Hans-Christian Jasch, Wolf Kaiser:
Der Holocaust vor deutschen Gerichten: Amnestieren, Verdrängen, Bestrafen.
Ditzingen: Reclam 2017. 263 S.
[ISBN: 978-3-15-011135-2]
20 €
Julian Kümmerle: Der Holocaust.
Stuttgart: Reclam 2016. [165 Seiten. ISBN 978-3-15-017090-8]
7,00 €
Das Menschheitsverbrechen: Die Ermordung der Juden
Eine Rezension von Christoph Auffarth
Kurz: Die beiden Bücher fassen die Forschungen zum Völkermord an Juden, Sinti und Roma u.a. zusammen sowie die halbherzige Verfolgung durch die deutsche ‚Rechtspflege‘ nach dem gewollten Untergang der NS-Herrschaft, aus der viele Richter und Rechtsanwälte stammten.
Ausführlich: Der Völkermord an den Juden scheint ‚unfassbar‘, aber er lässt sich nach langer intensiver Forschung in seiner schrittweisen Vorbereitung und der Durchführung auch ziemlich lückenlos in Worte und Zahlen fassen. Die dahinter stehende Logik, die nationalsozialistische Logik bleibt unfassbar.
Hier sind zwei Bücher vorzustellen: Ein Bändchen Kompaktwissen, das der Reclam-Verlag in Auftrag gegeben hat und damit wieder eine kompetente knappe Darstellung mit hohem Problembewusstsein nicht nur für die Schule verlegt hat. Und der gleiche Verleger hat die zwei Leiter der Ausstellungsstätte gefragt, der Villa im Nobelvorort Berlins Wannsee, von wo aus am 20. Januar 1942 der Völkermord in Auftrag gegeben wurde: Planung, Struktur, Durchführbarkeit. Die beiden Autoren, der Jurist Hans Christian Jasch und der Historiker Wolf Kaiser haben die Frage aufgearbeitet, wie die Rechtsprechung in der Bundesrepublik mit den Tätern umgegangen ist.
Die Frage, ob die Nationalsozialisten von Anfang an den Mord geplant hatten oder ermutigt wurden, schrittweise immer schlimmere Verbrechen gegen die Juden auszuführen, muss wohl eher in letzterem Sinne beschrieben werden.[1] Antisemitismus war fast überall in Europa,[2] den USA[3] und darüber hinaus verbreitet. Julian Kümmerle[4] neigt eher dem ersteren zu: „Vom 30. Januar 1933 an war der Antisemitismus Staatsziel“ (Kümmerle 8); doch ist vom Antisemitismus zum Völkermord ein längerer Weg, den JK hier in großer Kenntnis vorstellt, zunächst in einer Darstellung 14-106, einer Problematisierung in Kontroversen 107-121 und einer Auswahl von Quellen 122-161. Bei den Begriffen fehlt der Vorschlag Eli Wiesels, mit ‚Holocaust‘ einen Begriff aus der jüdischen Tradition zu wählen.[5] Leider auch die Konsequenz, dass die christlichen Kirchen sich nicht hinter die getauften ‚Juden‘ stellten, indem sie auf das Evangelium pochten, vielmehr Amtshilfe leisteten, indem sie ‚Rasse-Juden‘ aus den Kirchenbüchern identifizierten.[6] Die Wannsee-Konferenz Anfang 1942 war nicht die Entscheidung zur Vernichtung. Denn erstens wurden schon davor im Russlandfeldzug Juden systematisch ausgeraubt (Tabelle S. 70) und erschossen, aber zweitens gab es noch Alternativen wie den Madagaskar-Plan. Wann der Befehl zu Vernichtung gegeben wurde, ist nicht sicher zu klären. Ein ‚Führerbefehl‘ ist nicht zu finden, auch wenn das Verbrechen sicher im Sinne von Adolf Hitler durchgeführt wurde. Der Befehl zur ‚Aktion Reinhardt‘, als „in den schrecklichen Monaten“ Ende Juli bis Mitte November 1942 die allermeisten Juden in der Ukraine und Russland in Massen erschossen wurden. Parallel begann man mit dem Aufbau der Vernichtungslager (Auschwitz und 5 weitere), in denen Juden v.a. aus Süd- und Mitteleuropa durch Gas getötet wurden. – Im Kapitel Räume des Holocaust werden die einzelnen Länder beschrieben, in denen nach der Eroberung durch die deutsche Wehrmacht die Juden systematisch aufgesucht und in die Vernichtungslager transportiert wurden. Die Besonderheit Italiens, wo sich Mussolini erst Ende 1938 von Hitler zu Rassegesetzen drängen ließ, diese aber auch nicht konsequent realisiert wurden. JK beschreibt das behutsam, spricht aber von einem eigenen italienischen Antisemitismus (92).