Amirpur: Der schiitische Islam

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Katajun Amirpur: Der schiitische Islam.

(Reclams Universal-Bibliothek 19 315)

Ditzingen: Reclam, 2015. 254 Seiten.

ISBN 978-3-15-019315-0

7,60€

Eine intime Kennerin stellt den kaum bekannten
schiitischen Islam vor

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Über den Islam gibt es mittlerweile zahlreiche Einführungen, in denen die Schiiten nur eines kurzen Kapitels gewürdigt werden. Katajun Amirpur füllt diese Lücke: Woher kommt die erbitterte Feindschaft zwischen Sunniten und Schiiten?

Im Einzelnen: Katajun Amirpur, Professorin für Islamische Studien an der Universität Hamburg, schreibt eine ebenso knappe wie dichte Einführung zu einer der viel genannten, aber wenig bekannten Spaltung im Islam, über die Schiiten.[1] Als im September 2015 während der Wallfahrt (Hadsch) nach Mekka 270 Pilger in einer Massenpanik erdrückt und zertrampelt wurden, erhoben sofort schiitische (iranische) Geistliche den Vorwurf, dass die Behörden im sunnitischen Saudi-Arabien aus mangelnder Sorgfalt die Pilger in den Tod stürzen ließen. Der alte Hass zwischen den Schiiten und den Sunniten, viele Vorfälle, aus denen die Feindschaft hervorgeht, kommen in Erinnerung: Wenn Schiiten die Wallfahrt unternehmen ins sunnitische Mekka, wenn im Irak die schiitisch dominierte Regierung die Rechte der Sunniten einschränkt und als Rache dafür an den großen Festtagen der Schiiten einfache Gläubige durch Attentate getötet werden. Woher kommt der Hass?

KA gibt umfassende Erklärungen. Sonst bekommt man meist nur die Geschichte von der Spaltung des Islam in der Generation nach Mohammed erzählt, als die zwei Modelle der Nachfolge zum Tragen kamen: (1) der Gründer der Religion hat einen Verwandten, der die Nachfolge beanspruchen kann (das dynastische Modell); (2) dazu in Konkurrenz das Einsetzungsmodell: der Gründer wählt einen seiner Freunde und Schüler aus, der die Gemeinschaft führen soll. In der Nachfolge Jesu ist das (1) Bruder Jesu Jakobus (der Herrenbruder), der die Gemeinde in Jerusalem und damit die jüdische Jesusbewegung führt; Petrus hingegen als eingesetzter Nachfolger besitzt zunächst wenig Autorität, seine Nachfolger in Rom beanspruchen später die Führung sämtlicher Christengemeinden. Im Islam glaubt Abu Bakr, er sei zum (1) Stellvertreter Khalifa Kalifen eingesetzt; der (2) Schwiegersohn Ali beansprucht ebenfalls die Nachfolge. Die ‚Partei‘ (arabisch: schica) Alis verliert und wandert aus. Die Entstehung und Geschichte schildert KA im ersten Kapitel (13-47). Dort ist die entscheidende Schlacht von Kerbela (heutiges Syrien) im Oktober 680 beschrieben. Der Nachfolger der Ali-Partei Hussain lässt sich die Provokationen des Kalifen, jetzt als Umayaden (Omajaden) in Damaskus residierend, nicht mehr gefallen. Er erwartet die Unterstützung der Muslime in Mesopotamien (heute Irak). Doch der Kalif holt Hussain in der Wüste ein und lässt ihn und sein Heer verdursten und schlachtet die ganze Familie ab – nur ein Kleinkind entkommt; die Einwohner von Kerbela wagen es nicht, ihrem Helden zu Hilfe zu kommen. Danach folgt eine lange Periode, in der die Schiiten unter fremder Herrschaft leiden und sich einrichten. Viele Besonderheiten und Einstellungen erklären sich aus dieser Periode.

Neben der Entstehung tragen andere Gründe bei zu dem gegenwärtigen Konflikt. Einer liegt in der Differenz der Sprache und Nationenbildung. Die meisten Schiiten leben im Iran und sprechen das indogermanische Persisch, nicht das semitische Arabisch. Sie haben eine eigene Herrschaft etabliert. Wie Staat und Religion zueinander stehen im Nationalstaat Iran/ Persien seit dem 19. Jahrhundert, bildet den Gegenstand des größten Teils des Buches (126-211) mit einer umfassenden Darstellung der Programme für die verfassungsbeschränkte Monarchie und die sog. Theokratie, wie sie 1979 mit Ayatollah Chomeini siegte und den verhassten Schah vertrieb. Statt westliche Modelle zu übernehmen, stellt die islamische Revolution ein Modell dar für eine Alternative. Was der „Islamische Staat“ daraus macht, widerspricht dem Anliegen, ist aber nicht ohne dieses Vorbild (und Unterstützung?) denkbar. Hier erwartet der Leser eine Aufklärung. Auch die arabisch sprechenden Schiiten im Irak und die Hizbollah im Libanon und Palästina kommen am Ende auch gebührend vor (212-247). Das Verhältnis zu den anderen Religionen erklärt KA an den Juden – hier wird deutlich, dass der fanatische Antisemitismus des Präsidenten Ahmadinedschad ein extremer Ausreißer darstellt. Bedeutsam die Geschichte der (Verfolgung der) Baha’i.

