Duerr: Die dunkle Nacht der Seele

Hans-Peter Duerr:
Die dunkle Nacht der Seele.
Nahtoderfahrungen und Jenseitsreisen
.


Berlin: Insel Verlag, 2015.
687 S., einige Abbildungen, auch in Farbe.
ISBN 978-3-458-17631-2

 

Geisterbahnfahrt: Erfahrungen nach dem Tode

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Der Ethnologe Hans-Peter Duerr hat eine erstaunliche Anzahl von umfangreichen Büchern geschrieben. Seine beiden ersten waren ein Paukenschlag, die den Weg zu seiner Art von Wissenschaft einschlugen: Die Traumzeit (1978) beschrieb die Weltsicht der australischen Aborigines. Auf der Grundlage ganzer Bibliotheken, auch ganz ausgefallener Bücher, geht es HPD[1]  weniger darum, eine Ethnographie einer bestimmten Kultur darzustellen, sondern immer wieder um das Problem „Der Wissenschaftler und das Irrationale“,[2] zwei einander ausschließende Denkformen, wie man gemeinhin annimmt. Aber es gibt Bereiche, die sich nicht einfach rational erklären lassen. Müssen Wissenschaftler deren Unsinnigkeit erweisen? Die Finger von solchen Fragen lassen? Eigene Wissenschaften begründen wie die Parapsycho­logie?

Eine solche Frage stellen die sog. Nahtoderfahrungen dar. Dass die Verlagsankündi­gung vollmundig das Werk zum „ersten seriösen Buch über Nahtoderfahrungen“ erklärt, mag man den Werbetextern anlasten. Es gibt bereits gute Wissenschaft, zahlreiche seriöse Bücher (neben den vielen anekdotischer Evidenz[3]), die die Frage auch in anderen Kulturen untersuchen.[4] Die Bezeichnung Nahtoderfahrung beruht darauf, dass sie erstens vielfach dann erfahren und erzählt werden, wenn Menschen reanimiert werden. Sie sind aber kein Phänomen der modernen Apparatemedizin, die Menschen ‚aus dem Jenseits wieder in ihren Körper zurückholen‘ kann. Vielmehr sind solche Erfahrungen in allen Kulturen erzählt; man hat sie meist unter „Jenseitsreisen“ gesammelt und analysiert, aber auch schon wahrgenommen, dass das eine mit dem anderen vergleichbar ist.[5] Zweitens die Idee, dass die Reanimierten bereits den Raum/Zeit nach dem Tod erlebt haben. Der Begriff Nah-Tod lässt das offen. Nahtoderfahrungen haben Menschen auch mitten im Leben. Jan Bremmer hat in seinem Buch The rise and the fall of the afterlife 2002 die tiefer greifende Frage umfassend gestellt, seit wann es eine Vorstellung vom Jenseits, ein Leben nach dem Tod gibt, und wann diese Idee abnimmt oder verschwindet. Bremmer hatte nämlich in einem früheren Buch untersucht, wie die alten Inder und die frühen Griechen vor Platon „Seele“ verstanden, den Unterschied zwischen Lebenskraft im Körper und Traumseele erklärt, die den Körper verlassen kann, also mindestens zwei Seelen im Menschen.[6] In Duerrs Buch ist das Problem nicht wahrgenommen, undifferenziert gesammelt, was irgendwie dazu gehört, ohne Abgrenzungen und systematische Ordnungsversuche. Zwar lehnt HPD ab, dass NTEs[7] kulturunspezifisch seien (S. 77), also überall auf der Welt im Wesentlichen gleiche Erfahrungen gemacht würden. Aber er verfährt doch genau so: phänomenologisch. Eine erzählte Erfahrung in einer Kultur führt ihn auf der selben Seite in drei weitere Kulturen, wo ‚das Gleiche‘ berichtet wird. Kein kultureller oder religiöser Kontext, nicht die Unterschiede. Namen, Orte, Berichte: eine Geisterfahrt. Richtig, es ist alles in den Anmerkungen nachgewiesen und man kann sich tiefer eingraben; 408 Seiten Text stehen 275 Seiten enggedruckte Anmerkungen und Bibliographie zur Seite, das Register versammelt knapp das, was HPD phänomenologisch interessant erscheint. Eine imposante Leistung von Arm-Chair-Ethnology.[8] Aber, um ein Beispiel zu nennen, in den Kapiteln über die Schamanen kommt HPD auf das Austauschen des Herzen zu sprechen. Ohne irgend einen Kontext springt er S. 193 von Schamanen in Südwestafrika nach Neuguinea ins Italien der Catharina von Siena, deren Herz ebenfalls ausgetauscht worden sei, und weiter drei Jahrhunderte später in die Niederlande. Die vielleicht wichtigste Herzaustauschung dagegen ist ihm entgangen: Bevor Muhammad die erste Offenbarung erhält, wird ihm im Schlaf das Herz entnommen und gereinigt wieder eingesetzt.

