Das Ende des Opferkults: Die religiösen Mutationen der Spätantike. Von Guy G. Stroumsa

Guy G. Stroumsa
Das Ende des Opferkults:
Die religiösen Mutationen der Spätantike.
(La fin du sacrifice. Les mutations religieuses de l’antiquite tardive)

Berlin: Verlag der Weltreligionen 2011.
[208 S.; ISBN 978-3-458-71036-3 gebunden 29.00 €.]

 

Das Ende des Opfers – eine jüdische Perspektive

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Zusammenfassend

Stroumsa argumentiert in diesem schlanken Buch, dass jüdische Konzepte von Religion die Religionsgeschichte der Spätantike vorangetrieben haben. Das (erzwungene) Ende des Opfer­kultes wird zur Triebkraft für eine fundamentale Veränderung der Religion, ihrer Rituale, des Gottesbildes, das/eines Gottes, der sich als geschriebenes Wort mitteilt, der Gemeinde, der Intellektualisierung. Und damit, so die These, eilt das Judentum den anderen Religionen vor­aus, die sich ähnlich entwickeln. Nicht der Sieg des Christentums, sondern die Neu-Konzep­tion von Religion durch Juden ist das Entscheidende an dem großen Wendepunkt von der Antike nach Europa.


Ausführlicher

Die meisten Arbeiten zur Religionsgeschichte der Spätantike beschreiben diesen Vor­gang als Religionswechsel. Der Sieg des Christentums ist der Untergang der klassi­schen Religion(en). Das Judentum wird dabei kaum berücksichtigt. Im älteren, prote­stan­tisch geprägten Ge­schichts­­bild (v.a. bei Julius Wellhausen und Adolf Harnack) sei das Judentum bereits unterge­gangen, als der Tempel von Jerusalem im Jahre 70 von den Römern zerstört wurde. Der zentrale und einzige Tempel ist vernichtet, der Opferkult damit unmöglich. Doch damit endet die Religion der Juden nicht, viel­mehr ist die Katastrophe des Tempels die Herausforderung, die Religion neu zu denken, neue Kultzentren einzurichten, Rituale ohne Opfer zu gestalten.

Guy Stroumsa[1] hat diese Metamorphose der Religion der Spätantike[2] mit der Hervorhebung einer jüdischen Perspektive beschrieben. Das Ende des Opfers ist ein äußerer Zwang, der bereits eingeleitete Veränderungen nur verstärkt. GS[3] arbeitet folgende Kennzeichen des neuen Konzepts von Religion heraus:

  • Die Sorge um sich »souci de soi«: zentrale Konzepte der christlichen Religion wie die leibliche Auferstehung von den Toten und die Menschwerdung Gottes erweisen sich als Wei­terentwicklung jüdischer Vorstellungen. Der christliche Heilige erweist sich als neuer Typ, der sich kontrastierend abarbeitet an den jüdischen Männern Gottes wie dem Weisen, dem Propheten, an den Frommen (Chassidim) und den ‚Abgesonderten‘, griech. Pharisäer (von hebr. peruschim).
  • Dazu kommt die zentrale Bedeutung der “Schrift” in der Religion. Die Botschaft Gottes an die Menschen ist abgeschlossen, und als Heilige Schrift kann sie nur hermeneutisch erschlossen werden für die jeweilige Gegenwart. Das neue Medium des codex (das geheftete Buch mit Seiten zum Blättern anstelle der Rollen) ermöglicht zudem das leise Lesen.
  • Mit dem neuen Medium ändern sich auch die Rituale, weil das blutige Opfer zu dem unsichtbaren Gott, der als geschriebenes Wort präsent ist, keinen Sinn macht. Gebet, Fasten und Almosen ersetzen es also.
  • Dazu kommt eine neue Form der Öffentlichkeit. Das Ritual des blutigen Opfers ver­langte eine gewisse Ge­meinsamkeit, besonders gilt das für das Opfer im Jerusalemer Tempel. Die neuen Rituale dagegen kann man allein oder in einer geschlossenen Gesellschaft feiern, der religiösen Gemeinde. An die Stelle der Bürger-Religion, religion civile, tritt die Gruppen­religion, religion communitaire, mir einem geschlossenen, begrenzten Publikum.

