Der Koran als Text der Spätantike. Von Angelika Neuwirth


Angelika Neuwirth
Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang
Berlin: Verlag der Weltreligionen 2010. 859 S.
39,90 Euro
ISBN 978-3-458-71032-5

 

Der Koran – als historisch-spätantiker Text
gelesen und erklärt

Kurz zusammengefasst:

Mit diesem Buch ist ein Fundament gelegt, das die bisweilen undurchschaubare Thesenlandschaft über den Koran und seine Entstehung ordnet, kritisch vorstellt und den Leser, die Leserin in herausragend guten Interpretationen in den fremden Text einführt. Der Koran erweist sich als ein neues Buch, das zugleich mit der jüdischen, christlichen und einer reichen arabischen Tradition verwoben ist, aber erst in Kommunikation mit den Gemeinden seine Gestalt findet – erstaunlich schnell. Man wird mitten in einen heißen Prozess von Wissenschaft mit genommen.
Hervorragend!

 

Im Einzelnen:

  1. Solche Bücher werden nur alle hundert Jahre geschrieben. Es ist nicht eine bloße Einführung, sondern bietet tiefgehende Interpretationen des Koran und seines Umfelds. Der Leser wird nicht mit Einleitungsfragen abgespeist, keine weitere Biographie des ‚Autors‘ Mohammed geboten. Die Autorin stellt vielmehr den Koran als ein Buch vor in seinen Entstehungsbedingungen, seinen Bezügen zu bestehender Literatur (den „Intertexten“), und was er Neues gewagt hat. Im Dialog gegenüber der Kritik und den Ansprüchen der angesprochenen Gemeinden formt sich der Text, wie auch durch den Gebrauch von einzelnen Texten und des Buches als Ganzem im Ritual der sich heraus­bildenden neuen Religion. Trotz des Umfangs dieses Bandes ist die Einführung im­mer spannend in Fragestellung, Darstellung des Befundes (Texte fast durchgehend Arabisch in Umschrift[1] und einer eigenen Übersetzung) und knapper, tiefgreifender Begründung. In dem nicht mehr überschaubaren Feld von schriftgläubigem Gebrauch, wissenschaftlicher Analyse, von ‚sensationellen Entdeckungen‘, von Umschreibung der ganzen Geschichte, dunklen Jahrzehnten zwischen dem Propheten und dem ersten Kanon hat Angelika Neuwirth all dies aufgegriffen und beherzt Stellung bezogen – ungewöhnlich deutlich für eine Wissenschaftlerin. Durchweg fair, aber klar und begründet in der Kritik.
  2. Das Buch ist Ernte eines Lebenswerks, das zugleich mitten in dem großen Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie erste Ergebnisse zeigt. Was andere geträumt, wird hier umgesetzt, das Corpus Coranicum.[2] Angelika Neuwirth ist Professorin für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin, hat viele Jahre und jährlich im Nahen Osten gelebt. In Berlin treffen sich im Wissenschaftskolleg die besten arabischen und iranischen Forscher. So entstand dort (neben Leiden in den NL) das wissenschaftliche Zentrum für die Erforschung des Islam. In dem Projekt Corpus Coranicum werden gesammelt (1) die Hand­schriften des Koran, unter ihnen die sensationelle Entdeckung von jenen im Jemen (S. 269), die die Überlieferung des Koran doch nicht völlig neu zu schreiben gebietet. Das wird der ‚kritische Apparat‘, der die Unterschiede der Überlieferung dokumentieren wird. (2) Die Texte, die bei der Entstehung des Islam bekannt waren, und mit denen sich der Koran auseinander setzt, hebräische (neben der hebräischen Bibel die Schriften der römischen Zeit und Rabbinische) Texte, christliche Schriften (NT und Kirchenväter), darunter die bislang wenig bekannten syro-aramäischen. Diese Texte aus der Umwelt nennt sie „Inter­texte“. (3) Ein literaturwissenschaftlicher Kommentar der Chronologie der Texte, Literar­kritik und Kommentar, bei dem die textimmanenten Bezüge innerhalb des Koran Gewicht haben. Dieser Kommentar (von Nicolai Sinai) soll in drei Bänden im Verlag der Weltreligionen erscheinen. Eine Übersetzung von Stefan Weidner ist in Arbeit, die die poetische Schönheit im Deutschen wiedergeben soll. Was nicht beabsichtigt ist: den Koran als Heilige Schrift für den heutigen religiösen Gebrauch zu bessern. „Ein europäischer Zugang“ bedeutet, den Koran in seiner historischen Umwelt zu erklären. Angelika Neuwirth hat hier eine neue Grundlage gelegt.

Die 13 Kapitel des Buches kann man in drei Teile teilen:

