Reinhart Koselleck – Carl Schmitt:
Der Briefwechsel 1953-1983 und weitere Materialien.
Herausgegeben von Jan Eike Dunkhase
Berlin: Suhrkamp 2019.
ISBN 978-3-518-58741-6
Anregung und Widerspruch: der Geschichtswissenschaftler Reinhart Koselleck und der rechte Jurist Carl Schmitt im Gespräch
Eine Rezension von Christoph Auffarth
Kurz: Der bedeutende Historiker Reinhart Koselleck schrieb sich Briefe mit dem „Kronjuristen des Nationalsozialismus“ Carl Schmitt. Der endlich veröffentlichte Briefwechsel macht deutlich, dass Koselleck keineswegs ein ‚Schüler‘ war, wohl aber an den Konzepten eines Querdenkers interessiert war.
Ausführlich: Reinhart Koselleck (1923-2006) war einer der großen Historiker, die die Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik tief geprägt haben. Die von ihm angestoßene Begriffsgeschichte der politisch-historischen Begriffe hat er mit Kollegen und Schülern in dem 8-bändigen Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe erarbeitet.[1] Das Lexikon bleibt ein Werkzeug für jeden Historiker. Dabei entwickelte er in vielen Aufsätzen die These,[2] dass in der Zeit zwischen 1750 und 1850 sich in der Sprache eine grundlegende Veränderung zeigt, die den Absolutismus überwindet und sich öffnet für die Öffentlichkeit von Debatten und die Forderung nach Mitbestimmung an politischen Entscheidungen: die sog. Sattelzeit vor einem Epochenwechsel.[3] Die Sprache als Motor der Geschichte, nicht als nachträglicher Indikator einer Entwicklung. Kosellecks Meisterstück (Habilitation 1965) war die Darstellung der Preußischen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts,[4] unter anderem die Universitätsreform, die unter dem Namen Wilhelm von Humboldt den Weg vom Auswendiglernen in Vorlesungen zum forschenden Lernen in Seminaren eröffnete. An die Reformuniversität Bielefeld wechselte er 1973. Gemeinsam mit Hans-Ulrich Wehler, dem Meister der Sozialgeschichte, bildete er die „Bielefelder Schule“.[5]
Aber da raunt ein fragwürdiger biographischer Faden zur Dissertation ein Problem des jungen Historikers. Koselleck bezieht sich auf einen, der aufhorchen lässt: Carl Schmit (1888 – 1985), der 35 Jahre ältere, hatte Kontakt mit dem Heidelberger Promovenden, als der an seiner Dissertation Kritik und Krise. Zur Pathogenese der bürgerlichen Welt arbeitete.[6] Im Vorwort dankt Koselleck neben seinem Doktorvater Johannes Kühn: „Darüber hinaus möchte ich meinen Dank aussprechen Herrn Professor Dr. Carl Schmitt, der mir in Gesprächen Fragen stellen und Antworten suchen half.“ Carl Schmitt war der Jurist, der Hitler die Entscheidung in dem dauerhaften „Ausnahmezustand“ des Nationalsozialismus übertrug, der ‚Hüter des Gesetzes‘ zu sein, also gegen Verfassung und Gesetz entscheiden zu können.[7] Allerdings ab etwa 1936 entzogen die NS ihm die Gunst, nach 1945 verweigerte er die Entnazifizierung, verzichtete auf eine Professur, zog in seine Heimatstadt im Sauerland, blieb aber eine graue Eminenz, die viele Politiker der Bonner Republik um Rat fragten.[8] Die Verwaltungsschule in Speyer vermittelte seine Ideen an führende (CDU-) Politiker, etwa im Umkreis von Helmut Kohl der prominenteste Heiner Geißler.[9] Die Notstandsgesetze 1969 fassten den „Ernstfall“ in Ausnahmegesetze der Aussetzung der Demokratie. Einer der wichtigen Juristen hatte immer wieder Kontakt zu Schmitt: Ernst Wolfgang Böckenförde.[10]
Nun also ist der Briefwechsel veröffentlicht und der gesamte Nachlass Kosellecks liegt zur Forschung bereit im Deutsche Literaturarchiv in Marbach.[11] Der Briefwechsel beginnt Januar 1953, als Koselleck von seinem Elternhaus kommend auf dem Weg nach Heidelberg einen Zwischenstopp im Sauerland bei Schmitt einlegte und sich anschließend bedankt. Er endet mit dem 119. Brief 1983. Schmitt starb, 96-jährig 1988. Koselleck hatte Geist und Körper prägende Kriegserfahrungen gesammelt, studierte und promovierte in Heidelberg, wo er Schmitt seit 1950 mit Kommilitonen häufiger zu angeregten Gesprächen traf. Der Briefwechsel macht deutlich, dass Koselleck kein Schüler Schmitts war. Aber in dem allgemeinen Versuch der meisten in der frühen Bundesrepublik, zu einer alten Ordnung zuückzukehren, die ein Unfall von wenigen Verbrechern unterbrochen hatte, zurück in ein Schneckenhaus, suchte Koselleck Konzepte, die den Nationalsozialismus in die Geschichte einordnete und die die die Zukunft bestimmen würden: Globalisierung und die aktuellen Konflikte als Bürgerkriege, Schmitts Weltbürgerkrieg.