechte als zentrale Dimension herausarbeitet.

Das Buch ist sowohl für die wissenschaftliche wie auch für die politische Diskussion äußerst wichtig; wer mitreden will, wer Säkularisierung begreifen will, hat hier einen vorzüglichen Einstieg in die aktuellen Positionen. Unbedingt lesen!

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Christoph Auffarth
Prof. für Religionswissenschaft
Universität Bremen

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