Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche. Von Walter Burkert


Walter Burkert
Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche. (Die Religionen der Menschheit 15)
2., überarbeitete und erweiterte Auflage
Stuttgart: Kohlhammer 2010
Preis: EUR 85,00
ISBN 978-3-17-021312-8


Griechische Religion –
Der Klassiker von Walter Burkert neu aufgelegt

 

Walter Burkert feiert 2011 seinen 80. Geburtstag. Die drei letzten Bände seiner Kleinen Schriften, diejenigen zur Religion, werden von seinen Schülern herausgegeben er­scheinen[1] und er selbst macht ein großes Geschenk mit der Neuauflage seiner Griechischen Religion. Mit Begeisterung haben wir Altertumswissenschaftler die erste Auflage geradezu verschlungen. Was der gerade Vierzigjährige 1972 im Homo necans (der Mensch, der tötet) in seinen Interpretationen zum antiken Opfer und den dazu­gehörige Mythen vorgestellt hatte, das weitete er fünf Jahre später zu einer Gesamt­darstellung der griechischen Religion (vor dem Hellenismus). Was für ein Werk und was für eine Sprache! Burkert kennt nicht nur jedes Werk, jede Inschrift, bald jedes Bild der Antike, kann vieles davon auswendig. Er kennt auch die Nachbarkultu­ren und stellt Bezüge her zur ägyptischen wie zur babylonischen Kultur. Er erklärt die Welt vorstaatlicher Gesellschaften, wie sie sich Ordnungen geben durch Rituale und wie sie die Regeln in Mythen weitergeben. Er kennt die Forschungsliteratur in allen Sprachen, ob Spanisch, Italienisch, Französisch, Englisch oder Holländisch. Aber wie er die strenge und mühsame Forschung zu erzählen weiß, ganz ohne die Schwere langatmiger Aufzählungen, sondern immer sofort auf den Punkt gebracht in einer sensiblen Sprache, das macht seine Bücher so lesenswert.[2] Nach dem ersten atem­losen Durchlesen stand das Buch als Handbuch im Regal, immer und immer wieder benutzt für die Quellen und die Forschung. Burkerts Griechische Religion war ein großer Wurf.

Das Buch eröffnete eine ganze Kultur. Nicht nur die griechische ‚Klassik’, wie sie seit Winckel­mann, Schiller, Hölderlin dem deutschen Nationalcharakter geradezu ein Zwilling erschien, seit Nietzsche mit einer ambivalenten Sicht auf das Ideal, gewis­ser­maßen auch der Nachtseite, neben Apollon ist das Griechische auch im Dionysos.[3] Scharf wendet sich B. gegen die Linie von James George Frazer, der in allen Ritualen einen Versuch zur Verbesserung der Fruchtbar­keit sah. Burkert hatte die Nachtseite der Antike erkannt, aber nicht zum einzigen Schlüssel gemacht. Auf Jane Harrison, die englische Altertumswissenschaft­lerin und ihre Gruppe der Cambridge Ritualists bezieht sich Burkert gerne. Die Initiation, das Ritual wenn Jungens und Mädchen zu erwachsenen Mitgliedern der Gesellschaft werden, erkannte Burkert als den grund­legenden Vorgang, in dem die Gesellschaft, ihre Ordnung, ihre Werte, ihr dunkles Gegenbild aufführt im Ritual, im Mythos, im Wettkampf und im gemeinsamen Fest. Religion hat etwas mit Politik zu tun, mit dem Leben der Polis. Mit Generationen, Geschlechtern, sozialen Gruppen und Schichten. Nein, keine Religion, die eigentlich nur für Bauern und Hirten gedacht ist und sich nur mühsam und nie gelungen einstellt auf die Stadtkultur. Nein, griechische Religion ist politische Religion in dem Sinne, dass sie mit der Polis verwoben ist, aber sie geht nicht in ihr auf.

Die Griechen sind nicht mehr „das griechi­sche Wunder“, das plötzlich aus dem Nichts auftaucht in vollem Ideal. Die Griechen sind nicht einmalig, aber doch etwas Besonderes. Und griechische Religion ist nicht eine vielleicht phantasievolle, aber eigentlich doch unglaubliche Art der Weltsicht. All das macht B. sehr gut klar und verständlich.

