Gelebte Reformation

Francisca Loetz (Hrsg.in): Gelebte Reformation. Zürich 1500–1800

Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 2022.
ISBN 978-3-290-18468-1
544 S.; € 60,00

 

Wie veränderte die Reformation das gesellschaftliche Leben langfristig?
„Gelebte Reformation“ in Fallbeispielen.

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Kein Jubiläumsbuch! Eine historische Bestandsaufnahme prüft an Fällen, die in den Archiven dokumentiert und untersucht sind, wie theologische Ideale der Reformatoren und Normen der Obrigkeit langfristig zu Änderungen führten im Vergleich zu vorher und drei Jahrhunderten nachher, zu katholischen Orten. Exzellent geplantes und herausgegebenes Buch, auch in der Gestaltung ein Schmuckstück! Es präsentiert ein frisches Bild auf das reformierte Zürich 1500-1800. Unter den Reformationsbüchern herausragend.

Ausführlich:
In der Reformationsdekade, den zehn Jahren der Vorbereitung auf das Jubiläum 500 Jahre Reformation 2017,[1] sind zahlreiche Bücher erschienen. Das hier vorzustellende Buch ist m.E. das wertvollste und anregendste. Das Jahr 1517, dessen gedacht wurde, ließ so viele Publi­kationen darauf verfallen, sich doch wieder auf Luther und die theologischen Programme zu konzentrieren, mit den Kirchenordnungen die Reformation ‚eingeführt‘ zu denken. Aber Programme und Gesetze sind noch nicht die Umsetzung in die Lebenswelt. Deshalb hat die Zürcher Frühneuzeit-Historikerin Francisca Loetz[2] in den Titel gesetzt ‚Gelebte‘ Reformation und viele Bereiche mit einbezogen, die in den meisten Reformationsgeschichten nicht behandelt werden.[3] Zum zweiten verblüfft weiterhin, dass der Zeitraum nicht mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 oder dem Westfälischen Frieden 1648 endet, sondern bis 1800 reicht.[4] Die Konzeption der polyzentrischen Reformation hat in der Dekade nur eine geringe Rolle gespielt; es ging ja auch um ein politisch gewolltes Fest in den ‚Neuen Bundesländern‘.[5] Das hier vorliegende Buch konzentriert sich auf Zürich, weitet aber die Epoche ‚Reformation‘.

Nun also das Buch zur ‚gelebten‘ und zur ‚langen‘ Reformation. Die einzelnen Teile werden mit das Leben widerspiegelnden, einander ergänzenden Handlungen überschrieben.

(1) Sich abgrenzen und sich annähern mit folgenden Kapiteln: André Holenstein zeigt an der Religions- und Machtpolitik, dass die katholischen Orte mit einer Allianz mit Mächten außerhalb der 13 Orte der Eidgenossenschaft liebäugelten, dann aber zugunsten des Mächtegleichgewichts innerhalb der Eidgenossenschaft davon abließen. Die zwei ‚Zürcher Disputationen‘ auf Deutsch im Rathaus 1523 vor 600 Interessierten durchgeführt, gaben Zwingli die Gelegenheit, vor seinen Kritikern die Grundsätze der Reformation auszuführen (Fabrice Flückiger, 32-48). Der Rat als Schiedsrichter erkannte an, dass die Bibel die Richtschnur aller Reformen sein müsse. (Im Unterschied zu Luther lehnte Zwingli die Einberufung eines Konzils ab – aus gutem Grund). Bei der Disputation im katholischen Baden 1526 wäre die Reformation fast gescheitert,[6] aber als Bern nach einer Disputation 1528 die Reformation annahm, stand Zürich nicht mehr allein in der Eidgenossenschaft. – Das Problem mit den ‚Türken‘ behandelt Francisca Loetz (49-65) sehr konzentriert auf Züricher Begegnungen mit Ländern und Personen, die man für ‚Türken‘ hielt und mit entsprechenden Bildern vom Orient und von brutalen Kämpfern begegnete. Die Frage, ob man den Koran in Übersetzung drucken und damit allgemein zugänglich machen dürfe, unterstützten die Reformatoren-Humanisten.

(2) Lesen und Lernen ist die nächste Abteilung überschrieben. Da geht es um die Frage, welche Kriterien ein reformierter Pfarrer erfüllen müsse (Bruce Gordon, 68-80); um die philologisch genaue Übersetzung der Zürcher Bibel (Anja Lobenstein-Reichmann 81-104 sehr gute Beispiele für die ‚didaktische Philologie‘) und die Frage, wer konnte in dieser Zeit so anspruchsvolle Texte lesen (Michael Egger: ein [mehrheitlich] lesendes Volk, 105-127).