[7] Personen des Holocaust benennt den Kreis der Täter und Opfer. Über die Posener Rede von Heinrich Himmler zu Beginn des 5. Kriegsjahres Oktober 1943,[8] in der er seine SS dafür lobt, dass sie beim Anblick von 1000 Leichen „dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwäche – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte “ (155). JK ist eine sehr informative und problemorientierte Einführung auf dem Stand der Forschung gelungen.
Das Buch über Der Holocaust vor deutschen Gerichten beschreibt, in Anmerkungen gut belegt,[9] die juristische Aufarbeitung der Verbrechen. Ein Jurist und ein Historiker arbeiten zusammen, um die historischen und die juristischen Fragen (Strafrecht; Völkerrecht) mit dem jeweiligen Sachverstand zu klären. Der Völkermord stand zunächst noch eher im Hintergrund, da die Kläger (die Alliierten) in den Nürnberger Prozessen über Kriegsverbrechen der Deutschen zu urteilen angetreten waren. Der Judenmord geschah im Schatten des Krieges. Und es wurde über die Hauptkriegsverbrecher das Urteil gesprochen. Immerhin gab es den Anklagepunkt Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In späteren Prozessen vor deutschen Gerichten in der BRD redeten sich die Täter heraus, sie hätten unter Befehlsnotstand gehandelt, seien also nur ‚Beihelfer‘ gewesen. Und es gab im deutschen Strafrecht kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das erst später im Völkerrecht verankert wurde. Anders dagegen in der DDR, wo aufgrund geheimer Verhöre durch die Sowjetischen Geheimpolizei 3400 Männer verurteilt wurden ohne die Regeln des Rechtsstaates. In der BRD aber diskutierte der Bundestag scharf über die Frage, wann oder ob überhaupt die Verbrechen der NS-Zeit verjährt sein sollten (111-119). Gerichte schärften ihre Kriterien der Schuldfähigkeit, oft aber im entlastenden Sinne (zum Täterwillen der BGH „Täter ist, wer die Tat als eigene will“ 120f). Mit Kant beschied der BGH, „daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden. Sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens und das rechtlich Verbotene zu vermeiden, sobald er die sittliche Reife erlangt hat.“ (BGHSt 2, 200). Statt die Organisatoren und Verantwortlichen, die Struktur der Organisation und ihre Köpfe aufzudecken, erwies sich das Bürgerliche Gesetzbuch ungeeignet für diese monströsen Verbrechen. Die Richter suchten nach der Einzeltat, der Absicht der Täter (und dem von den Nazis definierten Mordmotiv ‚Heimtücke‘); die Verteidiger versuchten die Zeugen mit Ungenauigkeiten ihrer Aussage zu diskreditieren. Man habe fast nur „Tötungsarbeiter“ (Ralph Giordano, die zweite Schuld 1987) verurteilt, die mit exzessiver Grausamkeit Menschen persönlich getötet hatten. Und den minutiös vorbereiteten Mammutprozess gegen die Zentrale der Verbrechensorganisation, den Reichssicherheitshauptdienst RSHD[10] ließ ein scheinbar harmloses Gesetz platzen, das Beihilfe zum Mord nach fünfzehn Jahren für verjährt erklärte. Ein Täter, Eduard Dreher, zur Autorität im Justizministerium aufgestiegen,[11] hatte das dem Bundestag untergejubelt: demnach war Beihilfe nach 15 Jahren verjährt, also seit 1960.[12] Die Verjährungsdebatte hatte sich für die meisten Fälle erledigt; nur Mord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde für nicht verjährbar erklärt. Erst als die meisten Täter längst ungesühnt oder mit „Streichelstrafen“ gestorben waren, urteilten Richter im Sinne der Gesamtschuld, die auch jeden daran Beteiligten zum Täter macht, auch den Neunzigjährigen, der die Geldbörsen geleert oder Listen geführt hatte.