Die erste Auflage hat Burkhard Gladigow in Göttingische Gelehrte Anzeigen 235 (1983), 1-16 besprochen und die enorme Bedeutung der damals neuen Darstellung heraus­gearbeitet. Die zweite Auflage hat in den Anmerkungen die neue Forschung nach­gewiesen, neben den wichtigsten neuen Monographien[4] besonders die seither (auch von Burkert mit) geschaffenen Quellen-Corpora aufgenommen (die vollständige Sammlung aller Quellen), vor allem der Bildquellen in den Lexika LIMC, nach mytho­logischen Figuren geordnet,[5] und ThesCRA, der alle Text- und Bildquellen zum Kult enthält.[6] Dass Der Neue Pauly dank Fritz Graf (der Meister-Schüler Burkerts) in den die Religion betreffenden Artikeln das international herausragende Lexikon geworden ist, sollte erwähnt sein. – Der Text ist in großen Teilen unverändert geblieben, übersichtlicher gesetzt, an manchen Stellen Unklares neu formuliert. Die wichtigsten neuen Textteile betreffen folgendes: In der Einleitung sind neue Entwicklungen der Forschung genannt (16 f). Etwas hatte ich erwartet, das hat B. aber nicht hervorgehoben: Die Erkenntnisse der Verhaltensforschung, life sciences, Hirnforschung hat Burkert verfolgt und mit der historischen Forschung verbunden wie kaum einer das kann.[7] Aber das betont er hier nicht. – In den Teilen zur Vor­geschichte verweist B. u.a. auf die Ausgrabungen von Catal Höyük und jetzt von Göbekli Tepe. Welche Bedeutung hat das kretische Anemospilio als „Tempel“ der minoischen Zeit? (56 f, vgl. aber 65) Die Zeit des Übergangs (das Sub-Mykenische) hat B. m.E. unterschätzt. Für Prozessionen die wichtige Arbeit von Tsochos 2002. Menschenopfer wird erweitert S. 65. Die neuen Texte aus Theben und Chania (75; 78). Olympia wird viel älter (85). Neu sind die Abschnitte zur Magie formuliert, 185-87. Die wichtige Inschrift von Selinus, 130. Zum Seelen-Konzept müssen die Arbeiten von Jan Bremmer genannt werden (1983; 2002). Die neuen Erkenntnisse zur Orphik sind knapp nachgetragen, hier sind die neuen Textausgaben wichtig:  435; 440-448.  Gerne hätte man manches, vor allem Methodisches ausführlicher dargestellt gesehen. Ja, man konnte auf den neuen Nilsson, das Handbuch der griechischen Religion hoffen. Das ist nun nicht geschehen. Aber das ändert nichts daran:

Das Buch bleibt ein großer Wurf. Gut, dass es – überarbeitet und auf den neuen Stand gebracht – wieder greifbar ist. Wer immer sich mit griechischer Religion beschäftigt, liest als Gesamtdarstellung und für die Einzelheiten diese grandiose Darstellung. Wermutstropfen: der Preis. Eine preiswerte Ausgabe muss her, damit alle Studenten dieses Buch lesen können und danach als Handbuch benutzen.

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[1] Band 4 und 5 hrsg. von Fritz Graf, Band 6 von Eveline Krummen, bei Vandenhoeck für den Geburts­tagsmonat Februar 2011 angekündigt. Weitere 860 Seiten zu den schon erschienenen rund 1400 Seiten der Kleinen Schriften in 8 Bänden, Göttingen 2001-2011.

[2] Burkert erhielt den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa
http://www.deutscheakademie.de/preise_freud.html , einer unter vielen Ehrungen und Preisen in verschiedenen Ländern der Welt.

[3] Die beste knappe Einführung (49 Seiten) Albert Henrichs: Die Götter Griechenlands. Bamberg 1987. Dazu dessen Aufsätze zu Dionysos (und Nietzsche). Für Religionswissenschaftler außerdem „ein Muss“ die Arbeiten von Hubert Cancik und Hildegard Cancik-Lindemaier zu Walter F. Otto, Die Götter Griechenlands 1929, zu Dionysos (1933) und zu Christentum und antiker Geist (1923).

[4] Das Literaturverzeichnis ist viel umfangreicher geworden, die Vornamen der AutorInnen sind jetzt ausgeschrieben, was die Suche sehr erleichtert.

[5] Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae, 1 (1981) – 8 (1997) jeweils in einem Textband und einem Tafelband; 2 Bände Indices (1999). Supplement 1/2 (2009). Damit sind praktisch alle Bildquellen im Foto zusammengestellt und im Katalog beschrieben.

[6] Thesaurus Cultus et Rituum Antiquitatis, 5 Bände (2005) und Index; 2 weitere Bände sind geplant.

[7] Gleichzeitig zur ersten Auflage schon hatte Burkert in den Sather Lectures Structure and History in Greek Mythology and Ritual (1979) bearbeitet; dann in den Gifford Lectures 1989: The Creation of the Sacred: Tracks of Biology in Early Religions Cambridge, MA: Harvard UP 2006; dt. als Kulte des Altertums. Biologische Grundlagen der Religion. München: Beck 1998, ²2009. Außer Burkert und in Aus­ein­­ander­setzung mit ihm Arbeiten von Burkhard Gladigow, Gerhard Baudy; Dorothee Baudy, der von Fritz Stolz hrsg. Band Homo naturaliter religiosus. Seither ist es stiller auf diesem Gebiet geworden.

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24. Februar 2011
Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen

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