(3) Sehen und Hören ist das Thema des nächsten Teils. Da geht es um die Veränderung des Stadtbildes infolge der Reformation (Martina Stercken 130-146).[7] Der Bildersturm war offenbar nicht so umfassend und gewaltsam (wie später in Basel und Bern. In Zürich ein „Bildersturm fast ohne Sturm“),[8] aber die Klöster wurden aufgelöst,[9] neu genutzt als Schulen oder Spitäler oder abgerissen. Öffentliche Inszenierungen und Feste wie Fastnacht werden abgeschafft, aber die Hinrichtung der Täufer 1527 wurde zum Schauspiel für die ganze Stadt. Wie verändert sich das Theater? (Hildegard E. Keller, 147-165). Das Theaterwesen in Zürich war – im Unterschied zu fast allen städtischen Theatern in Europa, abgesehen von London – sehr lebendig;[10] die Texte konnte man anschließend gedruckt kaufen und lesen. Bis der Antistes Breitinger mit seinem Bedencken von Comoedien und Spilen 1624 das Theaterspie­len für hundert Jahre lahmlegte, u.a. mit dem Argument, dass Theater katholisch sei: die Jesuiten hatten das Genre entdeckt. – Bilder waren in Frage gestellt durch das Bilderverbot. Die Reformierten trennten es als ‚zweites Gebot‘ vom lutherischen ‚ersten‘ ab und hoben es so heraus: Wie strikt handhabten die Zürcher dieses Verbot? (Carola Jaeggi, 166-184, hier 169). Auch hier ist die ‚lange Reformation‘ von Bedeutung. Die meisten Veränderungen an der mittelalterlichen Stadt bewirkten erst rund 80 Jahre später die reformierte Orthodoxie und noch weitergehend der Klassizismus zwei Jahrhunderte später. – Der Teil endet mit „Singen als Herzensgebet“ (Francisca Loetz und Jan-Friedrich Missfelder, 185-208). Rund 70 Jahre gab es gar keine Musik in den reformierten Gottesdiensten, bevor 1598 der Gemeinde- und Chorgesang eingeführt wurden. Zwingli störte, dass man die lateinischen Worte meist nicht verstand, zu Hause oder in der Schule dürften die Zürcher dagegen singen. Dafür gab es mehrere gedruckte Gesangbücher mit neuen Liedern auf Deutsch.

Der vierte Teil ist „Streiten und Bezeugen“ überschrieben. Er beginnt mit den kirchlichen Verhältnissen im Dorf (Peter Niederhäuser, 212-232) und erzählt dann vom Streit im Wirtshaus (Nicole Zellweger 233-248). Radikaler noch als Zwingli waren die Täufer, weil sie ihr Leben ganz umstellten als Jünger Jesu, dafür aber vom Staat verfolgt wurden (Urs B. Leu 249-265): weil sie nicht ihre Kinder taufen ließen, keinen Eid schworen u.a. Obwohl sie nach dem Desaster des Täuferreichs von Münster auf jede Gewalt verzichteten, galten sie als Störer der Ordnung und wurden vertrieben oder sogar zum Tode verurteilt.

(5) Ausgrenzen und Aufnehmen. Die Armenpolitik unterschied würdige und unwürdige Arme (Markus Brühlmeier und Dominik Sieber, 268-288). Auch hier eine lokale Studie, die zeigen will, dass mit der Reformation die Armut zum Makel geworden sei. Arme hatten nicht mehr als Beter für das Seelenheil der Spender:innen eine erwünschte Funktion. Auch die Zentralisierung der Armenversorgung beim Rat der Stadt begann schon vor Zwingli. Aber dass das meiste Geld, das gestiftet wurde, ging an die Kleriker, für Seelenmessen, Kerzen etc.; das änderte sich. Das Verbot des Segnens und Heilens sprachen die Reformatoren aus, weil das teuflische Magie sei, obwohl die Heiler:innen biblische Formeln verwen­deten (Eveline Szarka, 289-302). Auch hier kommt die Prüfung der ‚langen‘ Reformation zu dem Ergebnis, dass die Norm erst um ein Jahrhundert ‚versetzt‘ durchgesetzt wurde, zwei Jahrhunderte später aber ‚auslief‘, also nicht mehr angewendet wurde (300). – Was geschah mit den etwa 100 Mönchen und 150 Nonnen auf Zürcher Gebiet? (Peter Niederhäuser, 304-321) Während die Männer heirateten und einen Beruf ausübten (für das geistliche Amt waren die meisten nicht gebildet genug) oder auswandern konnten, war die Situation für die Nonnen wenig aussichtsreich. Die meisten blieben in der Wohngemeinschaft bis zu ihrem Tod, knapp versorgt vom Rat.

