Jochen Bauer:
Religionsunterricht für alle
Eine multitheologische Fachdidaktik
Stuttgart: Kohlhammer 2019
ISBN 978-3-17-037460-7
Eine Rezension von Dennis Breitenwischer
In kaum einer passenderen Reihe als „Religionspädagogik innovativ“ hätte die Studie von Jochen Bauer, des Fachreferenten für Religionsunterricht in Hamburg, erscheinen können, und zwar aus zwei Gründen: Zunächst reflektiert Bauer in seiner Dissertation „Religionsunterricht für alle. Eine multitheologische Fachdidaktik“ das wohl innovativste Modell des Religionsunterrichts (RU) in Deutschland, nämlich den Hamburger Religionsunterricht für alle (RUfa), in seiner Genese und Weiterentwicklung. Des Weiteren versammelt die bei Kohlhammer erscheinende Reihe neben Studien- auch Lehr- und Arbeitsbücher und wagt somit den wichtigen und in der wissenschaftlichen Religionspädagogik nicht immer anzutreffenden Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis. Genau in diesem Geist ist Bauers beinahe 500 Seiten umfassendes Werk verfasst, das nicht nur eine Fachdidaktik für den RUfa entwirft, sondern in seiner ganzen Anlage einen didaktischen Anspruch verfolgt. Dieser wird durch die vom Autor entwickelten, die komplexen Textinhalte illustrierenden und aufschlüsselnden Grafiken genauso dokumentiert wie durch die zahlreichen, den Lesegang strukturierenden Zwischenfazite, die helfen, in dieser umfangreichen Studie den Überblick zu behalten.
Bauer kommt aus der (schulischen) Praxis und nutzt diesen Vorteil, um die Entwicklung eines Modells des RU auf induktive Weise in der gegenwärtigen religionspädagogischen Forschung zu situieren, beide Perspektiven auf den RU ins Gespräch zu bringen und so das Werden des RUfa 2.0 auf einer höheren bzw. theoretischen Ebene zu reflektieren. Dass hier ein fortlaufender, noch nicht abgeschlossener Prozess zum Gegenstand von Forschung wird, die in dieser Studie zudem noch multiperspektivisch herangezogen wird, führt notwendig zu einer Tast- und Suchbewegung des Autors auf dem Weg zu einer für den RUfa 2.0 passenden Didaktik. Durch die klare Strukturierung der Promotionsschrift in fünf größere Abschnitte verlieren die Leser*innen jedoch nicht die Orientierung. Das vierzigseitige Literaturverzeichnis bezeugt die Breite der Reflektion über das thematisierte didaktische Modell und bietet den Rezipienten einen Fundus für die weitere Beschäftigung mit der entfalteten multitheologischen Fachdidaktik.
Abb.: Bauer, Jochen (2019), a.a.O. S.8.
Das von Bauer gezeichnete „Didaktische Strukturmodell des Religionsunterrichts für alle“ bildet in einem Quader den RU als didaktischen Raum ab, wobei die „raumbezogene Metaphorik impliziert, dass Lehr- und Lernprozesse […] immer in allen Dimensionen gleichzeitig erfolgen und deshalb auch nur dreidimensional erfasst und gestaltet werden können“ (a.a.O., S. 83). Um der Gleichzeitigkeit des unterrichtlichen Vorgehens in der Ungleichzeitigkeit einer Studie Herr werden zu können, kümmert sich der Autor zuerst um die Wände des Raums, die Rahmenbedingungen des RU, also die rechtliche, die politische und die Seite der Schüler, nachdem er sich in einem diesen Überlegungen gleichsam vorgeschalteten Kapitel der didaktischen Aufgabe vergewissert, vor der die Entwicklung einer Fachdidaktik des RUfa stehe.Für alle Leser*innen, die nicht dabei gewesen sein können oder dabei gewesen sind, erscheint hier der Überblick über die Geschichte des RU in Hamburg besonders informativ.