[12] Mit dem Thema der Dissertation suchte Koselleck den Anfang dieser Entwicklung zu begreifen, aber nicht als Erfolg, sondern als Anfang einer Krankheit, Pathogenese des Bürgertums, das mit dem Krieg an sein Ende gekommen sei.[13] Trotz Englandsaufenthalt wird Koselleck nicht zum angloamerikanischen Westler, er wäre eher der „skeptischen Generation“ zuzurechnen (420). „Allen Ergebenheitsbekundungen zum Trotz erweist sich der junge Koselleck stets als eigenständiger Denker.“ (422) Dazu liest man etwa den Brief [78] als Antwort auf die Zusendung des Schmittschen Büchleins Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie:[14] Bei aller Freundlichkeit entschiedener Widerspruch. Bemerkenswert an Kosellecks Geschichtstheorie scheint mir: Während sich die deutsche Geschichtswissenschaft auf die Strukturgeschichte stürzt, Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit Statistiken als treibende Kraft der Geschichte und die handelnden Personen Marionetten (keine Täter im Lande der Täter!), bekommen Menschen bei Koselleck wieder Handlungsoptionen aus ihrem Erfahrungsraum heraus in einen Erwartungshorizont.
In den Materialien 367-407 findet sich neben Abbildungen auch ein Interview, in dem 1994 Koselleck seine Sicht auf Schmitt aus der Rückschau erläutert 373-391. Das Nachwort des Herausgebers Jan Eike Dunkhase (409-425) führt in die „asymmetrische Korrespondenz“ ein, die zum Verständnis mit Hinweisen versehen sind, auf was jeweils angespielt wird, und die dank einer großen Vertrautheit mit dem Werk beider Briefpartner die Lektüre bereichert. Ein spannender Briefwechsel (die Antworten dauerten oft lange, gehen ausführlich ein auf die Fragen oder Thesen, nicht e-mails nach einer halben Stunde) zwischen einem rechten Intellektuellen (so etwa gibt es – selten), der die Bundesrepublik kritisierte, und einem distanzierten, aber interessierten Gestalter der Theorie in der Geschichtswissenschaft.
Bremen/Much, Juli 2020 Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen
E-Mail: auffarth@uni-bremen.de
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[1] Otto Brunner; Werner Conze; Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. 8 (in 9) Bände. Stuttgart: Klett 1972-1997. Das ausführliche Register (Band 8), nach Epochen geordnet, umfasst zwei Bände. Ausgezeichnete Würdigung Christof Dipper: Die ‘Geschichtliche Grundbegriffe‘: Von der Begriffsgeschichte zur Theorie der historischen Zeiten,” Historische Zeitschrift 270 (1999), 281-308. Zum Kontext der Begriffsgeschichte und den verschiedenen Lexika von etwa 1960 bis 2000 Christoph Auffarth: Allowed and forbidden words: Canon and Censorship in ‚Grundbegriffe’, ‚Critical Terms’, Encyclopaedias. Confessions of a person involved. In: Ernst van den Hemel; Asja Szafraniec (eds.): Words. Religious Language Matters. New York: Fordham UP 2016, 211-222; 546-550. Zur Vorgeschichte vgl. Otto Gerhard Oexle: „Begriffsgeschichte“ – eine noch nicht begriffene Geschichte, in: Philosophisches Jahrbuch 116 (2009), 381–400. Peter Tietze: „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“. Richard Koebners und Reinhart Kosellecks historische Semantikforschungen zwischen Historismus und Posthistoire, in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 5/2 (2016), S. 6–22, http://www.zfl-berlin.org/tl_files/zfl/downloads/publikationen/forum_begriffsgeschichte/ZfL_FIB_5_2016_2_Tietze.pdf (13.07.2020). Ernst Müller; Falko Schmieder: Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium. stw2117. Berlin: Suhrkamp 2016, zu Koselleck 278-337. – Es fehlt dort das Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, 5 Bände 1988-2001, dazu (neben dem o.g. Auffarth) Hildegard Cancik-Lindemaier; Hubert Cancik in: Christoph Auffarth; Alexandra Grieser, Anne Koch (Hrsg.): Religion in der Kultur, Kultur in der Religion. B. Gladigows Beitrag zum Paradigmenwechsel in der Religionswissenschaft. Tübingen: Tuebingen University Press 2020, i.Dr.
[2] Gesammelt in den Bänden: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft 1979. Zeitschichten 2000. Begriffsgeschichten: Studien zur Semantik und Pragmatik der politische und sozialen Sprache 2006. Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. 2010. Alle bei Suhrkamp Frankfurt am Main.