Nicht eheliche Sexualität Dulden und Bestrafen ist der 6. Teil überschrieben. Gerade für diese Fragestellung sind die ‚gelebten‘ Fälle, über die Aussagen in den Archiven verwahrt sind (rund 275 Bände des Ehegerichts, s. Abb. S. 330), Abbilder der Realitäten: Heterosexuelle Paare vor Gericht (Francisca Loetz, 324-339), die Prostituierten im reformierten Zürich (Adrina Schulz, 340-351) und Homosexualität (Markus Brühlmeier, 352-370) werden in spannenden Fällen vorgestellt.

Glauben und Zweifeln, der siebte Teil, handelt von der ‚Realität‘ von Gespenstern und der Leugnung der Reformatoren, dass man sie vertreiben könne. (Eveline Szarka, 374-390). Wenn Gespenster ein Haus befallen, dann sei das Gottes Prüfung, der man durch Buße zum Glauben entgehe. Das Delikt der Gotteslästerung hat Francisca Loetz (391-409) schon in ihrer großen Untersuchung bearbeitet und dabei herausgestellt, dass oft auch angesehene Bürger bestraft wurden, aber die Strafen doch eine Resozialisierung ermöglichten. Das Kapitel über die Zürcher Pfarrer (Nicole Zellweger, 410-429) macht deutlich, dass die wenigen Pfarrer im reformierten Zürich (nicht mehr der Hundertschaft eines eigenen Standes Kleriker) sich als Teil der Obrigkeit verstanden, die der ‚Gerechtigkeit Gottes‘ schon im Diesseits zur Macht verhelfen müsse. Neben Mahnen und Lehren sind Pfarrer bei Foltern und Hinrichtungen beteiligt, um in der Todesstunde die Seele noch zu Gott zu führen, „eine ambivalente Rolle […] zwischen empathischer Lebenshilfe und strenger Zurechtweisung“ (426). Das fällt zum Teil unter die gewählte Überschrift „Trost“, aber eben auch unter Psychoterror, denn wer anders als die Pfarrer, die das studiert hatten, wussten über das Schicksal der Seele nach dem Tode.

Da viele der aus dem Leben gegriffenen ‚Fälle‘ aus archivalischen Quellen identifiziert, mühsam entziffert und in den Kontext der zuständigen Gerichte und Institutionen gestellt werden müssen, ist der Teil 8: Quellen (431-517) mit Einführungen versehen zu Briefen 433-, Mandaten 444-, dem Antistitialarchiv (447- Der Antistes ist der ‚Vorsteher‘ der Zürcher Kirche). Kundschaften (451-), Sillstandsprotokolle (455- Das sind Verhandlungen der lokalen Laien-Gerichte zu Fällen der Moral in Ehe, Armenwesen) und Objekte, die etwa Aussagen über die Einhaltung von Kleiderregelungen erlauben. Es folgen Quellenbeispiele zu einzelnen Kapiteln in der Originalsprache zeilengetreu transkribiert und mit einer kurzen Zusammenfassung eingeleitet (466-517: 13 Texte). Eine Chronologie, die wesentlichen Unterschiede zwischen evangelischem und katholischem Glauben, das Register beschließen den Band.

Das Buch ist von der Herausgeberin überaus sorgfältig geplant, redigiert, gegengelesen und vom Verlag geradezu bibliophil gestaltet.[11] Dazu gehören auch die vielen farbigen Abbildun­gen, je mit einer erklärenden Legende. Die konsequent historischen und lokalen Unter­suchungen (ohne dass die Mühen der Forschung kleinteilig benannt werden, stattdessen eine strikte Argumentation), je im vergleichenden Blick auf vorausgehende und folgende Zeiten wie auch zu altgläubigen ‚katholischen‘ Orten verändert das Bild von Zürich und seiner Reformation erheblich: „[D]ie konfessionelle Voreingenommenheit in der Geschichtsschrei­bung des frühen 20. Jahrhunderts, welche lange prägend blieb, obwohl sie der Situation […] wenig gerecht wird.“ (314) Das Buch sollte Vorbild für die Wahrnehmung der Reformation auch anderen Orten werden, sowohl in methodischer wie theoretischer Hinsicht.

