Simmel-Handbuch.
Begriffe, Hauptwerke, Aktualität.
Herausgegeben von Hans-Peter Müller und Tilman Reitz.
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2251.
Berlin: Suhrkamp 2018. 960 Seiten.
ISBN 978-3-518-29851-0.
28 €
Berlin: Suhrkamp 2018. 960 Seiten.
ISBN 978-3-518-29851-0.
28 €
Ein aufmerksamer Beobachter der Moderne: Georg Simmel
Eine Rezension von Christoph Auffarth
Kurz: Simmel hat aufmerksam die rasante Modernisierung besonders in der Großstadt Berlin beobachtet. Da lässt sich viel von lernen für die Modernisierung im 21. Jahrhundert.
Ausführlich: „Zum Klassiker hat es Georg Simmel nicht gebracht“, urteilte noch Jürgen Habermas. Die über ihn und seine Karriere seinerzeit zu entscheiden hatten, hielten ihn für den „betriebsamen spekulierenden Juden“, dem aber „die eigene starke ethische Überzeugung“ fehle. Schon vor den Nürnberger Rassegesetzen (1935) blieb der als Kind protestantisch getaufte Christ Simmel (1858-1918) ein ‚typischer Jude‘, gerade weil er differenziert beschrieb und vor keinem Thema der Gesellschaft seiner Zeit zurückschreckte. Nicht nostalgisch eine mehr erträumte als realistische Zeit beschrieb, sondern die rasant sich verändernde Großstadt und das pulsierende Leben in seiner Heimatstadt Berlin. Die Herausgeber nennen das „Die Veräußerlichung des Lebens“ (24-32), während die deutschen Professoren die Innerlichkeit der Deutschen beschworen.[1] Da Juden über Generationen mehr oder weniger gezwungen waren, in Städten zu leben, nannte man sie „Asphaltjuden“.[2] Abschätzig urteilten die Kollegen über den erfolgreichen und berühmten Wissenschaftler.[3] Finanziell unabhängig hält er Vorlesungen vor einem immer größeren Auditorium, eine ordentliche Professur erhält er erst 1914 an der Reichsuniversität in Straßburg. Dabei müsste man ihn – wie seinen Freund Max Weber – als einen Begründer der (deutschen) Soziologie und der Religionswissenschaft schätzen, beides Wissenschaften, die sich um 1900 gerade erst formierten. Wie Max Weber (1864-1920) erst Mitte der 1960er Jahre (zu seinem hundertsten Geburtstag und über den Umweg über die USA) wieder entdeckt wurde, so kann dies auch mit Georg Simmel geschehen. Denn die Grundlagen dafür sind geschaffen: Die Gesamtausgabe seiner Schriften hat Otthein Rammstedt initiiert und vollendet, sorgfältig zusammengetragen, einschließlich seiner Korrespondenz (GSG 23-23), und kundig in den Kontext gestellt.[4] Das kann sich jetzt auch mit diesem herausragenden Handbuch verändern. Nicht in der Philosophie, sondern für die Kulturwissenschaften erweist sich Simmel als ein Gründungsvater.
Das Handbuch ist klug aufgebaut, mit umfassenden Informationen, aber vor allem überzeugen die hervorragende Einordnungen und die Herausarbeitung, wo Simmel für die folgende Wissenschaft grundlegende Erkenntnisse erzielt hat. Die Einführung des Herausgebers Hans-Peter Müller (11-90) gibt einen Einblick sowohl in die Biographie (62-70), vor allem aber die Stellung in der Wissenschaft (zeitgenössisch vs. im 21. Jahrhundert), als Gastgeber im kulturellen Leben (darunter Stefan George, Rainer Maria Rilke, Martin Buber, Edmund Husserl, Max und Marianne Weber), seine Werk-Biographie (70-83) und Grundlinien der Rezeption (83-90). Im Grunde gebe es drei Simmels (60): den Philosophen, den Soziologen, den Ästhetiker (Simmel hatte Kunstgeschichte studiert und verfasste Aufsätze und Bücher) Die 14 großen Monographien, die Simmel in seinen gerade mal sechzig Jahren Lebenszeit veröffentlicht hat, werden vorgestellt und eingeordnet (617-765), etwa die Sociale Differenzierung 1890, Probleme der Geschichtsphilosophie 1892, ³1907, Philosophie des Geldes 1900, ²1907, Kant 1904, 51921, Schopenhauer und Nietzsche 1907, Die Soziologie 1908,[5] Grundfragen der Philosophie 1910,[6] Goethe 1912, Rembrandt 1916, Grundfragen der Soziologie 1917.