Das Kapitel über den Entwicklungsrahmen der im Verlauf der Dissertation entworfenen multitheologischen Fachdidaktik, die den sich im RU zeigenden „Religionen im Plural und Differenz“ (a.a.O., S. 70) gerecht zu werden sucht, präsentiert den Leser*innen die Bezugswissenschaften dieser Didaktik: eben mehrere gleichberechtigte Theologien und ihre Fachdidaktiken sowie die Kultur-, Religions- und Sozialwissenschaften. Dabei kommt es Bauer darauf an, keinen „supra-religiöse[n] Weg“ (a.a.O., S. 77) einzuschlagen, der die Differenzen unsachgemäß glättete, sondern der Vielfalt der Religionen und Konfessionen“ (a.a.O., S. 77) im RU durch differenzbewussten Dialog zu begegnen. Im Sinne der multitheologischen Didaktik begleiten und formen Differenzbewusstsein, Dialogfähigkeit und das dialektische In-Beziehung-Setzen fortan als zentrale Denkfiguren die gesamte Studie.
In der Beschreibung des RU als didaktischen Raum beschäftigt sich Bauer im zweiten Kapitel ausführlich mit der rechtlichen Seite des RUfa und beleuchtet seine Stellung im Hinblick auf die Erfordernisse des Art. 7,3 GG. Er reflektiert die Konzeption des RUfa im Vergleich zu anderen Modellen des konfessionellen RU, der ja auch ein Religionsunterricht für alle letztlich bleibt, wie im dritten und vierten Kapitel deutlich wird, wenn Bauer Wahrheitsfrage und Wahrheitsanspruch im RU bedenkt. Wenn schon aus rechtlicher Sicht der RU auf die „Identitätsbildung in der eigenen Religion“ (a.a.O., S. 114) abziele, dann gerät unweigerlich die politische, vor allem aber die Schüler-Seite des didaktischen Raums in den Blick. Politisch wird gefragt, welche Rolle der RU in einer pluralistischen Gesellschaft spiele. Seine politische Aufgabe sieht der Autor darin, eine „Dialogstrategie“ (a.a.O., S. 145) zu realisieren, die auf die „Ambivalenz des Religiösen“ (S. 145) antworte. Die Pluralität der Gesellschaft erweist sich selbstverständlich auch auf der Seite der Schüler*innen, die von Formen des Traditionsabbruchs, der Individualisierung und Säkularisierung unmittelbar betroffen sind. Die dadurch entstehende Vielfalt in den Lerngruppen müsse ein „pluralismusfähiger“ (a.a.O., S. 165) RU aufgreifen und unterschiedliche religiöse Erfahrungen reflexiv in einen Dialog bringen. Dabei dürfe er „weder Klassenrat noch religiöse Plauderstunde“ (a.a.O., S. 170) werden, sondern orientiere sich selbstverständlich an den klassisch gewordenen, von Klafki und Meyer formulierten didaktischen Prinzipien.
Den Kern der Studie wie auch des didaktischen Strukturmodells bilden die didaktischen Dimensionen des RUfa, die Inhalts-, Identitäts- und Wahrheitsdimension, die der Autor im dritten Kapitel entfaltet. Sie entwickelt Bauer auf Basis von Pollaks den funktionalen und subtanziellen diskursiv verbindenden Religionsbegriff, den er um die Überlegung von Hervieu-Léger ergänzt:
„Religion gibt Menschen rückversichernde Orientierung bei ihrer Kontingenzbewältigung, indem sie durch religiöse Sinnformen in kollektive Erinnerungen einbindet und so zwischen Immanenz und Transzendenz vermittelt.“ (a.a.O., S. 177)
Bestimmend für alle drei Dimensionen ist eine „Subjekt-Objekt-Struktur“ (ebd.), die an den dialektischen Polen aller drei Dimensionen augenfällig wird. Exemplarisch soll diese dialektische Struktur an der Identitätsdimension aufgezeigt werden, weil hier das dialogische In-Beziehung-Setzen als zentrale didaktische Orientierung RUfa firmiert. Der Subjekt-Objekt-Struktur verpflichtet wird zunächst die personale Identität der Schüler fokussiert. Ebenso wie in allen anderen Kapiteln gewährt der Autor einen facettenreichen Überblick über die verschiedenen Perspektiven auf ein Phänomen. Hier erklärt er zuerst am Beispiel von Erikson die Zugangsweisen der Entwicklungspsychologie auf den Identitätsbegriff, hernach die Auffassungen von „Patchwork-Identität“ (a.a.O., S. 211) und fragmentarischer Identität, bevor er zum die weiteren Überlegungen leitenden Gedanken der „narrativen Identität“ kommt, die er auf Basis von Schäfer und Ricœur vorstellt. Die Überlegungen, dass Menschen ihre Identität immer auch in sozialen Kontexten gewinnen, führen die Leser*innen von der Subjektseite des Identitätsbegriffs auf dessen Objektseite, die kulturelle Identität. Hier erscheint Bauer Assmanns Forschung zum kulturellen Gedächtnis entscheidend für das Ziel des RU, nämlich der „Enkulturation in den religiösen Diskurs einer spezifischen Tradition“, wobei „Schülerinnen und Schüler zur eigenständigen Teilnahme am religiösen Diskurs in einer religiös-kulturellen Tradition zu befähigen“ (a.a.O., S. 220) seien. In einem RU für alle könne dies nur in einem „religionsrelational verankerte[n] Dialog“ (a.a.O., S. 238) gelingen, der „eigene Religiosität“ (Belief), die eigene „Hintergrundreligion“ (Belonging) (a.a.O., S. 232) auf Seiten der Lehrer*in und die entsprechenden Religionen der anderen Schüler*innen in ein Gespräch bringe.