 

Bremen/Wellerscheid, November 2023                                                     Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Die scharfe Kritik an der Dekade und dem Jubiläum Hartmut Lehmann: Das Reformationsjubiläum 2017. Umstrittenes Erinnern. (Refo500 70) Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2021.

[2] Francisca Loetz ist seit 2003 Professorin an der Universität Zürich für Frühe Neuzeit. Studien in Heidelberg, Canterbury, Cambridge und Paris. Für ihre Habilitationsschrift „Mit Gott handeln. Das Delikt der Gotteslästerung im Kommunalstaat Zürich (16. bis 18. Jahrhundert)“ arbeitete sie schon im Archiv in Zürich. Aus der Arbeit in diesem unvergleichlich reichen Schatz sind viele ihrer Aufsätze und Bücher entstanden. Ihre Homepage Prof. Dr. Francisca Loetz | Historisches Seminar | UZH (5.11.2023).

[3] Dass Religion nicht mit Theologie, also den gewünschten und vorgeschriebenen Programmen oder kontrollierten Normen gleichzusetzen ist, hat die Forschungsmethode ‚lived religion‘ sich zur Aufgabe gemacht, vgl. für die Antike Jörg Rüpke etwa in dem Buch Religion in the Roman Empire, 2021 rezensiert https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/01/14/religion-in-the-roman-empire/ (14.1.2022). Vgl. auch Lived religion – Wikipedia (5.11.2023).

[4] Zur These, dass Die Reformation ein (auslösendes) Ereignis, weniger ein Prozess sei, vgl. meine Rezension Anfänge und Bruch. Thomas Kaufmann: Der Anfang der Reformation. 2012.   sowie https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/09/16/aneignungen-luthers/ (16. September 2022).

[5] Polyzentrik bei Irene Dingel: Geschichte der Reformation. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2018 mit den vier Zentren Wittenberg – Zürich – Straßburg – Genf. Etwas blass bleibt das Handbuch zur Schweizer Reformation, das sogar Genf ausklammert: Amy Nelson Burnett/ Emidio Campi (Hrsg.): Die schweizerische Reformation. Ein Handbuch. Zürich: Theologischer Verlag Zürich, [2017] 2017. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2018/06/16/handbuch-schweizerische-reformation/ (16.6.2018).

[6] Dazu die Rezension: http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2016/03/19/die-badener-disputation/ (19.3.2016).

[7] Die Frage hat der Rezensent für Bremen bearbeitet: Wie ändern die Reformationen das Bild einer Stadt? Die zwei Reformationen in Bremen. Religionsästhetik als verknüpfendes Konzept, in: Tilman Hannemann (Hrsg.): Studien zur Reformation in Bremen. (VIRR Veröffentlichungen des Instituts für Religionswissenschaft und Religionspädagogik 8) Bremen 2016, 27-82. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:46-00105487-18 (3.9.2016). Weitergeführt auf Englisch in: In: Alexandra Grieser; Jay Johnston (ed.): Aesthetics of Religion. A Connective Concept. (Religion and Reason 58) Berlin: de Gruyter 2017, 189-209.

[8] So im übernächsten Kapitel Carola Jäggi 171. Erinnert sei an die großartige Ausstellung in Zürich: Cécile Dupeux; Peter Jezler: Bildersturm – Wahnsinn oder Gottes Wille? Zürich 2001. Einen Bildersturm in Wittenberg durch Andreas Karlstadt (172 mit Anm. 13) hat es nicht gegeben (Natalie Krentz: Ritualwandel und Deutungshoheit. Die frühe Reformation in der Residenzstadt Wittenberg 1500-1533. Tübingen 2014, 200-242).

[9] Christine Christ-von Wedel: Die Äbtissin, der Söldnerführer und ihre Töchter. Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2019. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2019/11/20/die-aebtissin-der-soeldnerfuehrer-und-ihre-toechter/ (20.11.2019).

[10] Auf Altgriechisch führten die Studenten die Komödie Plutos (Reichtum) von Aristophanes auf [nicht Plautus; einer der seltenen Fehler]. Wer Aristophanes übersetzen kann, für den ist das Griechisch der Neuen Testaments eine leichte Übung.

[11] Martin Sallmann hat eine ausführliche, sehr positive Besprechung veröffentlicht (zuletzt angesehen 13.11. 2023): https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-129223.

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