Otfried Höffe (Hrsg.)
Immanuel Kant:
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
(Klassiker Auslegen 41)
Berlin: Akademie 2010.
[294 S., ISBN 978‐3‐05‐004682‐2]
Das Reich Gottes aufbauen – Kants Religionsschrift
1793 veröffentlichte Immanuel Kant, als fast Siebzigjähriger, seine Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Nachdem er spät erst mit seinen drei ‚Kritiken‘[1] berühmt geworden war, folgte hier eine vierte Schrift. Mit dieser Schrift
- setzte Kant sein Lebenswerk konsequent fort;
- mischte er sich in eine Debatte ein, die die Aufklärer unter den Theologen, Politologen, Psychologen (um heutige Wissenschaften zu nennen) führten, und gab dieser Debatte eine bedeutende Wendung;
- forderte er – sich seiner provokativen Argumente wohl bewusst – den preußischen König und die Zensur heraus.
Dieser Baustein gehört in sein Lebenswerk. Einem Brief an einen Kollegen zufolge, in dem er zusammenfasst und plant, was er schon geleistet und was er noch schreiben muss, galten die vier Schriften der „Auflösung der drei Aufgaben: (1) was kann ich wissen? (Metaphysik) (2) Was soll ich tun (Moral) (3) was dürfen wir hoffen? (Religion), welcher zuletzt die vierte folgen sollte: Was ist der Mensch? (Anthropologie) […] Mit der beikommenden Schrift Religion innerhalb den Grenzen etc. habe ich die dritte Abteilung meines Plans zu vollführen gesucht.“[2] Es folgten die Arbeiten 1794: Das Ende aller Dinge; 1795: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf; 1797: Die Metaphysik der Sitten; 1798: Streit der Fakultäten; 1798: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht.[3]
Die anhaltende Debatte, ob und inwieweit man für die Begründung moralischen Handelns – und die Sanktionierung schädigenden Verhaltens – Gebote aus der metaphysischen Welt in Form der schriftlich niedergelegten Offenbarung braucht oder ob sie im Menschen angelegt sind – „der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“[4]: Dieses Problem, vom Kant-Protagonisten Karl Leonhard Reinhold schon 1785 programmatisch aufgeworfen, mündete schließlich im Atheismusstreit um Jacobi und Fichte 1798/99. Einen bösen Buben für den Skandal hat man bislang im Religionsedikt des für Kant zuständigen preußischen Staatsrats Johann Christoph Woellner benannt. In ihrem Vorwort zu der Ausgabe der Religionsschrift hat Bettina Stangneth diesen hartnäckigen Mythos zurecht gerückt:[5] Woellners Edikt ist im Vegleich zu den zeitgenössischen Zensurerlassen sogar recht liberal und er lässt das Gutachten von Fachkollegen schreiben. Was Kants Schrift zum Ärgernis machte, ist zweierlei: Zum einen hat der König Friedrich Wilhelm II. über die Zensurbehörde Woellners eine Oberzensur gesetzt, der nur drei Personen angehörten, darunter der pietistisch-rigide König selbst. Zum andern aber hat Kant selbst den Skandal losgetreten. Denn er hatte schon die Zustimmung (der Universität Jena) zum Druck des Buches. Er nahm aber ein Kapitel heraus und beantragte die Veröffentlichung in einer Zeitschrift. Dazu bedurfte es der Erlaubnis der preußischen Zensur. Und die verbot den Druck. – Das Vorwort von Stangneth ist sehr lesenswert und bestimmt den Ort des Buches in der Religionsgeschichte der Spätaufklärung.
Der Band der Reihe „Klassiker auslegen“, den Otfried Höffe mit Philosophen und Theologen dem Buch Kants gewidmet hat, geht – wie bewährt – nach den Kapiteln des Buches vor. Das bedeutet aber, dass die Kontexte der Debatte öfter aus dem Blick kommen. Enttäuschend, dass Eberhard Jüngel ‚zum Titel‘ diesen nicht zum Anlass nimmt, über die fundamentale Änderung des Kollektivsingulars Religion aufzuklären.[6] Christoph Horn und Maximilian Forschner tragen zwei kontroverse Deutungen vor zur These Kants, dass der Mensch einen Hang zum Bösen habe: Horn versteht „Revolution der Denkungsart und Reform der Sinnesart“ als den erfolgreichen ersten Vorgriff auf die vollständige Revolution (61). Bei Kant, Religionschrift S. 121,17ff liest sich:
In dem Princip der reinen Vernunftreligion, als einer an alle Menschen beständig geschehenden göttlichen (obzwar nicht empirischen) Offenbarung, muß der Grund zu jenem Überschritt zu jener neuen Ordnung der Dinge liegen, welcher, einmal aus reifer Überlegung gefaßt, durch allmählig fortgehende Reform zur Ausführung gebracht wird, so fern sie ein menschliches Werk sein soll; denn was Revolutionen betrifft, die diesen Fortschritt abkürzen können, so bleiben sie der Vorsehung überlassen und lassen sich nicht planmäßig der Freiheit unbeschadet einleiten.