GS’ Buch hat zu Recht einen blinden Fleck im Geschichtsbild der Wissenschaft aufgedeckt. Die Entwicklung des Judentums nicht nur zu berücksichtigen, sondern als treibende Kraft der Veränderung der Religion der Spätantike zu begreifen, das ist hier als eine neue Perspektive dargestellt. Wichtig und großartig! Als vergleichender Religionswissenschaftler kennt GS synchrone Ent­wicklungen in den  religiösen Traditionen. ‚Religiöse Traditionen’ verwende ich hier, nicht ‚Religionen‘, weil die Spätantike viele gemeinsame Entwicklungen durchlief, aber innerhalb der ‚gleichen‘ Religion oft sehr verschieden, im gleichen sozialen, geographi­schen, intellektuellen Milieu dagegen in den verschiedenen Religionen sehr ähnlich. Aber die These ist erst ein Anstoß, der tiefer gehen müsste, wenn er als Religionsgeschichte gelten soll. So be­schreibt GS vor allem einen Zug, die Intellektualisierung der Religion mit der Figur des Rabbi als Typ des religiösen Menschen. Aber das Ende des Opfers geht quer durch alle Reli­gi­onen, einschließlich der klassischen Kulte, auch ohne den Zwang eines zerstörten Tempels. Dazu gehören – neben der Intellektualisierung und der Bildung – die Religion in der Familie, die Metaphorisierung der Opferrituale und gleich­zeitig das Schaffen neuer Rituale.[4] Dem tiefer nachzuforschen wird sich lohnen.

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[1] Im Folgenden kürze ich den Namen durch die Initialen GS ab. Guy Stroumsa ist emeritierter Professor der Martin-Buber-Professur für vergleichende Religionsgeschichte an der Hebrew University in Jerusalem und seit 2009 Professor for the Study of  the Abrahamic Religions an der Universität Oxford.

[2] Der Begriff ist hier sehr gedehnt. Meist unterscheiden die Historiker zwischen die Zeit nach der Republik – Wendepunkt die Schlacht von Aktium, in der 31 v.Chr. (der später so genannte) Augustus seinen Gegner Anto­nius besiegte – in frühe, mittlere und späte Kaiserzeit. Die Spätantike lässt man meist erst mit 391 (das Christen­tum wird Staatsreligion), 410 (Rom wird von den ersten Germanenvölkern eingenommen) oder 493 (Theoderich wird Kaiser) beginnen. Religionsgeschichtlich besteht die Tendenz, mit der römischen Kaiserzeit auch eine Epoche einsetzen zu lassen, die Religion fundamental veränderte. Glen Bowersock nannte sie Hellenism, viel­fach wird aber schon von Spätantike gesprochen. Franz  Georg Maier sprach von der ‚Verwandlung der Mittel­meerwelt‘.

[3] In vier Vorlesungen, gehalten am Collège de France 2004, auf Einladung von John Scheid.

[4] In einem Aufsatz habe ich gezeigt, dass auch  im Christentum einige der Opferformen weiter ausgeübt wurden – mit Ausnahme des blutigen Opfers: Teure Ideologie – billige Praxis: Die ‚kleinen’ Opfer in der römischen Kaiserzeit. In: Evtychia Stavrianopoulou; Axel Michaels; Claus Ambos (Hrsg.): Transformations in Sacrificial Practices. From Antiquity to Modern Times. Proceedings of an International Colloquium [SFB 619 Ritual­dyna­mik] Heidelberg 12-14 July 2006. (Performanzen 15) Münster: LIT 2008, 147-170.

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30.12.2011
Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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