Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum (6)
Lucian Hölscher, Volkhard Krech (Hrsg.): 20. Jahrhundert.
Band 1: Epochen und Themen.
[613 S.]
Paderborn: Schöningh 2015.
Band 2: Religiöse Positionen und soziale Formationen.
511 S.
gemeinsame ISBN 978-3-506-72025-2
256 €.
Religion im 20. Jahrhundert,
eine gelungene Religionsgeschichte
Eine Rezension von Christoph Auffarth
1. Die Anlage des Werks
Eine Religionsgeschichte des 20. Jahrhunderts gab es bislang noch nicht, sie zu konzipieren war die Herausforderung für die beiden Herausgeber von der Bochumer Universität. Volkhard Krech als Religionssoziologe,[1] Lucian Hölscher als Neuzeithistoriker mit solchen Fragestellungen vertraut,[2] gliederten in drei Kategorien: Eine in zeitliche Epochen, eine zweite in „Themen“, will sagen Religion als Regelungsaufgabe staatlicher Institutionen bzw. in kulturellen Bereichen wie Recht, Medien, Kunst (Band 1); eine dritte nach Konfessionen bzw. Religionen (religiösen Gemeinschaften und Institutionen); eine vierte setzt die Perspektive auf soziale Formationen (Band2). Religionsgeschichte soll der gemeinsame Fokus sein in der breiten Semantik, die der Begriff seit dem 19. Jh. gewonnen hat, in der religionswissenschaftlichen Hermeneutik, die weder in der institutionellen Formation noch in den Religionen aufgeht (Geschichte der Religionen), sondern auch Atheismus oder Säkularisierung als Teil der Religionsgeschichte einer Gesellschaft mit umfassen muss. Für manche Beiträger ist die Fragestellung noch wenig vertraut, wenn sie weitgehend noch in der institutionalisierten Religion denken oder auf Theologiegeschichte fokussieren (wie beim Protestantismus in Band 2). Aber zweifellos haben die Herausgeber eine glückliche Hand bei der Auswahl der einzelnen Bearbeiter gehabt. Alle Beiträge habe neue Aspekte auf hohem Niveau und guter Kenntnis der Forschung eingebracht zu einem neuartigen Werk, das sowohl Geschichte der Religion als auch die Qualität eines Handbuchs bietet.
Die methodische Schwäche der ersten Bände des Handbuchs (Band 2, Band 1, Band 5: meine Rezension ThLZ 132(2007), 1295-1297; ThLZ 137 (2012), 23-25) kommt hier nicht zur Anwendung, nämlich die religionsphänomenologische Methode; im Gegenteil ist hier eine religionswissenschaftliche Konzeption gewonnen (wie auch schon in Band 4: dazu meine Rezension ThLZ 139 (2014), 1418-1420). Eine Schwäche bleibt, eine Formalie: Der Text erlaubt keine Fußnoten; so sind die Anmerkungen – darunter auch Differenzierungen, nicht nur Zitatnachweise – als Endnoten am Ende des Bandes, die abgekürzte Literatur muss man in einer dritten Abteilung nachschlagen, farbige Abbildungen noch in einem gesonderten Bogen. Und der Kolumnentitel gibt nicht an (anders in Band 5), zu welchen Seiten die Endnoten und Bibliographien gehören. Also benötigt man mindestens vier Lesezeichen.
2. Epochen
Nach einer knappen Einleitung umfasst Teil I (Band 6/1) „Epochen“: Andreas Holzem, Erster Weltkrieg (21-60, 415-423, 517-527). Siegfried Weichlein, Zwischenkriegszeit (61-112, 424-435, 527-542). Christoph Auffarth, Drittes Reich (113-134, 439-449, 542-553). Antonius Liedhegener: Nachkriegszeit 1945-1960 (135-174, 449-455, 554-559). Peter Bräunlein, Die langen 1960er Jahre (175-220, 456-468, 559-571). Thomas Mittmann, Der Zeitraum von 1975 bis 1989 (221- 244, 468-475, 571-579). Jens Schlamelcher, Der Zeitraum seit 1989 (245-266, 475-481, 579-585). Die Epochen-Kapitel sind umfassend behandelt, das ist ein ausgezeichneter Auftakt, der Religionsgeschichte klar unterscheidet von Kirchengeschichte.
Die Aufgabe „deutschsprachiger“ Raum, ist unterschiedlich erfüllt. Der Erste Weltkrieg ist auf Deutschland beschränkt. Die Nachkriegszeit betont eine österreichisch-katholische Perspektive. Herausragend ist das Kapitel über die Sechziger Jahre, sowohl in der Globalen (oder zumindest der Bedeutung der amerikanischen Einflüsse) als auch in seiner Differenziertheit des Umbruchs der Achtundsechziger. Aber auch das Kapitel Drittes Reich ist neuartig, weil es nicht wie üblich die Kirchenpolitik und die Kirchen in den Vordergrund rückt.[3]
3. Themen
Teil II (Band 6/1): Unter „Themen“ geht es zunächst um Apokalypse und Verarbeitung von Katastrophen (Nikolai Hannig, 269-284, 481-484, 586-589). Frank Bösch beschreibt das Verhältnis von Medien und Religion (285-311, 484-491, 590-596) mit einem Übergewicht der katholischen Seite. Das komplexe Thema Kunst und Religion untersuchen Markus Kleinert, Volkhard Krech und Magnus Schlette (312-345, 491-497, 597-602). Traugott Jähnichen beschäftigt sich mit Religiöser Lebensführung, den ethischen Diskursen (346-388, 498-505, 602-609). Sarah Jahn, Recht und Religion (389-414, 506-510, 609-613).