HPD kann immer wieder sich als Quelle für die Plausibilität stützen, dass er seine eigene „Nahtod-Erfahrungen“ als Beleg anführt (S. 89, 96, 100). Das beginnt gleich im Vorwort, S. 9: Auf einer Zugfahrt habe sein Ich den Körper durch die Fontanelle verlassen.  Die Abteildecke bildete keinen Widerstand, Tunnel, helle Weite mit Wiesen, die nordamerikanische Ebene. „Mit großer Sicherheit kann ich sagen, dass ich [dabei] nicht eingeschlafen war, noch dass ich währenddessen schlief, und dementsprechend war es ganz und gar nicht traumartig oder traumähnlich: ‚Die ganze Situation‘, so notierte ich noch am selben Abend in mein Tagebuch, „war … zu wirklich, um wirklich zu sein.‘ Aber noch weniger Ähnlichkeit hatte das, was mir widerfahren war, mit all dem, was ich gegen Ende der sechziger und in den siebziger Jahren unter dem Einfluss von sogenannten ‚halluzinogenen Drogen‘ erlebt habe.“(ausführlich 239-269). Für Jenseitsreisen muss man, ob man es sich nun eingesteht oder nicht, empfänglich sein, „weshalb es wohl eher unwahrscheinlich ist, dass ein Intellektueller, der ‚Seelenreisende‘ von vornherein für ausgekochte Gauner, Lügner und Wichtigtuer hält, selber jemals eine solche Erfahrung macht“.

Die Religionswissenschaft hat lange unter dieser Beweisführung gelitten. Rudolf Otto hatte 1917 in Das Heilige eine Expertenschaft behauptet, über die die kultur­wissenschaftlichen Forscher nicht verfügten: „Wir fordern auf, sich auf einen Moment starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit zu besinnen. Wer das nicht kann oder solche Momente überhaupt nicht hat, ist gebeten, nicht weiter zu lesen. […] Mit dem ist es schwer, Religionskunde zu treiben.“[9]

So fehlt dem Buch eine systematische Struktur. So spannend viele Berichte sind, so viele unbekannte der Autor aus entlegenen Quellen versammelt hat und die über­bordenden Fußnoten ganze Bibliotheken eröffnen, so erschließt HPD keine Ordnung, keinen roten Faden, keine Differenzierung der vergleichenden Wissenschaft: Die Kunst der vergleichenden Methode liegt weniger im Aufspüren von Gleichheiten, sondern im zweiten Blick: worin sich die Ähnlichkeiten auch wieder unterscheiden. Wo setzt welche Kultur die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits? Was meint „Seele“ und ist sie abzugrenzen von Körper, Geist? Gibt es die verschiedenen Zustände von Bewusstsein (Traum, Trance, Ekstase-Riten, Suggestion, Rausch, …) auch noch nach dem Tod? Wann müssen wir von Inszenierung  und von Erzählung einer Erzählung sprechen statt von Erfahrungen?[10]

