Petra Ney-Hellmuth:
Der Fall Anneliese Michel. Kirche, Justiz, Presse.
Würzburg: Königshausen & Neumann 2014
[302 S. ISBN: 978-3-8260-5230-9]
€ 29,80
Die beängstigende Moderne mit einem alten Ritual bekämpfen
Kurz: Während Monika Scala in einem umfangreichen Buch zum Exorzismus ihren Schwerpunkt auf liturgiewissenschaftliche Fragen legte, also auf das Wie,[1] geht Petra Ney-Hellmuth[2] in ihrer geschichtswissenschaftliche Dissertation dem Fall Anneliese Michel im genauen Verlauf nach und ordnet ihn ein in den zeitgeschichtlichen Kontext.
Ausführlicher: Am 1. Juli 1976 starb eine junge Frau, nachdem monatelang zwei Priester den Exorzismus über ihr gesprochen hatten. Sie war völlig abgemagert und hatte sich selbst gefoltert. Der Exorzismus von Klingenberg, einem Dorf in der Diözese Würzburg, führte zu einer langen öffentlichen Diskussion, zu einem in den Medien ausführlich berichteten Prozess und schließlich zur Verurteilung der Eltern und der Priester wegen fahrlässiger Tötung. Zum „Fall Anneliese Michel“ gibt es den einfühlsamen Film „Requiem“,[3] die Forschungen einer amerikanischen Ethnologin Felicitas Goodman (1987) und zahlreiche Bücher von Exorzisten wie Exorzismusgegnern, Katholizismus- und Religionskritikern. Die Front scheint klar: Moderne Wissenschaft gegen ein traditionalistisches Ritual antiker Weltsicht, das durch die katholische Kirche weiter verbreitet wird. PNH hat für ihre geschichtswissenschaftliche Dissertation neben der reichen parteilichen Literatur an neuen Quellen die polizeilichen Untersuchungsakten, die Gerichtsakten und die Diözesanakten ausgewertet. Das Ergebnis eröffnet aber eine Konfliktlinie, die eine traditionalistische (fundamentalistische) Minderheit innerhalb der katholischen Kirche gegen die Mehrheit kämpfen sieht, die mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil konsequent eine andere Tradition hervorhebt, die nicht weniger biblisch auf die Herausforderungen der Moderne reagiert (Aggiornamento). Im Interesse der Traditionalisten (Lefebvre, der Pius-Bruderschaft) liegt der Beweis, dass der Teufel eine Realität ist. In diesem Sinne ist Anneliese Michel eine Märtyrerin; sie beweist den Teufel und die Dämonen gegen die ‚modernen‘ Katholiken. Die Traditionalisten (miss)brauchen sie für diesen Beweis; sie nimmt den Auftrag an.
Der Vater hatte der jungen 23-jährigen Frau, die durch selbstauferlegtes Fasten und körperliche Anstrengungen wie selbstzugefügte Qualen mittlerweile auf 31 Kilo bei einer Körpergröße von 1,67 m abgemagert war, nicht den Hausarzt gerufen, weil ihm die Exorzisten versichert hatten, „dass die Dämonen oder der Teufel noch nie einen Besessenen umgebracht hätten. Sie dürften nur foltern, aber nicht töten.“ (50)[4] Die junge Frau selbst nahm eine Rolle an, die die Exorzisten ihr zuwiesen. Wie ein katholischer Religionspsychologe urteilt: „Ein unklug angewandter Exorzismus kann nämlich eine psychisch gestörte Person in eine Rolle hineinzwängen, die den landläufigen Zügen des Teufels und der Besessenheit gerecht wird.“ (214) Die Eltern beantragen die Exhumierung, weil ein nicht verwester Leichnam das Wunder Gottes beweisen würde (63-65).
Angewandt wurde das (auf die Reformation antwortende) Exorzismusritual, das 1614 als Rituale Romanum veröffentlicht wurde.[5] Es bezieht sich auf den Exorzismus, den Jesus und seine Apostel ausübten – in einer antiken Weltsicht, die bestimmte Krankheiten darauf zurück führen, dass sich Dämonen in einen Menschen hinein setzen. Gegen die geradezu zentrale Bedeutung des Teufelsglaubens für die vom Papst nicht mehr gestützte Minderheit des antimodernen Katholizismus stellten sich die Bischöfe, die Würzburger Synode und vor allem die Universitätstheologie. Der ‚moderne‘ Bibelwissenschaftler Herbert Haag schrieb drei Bücher gegen den Teufelsglauben in der Debatte um den Exorzismus, andere betonten die mythische Qualität der Hölle. Anstelle der „Drohbotschaft“ sollte die Kirche die „Frohbotschaft“ verkündigen.[6]
Mit ihrer Dissertation hält sich PNH von medizinischen, psychologischen, religiösen Beurteilungen fern; sie beschreibt stattdessen die Reaktionen in den Medien und – da diese im Zuge der Achtundsechziger mehrheitlich am Fall Michel Rituale, Kirche oder Religion überhaupt in Frage stellen – auch die privaten Zuschriften an den zuständigen Bischof und stellt sie in den Kontext der scharfen Kämpfe um die Modernisierung der katholischen Kirche, wie sie das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) bedacht, begründet und beschlossen hatte. PNH ist ein großer Fortschritt in der Beurteilung des schrecklichen Todes einer jungen Frau gelungen.
- August 2014 Christoph Auffarth,
Religionswissenschaft,
Universität Bremen
[1] Dazu meine Rezension auf der gleichen Internetseite: Christoph Auffarth: Exorzismus – nach der Aufklärung. Monika Scala: Der Exorzismus in der Katholischen Kirche. Ein liturgisches Ritual zwischen Film, Mythos und Realität. 2009 http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2013/06/02/monika-scala-der-exorzismus-in-der-katholischen-kirche/
[2] Der Kürze halber im Folgenden mit den Initialen benannt PNH.
[3] Requiem 2006, Regie Hans-Christian Schmid.
[4] „Dürfen“ benennt den Freiraum, den Gott den Dämonen gewährt.
[5] Eine Überarbeitung erfolgte unter Berücksichtigung der Maßgaben des Zweiten Vatikanischen Konzils De exorcismis et supplicationibus quibusdam. Vatikan 1999: Seelsorge und Medizin müssten bei der Behandlung gleichermaßen berücksichtigt werden.
[6] Frohbotschaft als deutsche Übersetzung für Evangelium. Der Würzburger Bischof Josef Stangl wendet sich gegen „Drohbotschaft“, als er etwa sechs Wochen nach Anneliese Michels Tod eine Stellungnahme abgab (Zitiert S. 76).