Medien führt kenntnisreich ein in die katholische Seite, kennt aber nicht so gut die protestantische. Es fehlt etwa das evangelikale Spektrum (idea neben epd), das fast in allen Landeskirchen Finanzierung erhält. Sicher müsste hier auch die Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (Walter Künneth seit 1932 der Apologetischen Centrale in Berlin mit einer Presseschau gegen völkische Religionen; nach dem Krieg Wortführer gegen Bultmann) genannt werden. Das Kapitel über Kunst beschränkt sich nicht auf Kunst, die zu religiösen Zwecken konzipiert ist, sondern öffnet religiöse Aspekte bei etwa Gottfried Benn und Joseph Beuys oder den Beethovenkult. Hier zeigt sich der Vorzug einer religionswissenschaftlichen Perspektive. Ausgezeichnet ist das Kapitel zur Ethik von Traugott Jähnichen, der die theologischen Entwürfe je in ihrem sozial-politischen Kontext erläutert. Die jüdischen und katholischen Stimmen erhalten ihr Gewicht neben den protestantischen.[4] Das Kapitel zu „Recht“ begrenzt sich auf Regelungen zu Religionsfreiheit und zur Säkularität.[5]
4. Konfessionen und Weltanschauungen
Teil III (Band 6/2) gliedert die Religionsgeschichte nach den einzelnen Konfessionen. Alf Christophersen stellt den Protestantismus vor (II 15-55; 339-345; 414-419), beschränkt sich dabei aber weitgehend auf Theologiegeschichte. Dadurch treten liberale Theologien (wie Troeltsch und Tillich) in den Vordergrund, der Aufstieg der Evangelikalen dagegen nicht; die DDR-Theologie Kirche im Sozialismus fehlt ebenso wie die Bedeutung des Deutschen Evangelischen Kirchentages für die Demokratisierung der BRD. Thomas Mittmann gibt einen Überblick zum Römischen Katholizismus breiter als eine Kirchengeschichte, aber die Religiositätspotentiale in Events wie dem Weltjugendtag sind unterschätzt. Tobias Sarx bespricht weitere christliche und christentumsnahe Gemeinschaften (II 93-119; 351-356; 426-432): Altkatholiken, Pietisten, Pfingstler; Neuapostolische, Zeugen Jehovas, Mormonen, Zeugen Jehovas, Christian Science, Neue Religiöse Bewegungen. Justus Ulbricht gelingt aus seiner enormen Kenntnis das Dickicht der Völkischen Religiosität zu überblicken (II 121-138, 356-368, 432-445). Uri-Robert Kaufmann bespricht das Judentum des 20. Jh.s (II 139-150, 368-370, 445-447) bleibt aber zu eng bei Religion. Levent Tezcan schreibt die Geschichte des Islam in Deutschland (151-176, 370-374, 447-451). Diethard Sawicki gelingt es, Gemeinsamkeiten in den Gruppen der Esoterik herauszuarbeiten (177-188, 375-377, 451-455). Todd H. Weir stellt Gruppen des religiösen Säkularismus, gemeint sind Freireligiöse, Freidenker, Monisten, Ethiker, Humanisten vor (189-216, 377-381, 455-459).
Die Gefahr, zu sehr bei der institutionalisierten Religion zu bleiben, ist fast überall zu finden. Müsste beim Judentum nicht auch Walter Rathenaus Kritik am Judentum beschrieben werden, ohne dass er sein Judentum ablegen wollte, obwohl nicht in die Synagoge ging und sich nicht als ethnisch einen fremden Volk zuschrieb? Oder beginnt der Islam in Deutschland erst mit den ’Gastarbeitern‘; ein Bild vom Islam hat Karl May geprägt oder Mohammed Asad, der jüdische Reporter, der zum Islam konvertierte.[6]
5. Soziale Formationen
Der vierte Teil (Band 2, Teil II) Soziale Formationen beginnt mit dem magistralen Beitrag von Lucian Hölscher, Arbeiterschaft und Bürgertum (219-265, 382-396, 460-470), der seine umfassenden Arbeiten hier in einem großen Bogen und neu zusammenfasst und weiterführt.[7] Kornelia Sammet bearbeitet „Geschlechter“ (267-292, 390-396, 470-476) etwas einseitig auf Frauengeschichte beschränkt. Dort aber mit klaren Linien: sozialgeschichtlich, Frauenordination, feministische Theologie. Das muslimische Kopftuch wirkt eher als Appendix. Abgeschlossen wird der Band mit dem Beitrag Generationen von Christel Gärtner (293-338, 396-409, 476-485). Dieses wichtige Konzept, Geschichte und soziales Gefüge zu gliedern, wendet die Religionssoziologin auf die Religionsgeschichte des 20. Jh.s an. Sie konstatiert zwei Brüche, einmal der Jugendbewegung in der ,Krise der Moderne‘ um 1900, dann nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. [8] Beispiele aus eigenen Forschungen beschäftigen sich mit der Adoleszenz von Katholiken, die zu Anhängern Drewermanns am Rande des sich auflösenden katholischen Milieus wurden.