  1. Einleitung und Kapitel 1–4 behandeln Forschungs-, Text- und Schriftgeschichte. Die Einleitung (S. 13–67) entwickelt die Fragestellung. Wie ist das Verhältnis von „Empfang der Offenbarung“, mündlicher Überlieferung und der Schriftform? Hier wird schon eine überraschende These deutlich: AN löst die starre Abfolge mündlich-schriftlich-Buch auf in einen dialektischen Prozess. Propheten-Worte werden schon zu Leb­zeiten Mohammeds schriftlich festgehalten. Aber die entscheidende Über­lieferung geschieht durch „Rezitation“ (das bedeutet qur’an/Koran), d.h. „das neue Zentrum ist weder Prophet noch Buch, sondern Gemeinde“. Das hat bis heute Be­deutung. Das Schriftsystem des frühen Arabischen ist weniger eindeutig; es enthält keine Vokale. So können die gleichen Konsonantenfolgen verschieden gelesen werden. Andererseits ist die Rezitation weder auf schriftliche Notation angewiesen, noch ändert sie sich beliebig: Die Versform, besonders der Binnenreim der frühen Suren, ist eine Art „mündliche Schrift“. (Kapitel 1, Wie der Koran bisher gelesen wurde, S. 68–119; 2 Koran und Schrift, S. 120–181; 3 Koran und Geschichte, S. 182–234; 4 Redaktions- und Textgeschichte, S. 235–275).
  2. Der zweite Teil, Kapitel 5–9, behandelt, was bei einer Beobachtung des Textes an Unterschieden zu finden ist. Der Koran ist kein uniformierter Einheitstext, sondern beinhaltet nebeneinander gleichberechtigt gebrauchte Textformen (S. 262) und unterschied­liche Sprachen. Schon Theodor Nöldeke hatte die Textunterschiede gesehen (1860; die zweite Auflage der Geschichte des Qoran von Friedrich Schwally 1909) und eine Chronologie der Suren herausgearbeitet. Diese Unterscheidung in früh-mekkanische, spät-mekkanische und medinensische Suren wird verfeinert. Sie bildet die Grund­lage für die textimmanente Untersuchung. (Kapitel 5 Surenstruk­turen, S. 276–332; 6 Der liturgische Koran, S. 332–393; 7 Stationen der Gemeinde­bildung in früh-mekkanischer Zeit, 8 … in mittelmekkanischer Zeit; 9 … in Medina, S. 394–560).
  3. Der dritte Teil, Kapitel 10–13, handelt vom Koran als Literatur. Das ist zum einen, was man als Traditionsgeschichte bezeichnet. AN beschreibt aber anders – als das meist geschieht –, was der Koran ‚übernommen‘ hat aus der jüdischen und christ­lichen Tradition. Hier geht es um die Auseinandersetzung mit den Traditionen; der Prozess ist dialektisch, „auf Augenhöhe“, nicht als schwächlicher Erbe (Epigone)! (568) Die wichtigsten Texte, mit denen der Koran sich auseinandersetzt, sind die Psalmen, also liturgische Texte des Judentums, die auch im Christentum verwendet wurden. Einer der Höhepunkte des Buches ist der Vergleich zwischen Psalm 104 und Sure 78 (S. 744–752). Dann sind unbedingt die Interpretationen zu lesen, wie Adam, Noah, Abraham, Josef, Mose und Maria/Jesus einerseits eine Vorgeschichte haben mit einer bestimmten Botschaft, im Koran nun aber neu auseinander- und neu ein-gesetzt werden (Kapitel 10 Koran und Bibel, S. 561–612; 11 Biblisch-koranische Figuren, S. 613–617; 12 Koran und Poesie, S. 672–722; 13 Der rhetorische Koran, S. 723–768).
  4. Das Buch ist sehr gut ausgestattet. Schon das Äußere: ein Leinenband mit Faden­heftung, zum Glück, denn das Buch wird man immer wieder aufschlagen. Indices helfen das Buch zu erschließen. Zwei Dinge sollten bei der sicher folgenden zweiten Auflage verbessert werden: Wenn jemand Maria (200 f; wichtig 591 f; 742) oder Abraham sucht, ist das nicht über den Index zu finden. Das andere ist gravierender. Es fehlt ein Glossar für die vielen Begriffe, die man auch in guten Lexika nicht findet textus ne varietur, persuasio, veritativ, calque. Für jemand, der sich mit Bibelwissen­schaft beschäftigt hat, ist die Argumentation ein Genuss, aber sie fordert viel von Ungeübten.
  5. Das Buch von Angelika Neuwirth ist großartig. Es stellt nicht nur die Wissenschaft vom Koran auf eine neue Grundlage und neue Stufe. Es bezeugt glänzende Kenntnis von der alttestamentlichen Bibelwissenschaft und der spätantiken Theologie­geschich­te, jüdisch wie christlich. Das Buch ist nicht nur für den Koran von Bedeu­tung, sondern auch für die Bibelwissenschaft der Hebräischen Bibel mit der rabbini­schen Auslegung und der christlichen Tradition. An Stelle von Traditionsgeschichte und Abhängigkeit eröffnet es die Perspektive kon­struktiver Auseinandersetzung, Neubildung gegen die Tradition. Damit ist das Buch nicht nur grundlegend für die Koran- sondern auch für die Bibelwissenschaft. Das Buch ist Pflichtlektüre für wer auch immer antike Texte, heilige oder nicht, ver­stehen will. Wenn die Bibelwissen­schaftler diese kreative Weiterentwicklung aufnehmen werden, wird das auch ihre Wissenschaft voran bringen.

Der Koran hat zwei Gesichter. Einmal heilige Schrift, „Gründungstext der islami­schen Religion“. Dann aber kann, darf man ihn auch lesen als „einen an der Heraus­bildung des späteren Europa beteiligten orientalisch-europäischen Text“ (67).[3]

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[1] Wie in der Reihe üblich, nicht die wissenschaftliche Umschrift der DMG, sondern die in der englisch-sprachigen Welt übliche, an die man sich gewöhnen muss.

[2] Das Forschungsunternehmen ist vorgestellt (und die Ergebnisse sollen auch zugänglich gemacht werden auf der Internetseite) unter http://www.bbaw.de/bbaw/Forschung/Forschungsprojekte/Coran/de/Startseite

[3] Ein Interview mit AN http://www.welt.de/kultur/history/article10948791/Mose-wird-das-grosse-Vorbild-fuer-Mohammed.html?wtmc=plista

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01.03.2011
Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen

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