Die klare Orientierung auf „dialogisches Lernen im Unterricht“ als „eine weitere Form des interreligiösen Dialogs“ (a.a.O., S. 244) vermeide eben, die „Dichotomie von Eigen und Fremd“ (S. 226) zu verfestigen. Immer vorausgesetzt, die „Religionszugehörigkeit der Lehrkraft“ werde nicht als „Norm und Normalität inszeniert“ (a.a.O., S. 227) und Schüler*innen nicht als „Vertreter ihrer Religion“ (a.a.O., S. 228) begriffen bzw. letztlich missbraucht. An dieser Stelle erkennt man, wie eng Inhalts- Wahrheits- und Identitätsdimension miteinander verknüpft sind und dass alle Dimensionen didaktisch durchdachte Lernarrangements geradezu herausfordern. Sie fasst Bauer unter dem Begriff der „didaktischen Orientierung“ (a.a.O., S. 287) zusammen. Im Rekurs auf Klafkis Vorstellung der doppelseitigen Erschließung und den von Nipkow/ Schweitzer in die Religionspädagogik eingeführten Gedanken der Elementarisierung etabliert der Autor auch hier wieder einen dialektischen Zugriff, der am Beispiel der Identitätsdimension auf Dialogorientierung einerseits und auf religionsspezifische Orientierung andererseits zielt. Bauer entwickelt angelehnt an Ricœurs mimetisch-hermeneutisches Modell seine didaktischen Prinzipien und die daraus folgenden Phasen des Unterrichts in drei (Verstehens-) Stufen: (1) Involvierung (Vorverständnis der Schüler*innen), (2) Erkundung in religionsspezifischen Modulen, (3) Transformation (des Vorverständnisses) (vgl. a.a.O., S. 338 ff.). Die didaktische Unterrichtsgestaltung legt Bauer dabei in modularen Dialogzyklen an, die jeweils alle drei Phasen des Verstehens beinhalten. Methodisch wird u. a. auf das eingeführte Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen abgestellt, das dem Anspruch an dialogisches Lernen sui generis entspreche.
Neben dieser Schülerorientierung betrachtet Bauer ausführlich die anderen didaktischen Akteure des Unterrichts. Ihnen, den Lehrer*innen und nachgeordnet dem Material, widmet er das fünfte und letzte Kapitel seines Buches, das er beinahe spielerisch mit zehn pointierten Leitbildern für Lehrer*innen abschließt. Als Leser ist man sofort geneigt, sich einem Typus zuordnen zu wollen, womit der didaktische Anspruch dieses Lehrbuchs an die Leser*innen explizit spürbar wird.
So stellt Bauers Studie nicht nur eine Reflektion der religionsunterrichtlichen Entwicklungen in Hamburg dar, sondern gibt auch Hinweise für eine gelingende Praxis des anspruchsvollen Modells eines Religionsunterrichts für alle. Dabei tappt Bauer in seiner Doppelfunktion als Autor und Fachreferent nicht in die Falle, durch normierende Aussagen Unterrichtspraxis bestimmen zu wollen. Vielmehr macht er die gegenwärtige Weiterentwicklung des RU transparent und zeigt in groben und feinen Linien auf, wie der RU der Pluralität und Differenz von Religionen in einer (großstädtischen) modernen Gesellschaft gerecht werden könne. Mit einer interessierten Fragehaltung lädt der Autor die Leser*innen zum Mit-, Nach- und Weiterdenken ein.
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Dieser Beitrag wurde vom Vorstand der Vereinigung Hamburger Religionslehrerinnen und Religionslehrer e.V. im August 2020 zugesandt.
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