Für einen ersten Wurf einer religionswissenschaftlichen Religionsgeschichte ist vieles schon gelungen, herausragend die Beschreibung der langen sechziger Jahre oder die sozialgeschichtliche Beschreibung von Bürgertum und Arbeiter, anders als die übliche kirchengeschichtliche Perspektive die Religion des Dritten Reiches. Kunst wird nicht reduziert auf Kunst für kirchliche Zwecke behandelt. Herausragend auch Jähnichens Beschreibung der ethischen Diskurse je im Zusammenhang gesellschaftlicher Veränderung.
- Februar 2017
Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen
E-Mail: auffarth@uni-bremen.de
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[1] Seine Homepage http://ceres.rub.de/de/personen/volkhard-krech/ (5.2.217). Einschlägig zur Religion im 20. Jh. V.K.: Georg Simmels Religionstheorie. Tübingen: Mohr Siebeck, 1998; V.K.: Wissenschaft und Religion: Studien zur Geschichte der Religionsforschung in Deutschland 1871 bis 1933. Tübingen: Mohr Siebeck. 2002. Zu der kühnen Monographie V.K.: Wo bleibt die Religion? Zur Ambivalenz des Religiösen in der modernen Gesellschaft. Bielefeld: Transcript 2011 meine Rezension http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2012/02/22/wo-bleibt-die-religion-von-volkhard-krech/(22.2.2012).
[2] Hölschers Homepage http://www.ruhr-uni-bochum.de/lehrstuhl-ng3/mitarbeiter/hoelscher.html . Einschlägig zur Religion im 20. Jh. L.H. Datenatlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg. Hg. von Lucian Hölscher. 4 Bände. – Berlin, New York: Walter de Gruyter 2001. Meine Rezension in: Numen 50(2003), 481-483. Zu erwarten ist die Fortsetzung zu L.H.: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit, Bd. 1: Von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. München: Beck 2005. L.H.: Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich. Stuttgart: Klett-Cotta 1989.
[3] Die anderen Nachkriegskapitel sind etwas katholisch-lastig. Ich verweise auf meine Rezensionen Religionsgeschichte Deutschlands seit 1945: Religion hat ihren Ort nicht mehr im Himmel. Rezension zu Thomas Großbölting, Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945, 2013. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2013/11/28/der-verlorene-himmel/ (28.11.2013). Sowie auf: Ein Historiker revidiert die Apologie der katholischen Kirche über ihr Verhalten im Nationalsozialismus. Olaf Blaschke: Die Kirchen und der Nationalsozialismus 2014. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2014/11/19/die-kirchen-und-der-nationalsozialismus/(19.11.2014).
[4] Etwa zur Politischen Theologie Moltmanns und Metz‘ hat TJ richtig auf die Bedeutung von Ernst Blochs Prinzip Hoffnung hingewiesen. Dazu sollte aber gesagt werden, dass Bloch als Kommunist galt und dass das Prinzip Hoffnung bereits konzipiert war mit Geist der Utopie 1918.
[5] Die wichtigen Entscheidungen der Bundesverfassungsgerichts etwa zum Islam (Anfangs: keine Religionsgemeinschaft), zur Kopftuchfrage, zu Gewalt und Religion wären darzustellen, vgl. Hans Kipppenbergs Arbeiten.
[6] Christoph Auffarth: ‚Kampf der Kulturen’ und der ‚Geist’ des Islam: Der abenteuerliche Weg eines Gründervaters. Muhammad Asad: Der Weg nach Mekka. http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2010/09/19/der-weg-nach-mekka-von-muhammad-asad/ (19.9.2010).
[7] Anschließend an sein Buch Weltgericht und Revolution 1989, oben Anm. 2.
[8] Die Zäsur 1945 stellt CG selbst in Frage, ob nicht eher 1968 die Zäsur bilde, vgl. S. 114 Generationenbruch 1918 und 1968. Die wichtige Zwischengeneration der Volkssturm-Jugendlichen (1927-29), Wortführer in der BRD, mit späten, meist erzwungenen Geständnissen ihrer Zugehörigkeit zur Hitler-Jugend (Grass, Jens, Walser, Ratzinger, u.a.) ist ein wichtiges Prüfbeispiel für das Konzept Generation.