[3] Sattelzeit im Vorwort zum Lexikon GGB 1 (1972), xv „Der heuristische Vorgriff führt sozusagen eine ‚Sattelzeit‘ ein, in der sich die Herkunft zu unserer Präsenz wandelt. Entsprechende Begriffe tragen ein Janusgesicht: rückwärtsgewandt meinen sie soziale und politische Sachverhalte, die uns ohne kritischen Kommentar nicht mehr verständlich sind, vorwärts und uns zugewandt haben sie Bedeutungen gewonnen, die zwar erläutert werden können, de aber auch unmittelbar verständlich zu sein scheinen. Begrifflichkeit und Begreifbarkeit fallen seitdem zusammen.“ – neben Sattelzeit wird auch der Begriff Schwellenzeit genannt.
[4] Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848. Stuttgart: Klett 1967.
[5] Bielefeld war eine neugegründete Reform-Universität (wie Bochum und Konstanz), die nach Grundsätzen der SPD-Regierung zu einer ‚Gesamthochschule‘ ausgebaut werden sollte: Kosellecks Klage über seinen Entschluss, dorthin zu wechseln [80], bes. S. 249. Den Anspruch, auch die Kulturgeschichte (nach dem sie um 1900 schon einmal eine Blüte hatte, Max Weber und Ernst Toeltsch zählt man dazu) für die Bielefelder zu reklamieren, widersprach Otto Gerhard Oexle zu recht: Geschichte als Historische Kulturwissenschaft in: Wolfgang Hardtwig/Wehler (Hrsg.): Kulturgeschichte heute. Göttingen: Vandenhoeck &Ruprecht 1996, 14-40.
[6] Diss. Heidelberg 1954. Gedruckt Freiburg: Alber 1959. Als Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 36 in Frankfurt am Main 1973 nachgedruckt und seither viele Male (112010). Übersetzungen in viele Sprachen, aber erst 1988 englisch. Materialreich, aber in Vielem durch den Briefwechsel zu korrigieren https://de.wikipedia.org/wiki/Kritik_und_Krise (14.7.2020).
[7] Koselleck rezipierte Schmitt ohne die den NS rechtfertigenden Schriften und ohne den Antisemitismus, wie er später in dem abgedruckten Interview 373-391 erklärt.
[8] Eine Untersuchung dieses Netzwerkes hat Dirk van Laak durchgeführt: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik. Berlin: Akademie 1993 (=²2000). Zu Koselleck 224-226. Reinhard Mehring: Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie. München: Beck 2009, zu Koselleck 512f; 525f., im Register „vertrauter Schüler“.
[9] Der wichtigste Übermittler von Carl Schmitts Konzepten war Helmut Quaritsch. Ein Brief K’s an ihn ist S. 370-372 gedruckt.
[10] Lesenswert Horst Dreier: Das Böckenförde Diktum. In: H.D.: Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne. München: Beck ²2018, 189-214. Das berühmte Zitat. „Der freiheitliche, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“
[11] Nachlass: https://www.dla-marbach.de/bibliothek/spezialsammlungen/bestandsliste/bibliothek-reinhart-koselleck-provenienz-und-sammlungserschliessung/(13.7.2020“).
[12] Schmitt ließ sich zu einer Rezension überreden (zwei Fassungen S. 367-369). Die Rezension erregte Jürgen Habermas zu seinem Verriss (der nicht abgedruckt ist): Verrufener Fortschritt – verkanntes Jahrhundert. Zur Kritik der Geschichtsphilosophie. in: Merkur 14, Nr. 147 (1960), 468-477. Kosellecks Reaktion 34 Jahre später im Interview mit Claus Peppel S. 385.
[13] Zu den Entstehungsbedingungen der Dissertation in Heidelberg s. Sebastian Huhnholz: Von Carl Schmitt zu Hannah Arendt? Heidelberger Entstehungsspuren und bundesrepublikanische Liberalisierungsschichten von Reinhart Kosellecks „Kritik und Krise“. Berlin: Duncker & Humblot 2019. Mit der Rezension von Peter Tietze in H-Soz-Kult 3.9.2019. Die Arbeit beruht auf Archivstudien im Koselleck-Nachlass (oben Anm. 8). – Schmitts erste Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität erschien 1922.
[14] Erik Peterson hatte seinem Freund Carl Schmitt die Erledigung jeder politischen Theologie vorgehalten, die Schmitt in Politische Theologie II. Berlin: Dunker&Humblot 1970 zurückweist. Schmitt hielt sich an die Politische Theologie des Eusebius, der in Konstantin Gottes Eingreifen in die Geschichte interpretierte, vgl. 308/311. Seit 1930 hatte die beiden Freunde in Aufsätzen diskutiert, ob es ein solches Eingreifen Gottes in die Geschichte geben kann: Schmitt bejahte es mit Eusebius (und es ging in dem historischen Disput um die Gegenwart, um Hitler), Peterson widersprach mit Augustinus. Koselleck schließt sich dem Augustinus an.