Der Reclam-Verleger hat wieder für notwendige und sehr gut informierende Bücher Autoren gefunden, die die Probleme kompetent darstellen. Unbedingt lesenswert.
Much, 16. März 2019
Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen
E-Mail: auffarth@uni-bremen.de
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[1] Zu den Stufen der Gesetzgebung und den Reaktionen national und international das grundlegende Buch von Peter Longerich: „Davon haben wir nichts gewusst!“ : Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933 – 1945. München: Siedler 2006.
[2] Die Entstehung der Nationalstaaten ist – neben der bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden, die der sog. Emanzipation – vielfach mit dieser Ausgrenzung verbunden: im nach-napoleonischen Deutschland mit den Hep-Hep-Krawallen (fehlen bei JK 25), im zaristischen Russland die ersten Pogrome 1905 und dann vor allem in Osteuropa: Götz Aly: Europa gegen die Juden 1880-1945. Frankfurt am Main: S. Fischer 2017.
[3] Das zeigt ein ebenfalls im Reclam Verlag veröffentlichtes Buch Steven Beller: Antisemitismus. Ditzingen: Reclam 2007, 116f zu Henry Ford.
[4] Zu Julian Kümmerle und seinen Veröffentlichungen vgl. https://uni-tuebingen.de/?id=5347. Im Folgenden kürze ich seinen Namen mit den Initialen ab: JK.
[5] Evelina Volkmann: Shoa. In: Metzler Lexikon Religion 3(2000), 302-305.
[6] Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche und die Judenverfolgung im Dritten Reich. Hrsg. von Manfred Gailus. 2008. Und meine Rezension in: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 106(2008), 257-258.
[7] Detailliert, auch zu der Rettungsaktion für Juden durch die katholische Kirche, jetzt David Kertzer: Der erste Stellvertreter. Papst Pius XI. und der geheime Pakt mit dem Faschismus. Darmstadt: Theiß 2016, 265-400.
[8] Ein wichtiges methodisches Kapitel über die sehr unterschiedlichen Erinnerungen an diese Rede Johannes Fried: Der Schleier der Geschichte. München: Beck 2004, 358-372.
[9] Man findet die hinter dem Text stehenden Endnoten auch gut, dank der Kolumnentitel.
[10] Den RSHD hat Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg: Hamburger Edition, 2002; ³2015 erforscht.
[11] Vom Justizministerium in Auftrag gegeben, erforschte eine Gruppe von Juristen und Historikern das Ministerium nach dem Krieg und die dort tätigen Juristen, viele davon mit NS-Karriere: Manfred Görtemaker; Christoph Safferling: Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit. München: C.H. Beck, 2016.
[12] Ein Personenindex fehlt empfindlich. Das sollte in einer Neuauflage ergänzt werden. – Das Gesetz hieß harmlos Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (EGOWiG) vom 24. Mai 1968, sein Verfasser war Eduard Dreher. Die Wirkung des Gesetzes hat Ferdinand von Schirach in seiner kundigen Erzählung Der Fall Collini 2011 beschrieben.