Die Geschichte bleibt nicht Geschichte: Jedes Jahr zur Zeit der Niederlage am 10. Muharam (Aschura) feiern die Schiiten die Trauer, die umschlägt in den Aufruf zur Rache. Damals haben sie ihrem Imam nicht geholfen, das wird sich umkehren: Nie wieder Kerbela! (S. 24-28; das Ritual 83-85). Die Tragödie von damals wird in Prozessionen auf der Straße mit Geißeln und Ritzen der Haut blutig an sich selbst vollzogen und in Passionsspielen vergegenwärtigt (104-108).[2] Die ursprünglich revolutionäre Religion werde zu einer Religion der Klageweiber (83). Aber sie kann eben auch zu einer Aufforderung zum Märtyrertum[3] in Selbstmordattentaten werden.[4] KA bliebt aber nicht bei den Ausnahmedingen; sie erklärt in einem Kapitel Theologie und Recht (48-125). Warum im schiitischen Islam etwa die Geistlichen eine überragende Stellung einnehmen,[5] bedeutender als die Politiker, beruht auf den hohen Abgaben zugunsten der Geistlichkeit (der Fünft). Ein wichtiges Kapitel, das über die sonstigen Einführungen hinausgeht! Um Rechtsgelehrter zu werden, damit die höchste Autorität zu gewinnen, sind 17 Jahre Ausbildung keine Seltenheit (97).[6] Was KA über die Sexualität und Ehe schreibt, aber auch, wie sich Prostitution verstecken kann, das kann nur jemand, die intimste Kenntnis der Kultur hat (102 f).

Der Verlag Reclam hat wieder einmal eine gute Idee und mit einer exzellenten Autorin realisiert, die für (bislang nicht für deutschsprachige, aber in dieser Kompetenz auch nicht in anderen Sprachen) Interessierte ‚übersetzt‘, d.h. erklärt mit Sachverhalten, die die Leser aus ihrer eigenen Kultur kennen. Viele Zitate aus dem Persischen sind neu. Katajun Amirpur hat die schwierige Aufgabe hervorragend gelöst. Wer am Islam, an der Weltpolitik interessiert ist, findet hier mehr als eine Einführung zu einer wenig bekannten Seite des Islam und die ‚Alternative zum Westen‘, die iranische Revolution von 1979: ein gut geschriebenes Buch, fast schon ein Handbuch!

 

29.9. 2015                                                                                      Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,

Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Katajun Amirpur ist im Folgenden mit ihren Initialen KA abgekürzt.

[2] Zum Vergleich zwischen christlichen und schiitischen Passionsspielen (darin ein Vergleich, den der iranisch-deutsche Schriftsteller Navid Kermani durchführt) s. Christoph Auffarth, Vorbildliches Leiden – ist das spezifisch christlich? In: Volker Gallé; Klaus Wolf; Ralf Rothenbusch (Hrsg.): Das Wormser Passionsspiel. Versuch die großen Bilder zu lesen. Worms 2013, 179-201. Und weiter das bedeutende Buch Peter Bräunlein: Passion/Pasyon. München: Fink 2010. Meine Rezension auf H-Soz-Kult. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-3-034 [12. Juli 2011].

[3] Der Vergleich mit dem christlichen Märtyrerideal ist im Prinzip richtig, ist aber nicht ganz gelungen: für die christliche Seite sind einige Beschreibungen schief.

[4] Auf diese Seite begrenzt das wichtige Werk von Hans G. Kippenberg: Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung. München: Beck 2008. Ders.: Religion. In: Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. von Christian Gudehus; Michaela Christ. Stuttgart: Metzler 2013, 66-75.

[5] Wieder ist zu bemerken, dass KA vor allem den Katholizismus im Rheinland für ‚das Christentum‘ überhaupt nimmt; der evangelische Glaube fehlt.

[6] Diese Ausbildung und was das bedeutet für einen, der dahin kommen will hat lesenswert erzählt Roy P. Mottahedeh: Der Mantel des Propheten oder das Leben eines persischen Mullah zwischen Religion und Politik. München: Beck 1987.

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