Ein großer Teil behandelt Simmels Begriffe, die sich in seinem Werk immer wieder bearbeitet finden (91-614). Neben Fragen des modernen Lebens (wie die Großstadt, [Tourismus:] Alpen, Venedig, Abenteuer, Familie, der Fremde, Armut, Konflikt, Krieg, Prostitution, Schauspieler) methodische Fragen (soziale Differenzierung, Gruppe, Neukantianismus), faszinierende Persönlichkeiten und Forscher (Bergson, Dilthey, Durkheim, Stefan George, Goethe, Kant, Michelangelo, Nietzsche, Rickert, Tönnies, Weber).
Ein vierter Teil enthält Essays zu Simmels Modernität, zur Soziologie als relationales Projekt, Stadtsoziologie, Emotionentheorie, Geschlechtertheorie und seine Lebensphilosophie (von Nietzsche her kommend greift GS Bergson auf). Umfassende Bibliographien erschließen die GSG, Primärquellen und 70 Seiten Sekundärliteratur, eine biographische Zeittafel, die Autoren und ein Namensregister.
Für die Religionswissenschaft entdeckt und erschlossen hat ihn Volkhard Krech.[7] Sein Beitrag zur Monographie Simmels Die Religion 1906, ²1912 (682-690 zu GSG 10) und die Stichworte Pantheismus (406-412), Religion (453-459): War für zeitgenössische Wissenschaftler Religion zuerst Glaube und Innerlichkeit, freie Entscheidung des Individuums, Wahrheit, Standhaftigkeit und Moral, so steht für Simmel (wie für Weber) als wichtigste Kategorie die Gemeinschaft und die Soziologie, die in Wechselwirkung mit dem Individuum Religion hervorbringt.[8] Das Individuum ist nicht so emphatisch verstanden, wie das die Zeitgenossen gerne sahen als Gegensatz zur ‚Masse‘, sondern das Individuum ist seinerseits Resultat gesellschaftlicher Zurechnungen (GSG 4, 136), also selbst Teil der Gesellschaft. In der Wechselwirkung von objektivierter Religion (mit ihren Institutionen, Klerikern, Dogmen) und der individuierten Religiosität kann man die Religion einer bestimmten Gesellschaft and einem bestimmten Ort, lokal und sozial beschreiben. Religion ist dann nicht ein menschliches Grundbedürfnis, das es immer und überall gibt, aber auch nicht die Offenbarung Gottes, die aus der Transzendenz auf die Menschen einwirkt. Vertrauen, Verzeihen, Schenken, Glauben, Versöhnen sind selbst nicht unmittelbar und nur aus Religion herzuleiten, aber sie setzen so etwas wie Religion voraus. – Damit versteht Simmel Religion als eigene Differenzierung innerhalb der Gesellschaft im Unterschied zur Religionssoziologie von Max Weber und erst recht Émile Durkheim, für die Religion in sozio-kulturellen Sachverhalten aufgeht.
Für Religionswissenschaftler wichtig zu lesen ist das ausgezeichnete Stichwort zu Émile Durkheim (177-182 von Hans-Peter Müller), das zeigt, wie international und korrespondierend die Wissenschaft bis zum Ersten Weltkrieg war und dass das Deutsche und das Französische die führenden Wissenschaftssprachen waren; Simmel erschloss gerade erst englische Denker für die deutsche Wissenschaft. Gleichzeitig ist das Urteil Durkheims i.J. 1900, Simmels Soziologie verbleibe in der metaphysischen Ideologie (181f), ein Muster an Vorurteil in der national aufgeheizten Zeit um den Dreyfus-Skandal.[9]
Simmels Blick richtete sich nicht sehnsuchtsvoll zurück, sondern versuchte die rasante Entwicklung der Moderne in der Großstadt zu begreifen. Damit ist er für das 21. Jahrhundert ein höchst interessanter Denker. Über seine Person und seine Bücher hinaus ist das Handbuch sowohl für die Moderne um die Jahrhundertwende 1900 bedeutsam wie für die ‚Zweite Moderne‘ (besser als Postmoderne) des beginnenden 21. Jahrhunderts. Auch diesen Aspekt hat das Handbuch aufmerksam im Blick. Es lohnt sich.
Bremen/Much, 5. Dezember 2018 Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen
E-Mail: auffarth@uni-bremen.de
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[1] Ein typisches Urteil äußert der chauvinistische Historiker Dietrich Schäfer in einem Gutachten gegen die Berufung Simmels nach Heidelberg, zitiert S. 68f. Während des Ersten Weltkriegs behauptete der evangelische Pfarrer Paul Jaeger (1869-1963), dass die deutschen gefallenen Soldaten eine tiefe Zufriedenheit erkennen ließen im Unterschied zu den französischen. So nennt er sein Büchlein (statt Jenseits) Innseits. Zur Verständigung über die Jenseitsfrage. Tübingen: Mohr 1917; ²1926.
[2] So sprach etwa der Theologe Walter Künneth 1935 vom „wurzellosen Asphaltjudentum der Gegenwart“ (Antwort auf den Mythus [Alfred Rosenbergs], S. 67)
[3] Perfide das graphologische Gutachten von Ludwig Klages, der wusste, wessen Handschrift er da zu begutachten hatte: „anschauungslose Haarspalterei, Flachheit des inneren Lebens“ usf. Handbuch 20.
[4] Georg Simmel: Gesamtausgabe. 24 Bände. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989-2015. Herausgegeben von Otthein Rammstedt und vielen Mitarbeitern. Ausführlich die Inhaltsangabe der einzelnen Bände im Simmel-Handbuch 2018, 855-863. Die Gesamtausgabe gibt es auch als (sehr preiswerte) Taschenbuchausgabe als Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. Abkürzung GSG.
[5] Das 782 Seiten starke Werk ist nicht unter den Monographien behandelt. Dafür in der Einleitung (39-49). Einen programmatischen Aufsatz hatte Simmel dazu schon 1894 veröffentlicht.
[6] Das schmale Büchlein in der Reihe Göschen [so etwas wie Beck Wissen] die Jubiläumsnummer 500 erreichte eine Auflage von 37 000 Exemplaren.
[7] Volkhard Krech: Georg Simmels Religionstheorie. Tübingen: Mohr Siebeck, 1998. Ders.; Tyrell Hartmann (Hrsg.): Religionssoziologie um 1900. Würzburg: Ergon 1995.
[8] Zu den ‚Dimensionen‘ der Religion, in denen die kognitive und die ethische Dimension zwei von acht darstellen, s. Auffarth/Hubert Mohr: Religion. in: Dies.; Jutta Bernard (Hrsg.): Metzler Lexikon Religion 3 (2000), 160-172.
[9] Dazu Christoph Auffarth: Ein Offizier wird verurteilt wegen Landesverrat, weil er Jude ist: der Fall Dreyfus, Frankreich 1894-1906. George R. Whyte: Die Dreyfus-Affäre 2010. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2011/03/01/die-dreyfus-affare-von-george-r-whyte/ (1.3.2011).