Ich bekenne, ich habe fast alle Bücher von HPD mit Begeisterung verschlungen und enorm viel aus ihnen gelernt, Vorurteile umgestoßen, besonders in den Fußnoten fand ich faszinierende Nachweise. Etwa die fünf Bücher gegen Norbert Elias‘ Zivilisierungstheorie (1988-2002). Meine Erwartungen an die Fragestellung sind in diesem Fall enttäuscht. Die dunkle Nacht der Seele[11] bleibt dunkel mit vielen Irrlichtern. Und doch hat HPD wieder eine Schatzkiste gefüllt mit wichtigen und lesenswerten Details.

Christoph Auffarth

Religionswissenschaft

Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Im Folgenden abgekürzt mit seinen Initialen.

[2] So der Titel der zwei 1981 von HPD herausgegebenen Bände.

[3] Soll heißen: Wer eine Anekdote erzählt über ein Nahtoderlebnis, dem fügt der Gesprächspartner eine andere Erzählung hinzu, die er aufgeschnappt hat, und schon ist das Phänomen bewiesen, evident.

[4] Wichtige Literatur ist genannt bei Christoph Auffarth: „Fünftes Alter“ und „Schöner Sterben“: Europäische Religionsgeschichte am Ende des 20. Jahrhunderts. In: Heinz Häfner (Hrsg.): Alter und Altern: Wirklichkeiten und Deutungen. Heidelberg: Springer 2012, 203-223. Für Religionswissenschaftler am interessantesten ist Hubert Knoblauch: Berichte aus dem Jenseits: Mythos und Realität der Nahtod-Erfahrung. Freiburg im Breisgau: Herder 1999.

[5] Ein exzellentes Kapitel zu Nahtoderfahrungen bei Jan Bremmer, The Rise and the Fall oft he Afterlife, London: Routledge 2002, 87-102. Bremmer kann in einem schmalen Buch auf dem besten Stand der Forschung enorm präzise Fragen stellen und Antworten finden.

[6] Jan Bremmer: The Early Greek concept of the soul. Princeton: UP 1983. Duerr hat beide verzeichnet.

[7] NTE als übliche Abkürzung für Nahtoderfahrung (englisch NDE).

[8] Dieser Begriff wurde etwas despektierlich eingebracht, als die Ethnologie sich davon abwandte, Berichte am heimischen Schreibtisch und Armlehnstuhl zusammenzutragen, und die Forderung aufstellte, man müsse die Menschen „im Feld“ treffen, beobachten und interviewen.

[9] Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Breslau: Trewendt und Granier 51920, Seite 8. Die ersten Auflagen hatten noch statt „Religionskunde“ im Sinne von Religionswissenschaft an dieser Stelle „Religionspsychologie“. Zur Abkehr von der Religionsphänomenologie  Christoph Auffarth: Sind heilige Stätten transportabel? Axis Mundi und soziales Gedächtnis. In: Axel Michaels; Fritz Stolz (Hgg.): Noch eine Chance für die Religionsphänomenologie? (Jahrbuch Studia Helvetica Religiosa 5, 2000/2001) Bern 2001, 235-257.

[10] Sehr gut HPD zur Inszenierung von Schamanen 177-188. Oder Hypnotisierte lächeln spöttisch, “as if they were playing a comedy“ 322.

[11] Die Nachtmetaphorik (aus Johannes vom Kreuz) ist für die europäische Kulturgeschichte gut erschlossen von Manuel Schlögl: Mystik – Atheismus – Dunkle Nacht. Johannes vom Kreuz und Therese von Lisieux im Gespräch mit dem neuzeitlichen Atheismus. Regensburg: Pustet 2013. Rez Stephan Lüttich, Göttingische Gelehrte Anzeigen 268(2016), 16-28.

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