Äußere Revolutionen vermögen das nicht, sagt er wohl mit Blick auf die Französische Revolution im Jahr des terreur. Schade, dass Forschner nicht direkt darauf antwortet, sondern seine alte These wieder aufwärmt! – Es folgen zum ‚Zweiten Stück‘ in Kants Schrift „Vom Kampf des guten Prinzips, mit dem bösen, um die Herrschaft über den Menschen“ drei Texterklärungen (Johannes Bojanowski, Andrew Chignell, Allen Wood) mit dem Thema: Das radikal Böse, obwohl nicht als Objekt sichtbar, und der offenbar nicht allmächtige Gott als der moralische Gottesbegriff im dauernden Konflikt. – Im ‚dritten Stück‘ verbindet Kant den Sieg des guten Prinzips mit dem Bau des Reiches Gottes. Dabei unterscheidet er den Kirchenglauben vom Religionsglauben. Freilich bilden sie nicht Gegensätze, sondern auf dem vernünftigen Kirchenglauben kann der Religionsglaube aufbauen als Annäherung an das Reich Gottes. Und das ist das Ziel der ‚allmähligen Reform‘, die durch eine Revolution abgekürzt werden kann. Dem programmatisch positiven Teil folgt noch im ‚vierten Stück‘ eine Auseinandersetzung mit den historisch bekannten Religionen unter den zwei Möglichkeiten von Gottesdienst und Afterdienst. Religionswahn verhindert das Verständnis des Christentums als einer natürlichen Religion. Negativbeispiel ist das Judentum. Dazu die Aufsätze von Johannes Brachtendorf, Friedo Ricken, Katrin Flikschuh und Burkhard Nonnenmacher. Letztlich lässt sich die Religion nur in uns und nicht außer uns finden. Otfried Höffe gibt einen Ausblick auf Kants Schrift vom Streit der Fakultäten, die den wissenschaftlichen Ort von Theologie und Philosophie bestimmt und damit die Religionsschrift weiterführt. Reza Mozayebi klärt, wie weit eine Vernunftreligion im Sinne Kants definiert werden kann, und Douglas McGaughey stellt die theologischen Aufklärer (Neologen) vor. Auch hier wird wieder deutlich, dass das Feld der Aufklärungstheologie wenig erforscht ist, zudem das wenige nicht wirklich aufgegriffen wird: Emanuel Hirschs Geschichte der neueren Theologie ist zwar ein Fundament, aber die neuen Erkenntnisse über zentrale Figuren wie Spalding und Semler, oder welchen Beitrag der Pietismus in die Aufklärung gebracht hat, sind in dem Buch nicht zu finden.[7]
Die Religionsgeschichte der Spätaufklärung diskutiert nicht Probleme der Scholastik oder des katholischen Barock (Tridentinum). Wie Kant die Vorstellung vom ‚Reich Gottes‘ – anstelle des lutherischen Himmelreiches – von Calvinisten und Pietisten aufgreift und entwickelt, ist hier nicht erkennbar als eine Debatte. ‚Das Reich Gottes‘ bedarf einer fundamentalen Gesinnungsreform, entwickelt sich allmählich sowohl in uns als auch als besondere Sozialform außer uns in einer objektiven republikanischen Vereinigung der zur Vollkommenheit willigen und erwählten Menschen.[8] Die langsame Entwicklung kann durch eine Revolution abgekürzt werden. Die Debatte müsste mindestens bis Johannes Weiß‘ Widerspruch gegen Kant dargestellt werden, dass das Reich Gottes sich nicht entwickle, sondern apokalyptisch in diese Welt einbricht: Dein Reich komme! Nicht: Dein Reich entwickle sich! sei die Predigt Jesu.[9] Für eine Europäische Religionsgeschichte habe ich aus dem Vorwort zur Ausgabe von Bettina Stangneth am meisten gelernt; in Höffes Aufsatzsammlung war die Provokation von Christoph Horn am interessantesten, religionsgeschichtlich der Beitrag von Brachtendorf (allerdings ohne genauere Kenntnis der zeitgenössischen Debatten).
Das Thema des Reiches Gottes als innerweltliche Eschatologie, aus dem eine vernünftige demokratische Ordnung hervorgeht, ohne doch die Geheimnisse der Religion (Kant, Religionsschrift S. B 207–222) aufzugeben, ist ein Forschungsdesiderat.
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[1] Kritik der reinen Vernunft, 1781. Kritik der praktischen Vernunft, 1788. Kritik der Urteilskraft. 1790.
[2] Brief Kants an Stäudlin vom 4. Mai 1793 – kurz nach Erscheinen der Religion. Innerhalb den Grenzen ist Kants Formulierung.
[3] Die nackten, unkommentierten Texte sind im Internet vorbildlich aufbereitet nach der Akademie-Ausgabe AA, die für jede Beschäftigung mit Kant die Zitier-Grundlage bildet (Zugang über http://www.korpora.org/kant/suche.html ).
[4] Kritik der praktischen Vernunft, AA, Band 5, 161.
[5] Bettina Stangneth: „Kants schädliche Schriften“ Eine Einleitung. Zu: Immanuel Kant: Die Religion … (PhB 545) Hamburg: Meiner 2003. ix-lxxxv.
[6] Fundamental Ernst Feil: Religio. Bd. 4: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 18. und 19. Jahrhundert. (FKD 91) Göttingen 2007: die gesamte Debatte S. 688–878, Kants Position S. 689–720.
[7] Das Handbuch von Albrecht Beutel sehe ich nirgends erwähnt: Aufklärung in Deutschland. (=Die Kirche in ihrer Geschichte 4, Lfg. O) Göttingen 2006; daraus hervorgegangen Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009. Oder die Arbeiten von Walter Sparn.
[8] ‚Prädestination‘ kommt in Kants Text nicht vor; hat Brachtendorf 167-172 ihn zu Recht eingebracht?
[9] Johannes Weiß: Jesu Predigt vom Reich Gottes. Göttingen 1892; ²1900.
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20.11.2011
Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen