Ernst Troeltsch: Vorlesungen zur Glaubenslehre.
(Kritische Gesamtausgabe 26)
Herausgegeben von: Friedrich Wilhelm Graf
Berlin: De Gruyter 2023.
XXII, 836 Seiten.
ISBN 978-3-11-127355-6.
Keine Dogmen mehr: Troeltschs ‚Glaubenslehre‘
Eine Rezension von Christoph Auffarth
Kurz: Um die Jahrhundertwende 1900 hielt Ernst Troeltsch (1865-1923) vielfach eine Vorlesung „Glaubenslehre“, die keine Dogmen vorschrieb, sondern die Vielfalt von Glaubensgemeinschaften innerhalb der evangelischen Kirche zum Prinzip macht: Es gehe in der ‚Lehre von Gott‘ (Theologie) nicht um die Definition von Gott, sondern um das Bewusstsein von Gott bei den Gläubigen (und Ungläubigen). Eine hervorragende kritische Neuausgabe bietet Text(e) und Kontexte.
Ausführlich:
Zu den Aufgaben des Professors für systematische Theologie an der Universität Heidelberg gehörte die große Vorlesung. Das Verzeichnis aller von Ernst Troeltsch angebotenen Lehrveranstaltungen ist im Anhang 2, Seite 723-730 zu finden. Alle zwei Jahre hielt ET in zwei aufeinanderfolgenden Semestern je fünfstündig die Vorlesung „Glaubenslehre“. (alternierend mit Ethik, Dogmatik, Dogmen- und Theologiegeschichte). Die Ethik-Vorlesung soll als Band 27 der KGA erscheinen.[1]
Von der Vorlesung gibt es kein eigenhändiges Manuskript ETs (wie ja überhaupt der Nachlass verloren ist). Der junge Professor, seit 1894 als 29-Jähriger an der badischen Landesuniversität in Heidelberg tätig, wurde als feuriger Vortragender bewundert, weil er so gar nicht dem Bild der „‘Mandarine‘ der Zeit entsprach.[2] Er las er kein Manuskript vor, vor allem kein Handbuchwissen, sondern konnte aus der Fülle der riesigen Zahl der aktuell erschienenen Bücher, die er rezensierte, die gerade diskutierten Fragen erläutern.[3] Ein amerikanischer Student, der ihn 1912 in Heidelberg hörte, gab folgendes Urteil:
That a new School will form itself about him is unlikely; his teaching is too individualistic for that. But many a student is attracted by his powerful reasoning, fearlessly critical of all the prevailing tendencies – orthodox, Ritschlian, Hegelian, pragmatic – and gets from him a deeper hold on the realities of the spiritual life and a stronger faith in Christianity as the permanent expression of that life.[4]
Doch dank der Aufmerksamkeit der Herausgeber konnten drei Notizbücher (‚Kladden‘) entdeckt und erworben werden, die Mitschriften von drei Vorlesungen ETs enthalten. Zudem ist die eine Vorlesung, die Glaubenslehre schon einmal in Buchform erschienen: Eine Studentin hörte 1911/12 die Vorlesung und gab sie 1925 heraus. Diese Studentin, Baronin Gertrud von Le Fort, hielt Kontakt, auch als ET Professor in Berlin wurde und unterstützte die Familie mit Lebensmitteln aus ihrem Gutshof, als nach dem Ersten Weltkrieg in der Großstadt alles rar wurde. Die Korrespondenz, die Danksagungen sind erhalten und im Band 22 (Briefe V, 1918-1923) der KGA ediert.[5] Die Edition von Gertrud von Le Fort ist S. 401-699 abgedruckt, unverändert, aber mit Kommentaren und einem ausführlichen Editionsbericht 307-399, der auf Archivstudien beruht. Über die mühseligen Abstimmungen mit der Witwe Marta Troeltsch und die Vermittlung durch den Heidelberger Kirchenhistoriker Hans von Schubert berichtet FWG 315-390. Sie hütete den Nachlass, aber anders als die Witwe Max Webers, Marianne, investierte sie kaum Arbeit in die Ausgabe, aber machte immer neue Auflagen, wie die Editionen erfolgen sollte.
So konnte Friedrich Wilhelm Graf also eine Edition in dreifacher Version erarbeiten: (1) die sorgfältige Abschrift einer Mitschrift der Vorlesungen aus dem SoSe 1906 und WiSe 1906/07. Der Verfasser ließ sich nicht ermitteln (S. 111-257). Dazu kommen (2) die „Diktate zur Dogmatik“ aus dem SoSe 1908, die Karl Barth sich abschrieb, als er in Marburg studierte (259-306). Und (3) die vielfach wörtliche Wiedergabe der Vorlesung in der überarbeiten Mitschrift von Gertrud von Le Fort (307-699). Über die Begründung der kritischen Edition der KGA berichtet der Herausgeber. Vor allem aber ordnet der Herausgeber aus einer umfassenden und intimen Kenntnis des Gesamtwerkes die Vorlesung in einer Wissenschaftsgeschichte ein und berichtet vom Profil des so eigenständigen Entwurfs einer Glaubenslehre.[6] Unter den intensiven Forschungen zu Troeltsch und seinem Umkreis seit 1985[7] sind auch die Hörer und Hörerinnen der Vorlesungen untersucht, die dafür (beträchtliche) Hörergelder bezahlten.
Der Titel der Vorlesung „Glaubenslehre“ lässt etwas von der Herangehensweise ETs erkennen. FWG zitiert, dass ET schon beim Doktor-Examen eine These vorgelegt und verteidigt hat, „Das wissenschaftliche Moment der Dogmatik liegt in der Prinzipienlehre; bei der Darlegung der Glaubensinhalts selbst kann von Wissenschaft im strengen Sinne nicht mehr die Rede sein.“ (KGA 1, 70; KGA 26, 4). FWG stellt die Glaubenslehre unter die Überschrift „Dogmatik als praktische Theologie“ (62). ‚Dogmatik‘ beurteilte ET ambivalent: Einerseits hielt er sie als Hauptzweck der Theologie und schrieb zahlreiche Artikel zu den großen Themen für die Die Religion in Geschichte und Gegenwart1, dem Lexikon für Laien und Gelehrte des Protestantismus. Andrerseits bearbeitete er nicht die ‚ewig gültigen‘ Loci, sondern zielte auf „eine neue, wahrhaft moderne Dogmatik für die Umbruchzeit.“[8] Nicht Gott, sondern nur das menschliche Bewusstsein von Gott konnte das Thema der Glaubens-Lehre sein (67) und damit knüpfte er an die ‚Bewußstseinstheologie‘ Friedrich Daniel Schleiermachers an.[9] Letztlich sei eine ‚kirchliche‘ Dogmatik eine überholte Stufe der Christentumsgeschichte.[10] In der Moderne kann es nur um ein persönliches Bekenntnis gehen; die Volkskirche umfasse verschiedene Glaubensgemeinschaften, die je ihre eigenen dogmatischen Leitfäden vertreten (75); es gibt keine Dogmen mehr (77). Und eine Glaubenslehre müsse ohne Widerspruch mit den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Rationalität bestehen können, ohne dass es um eine Unterordnung gehe, sondern um das Aushandeln von Gegensätzen („Zusammenbestehbarkeit“ 77-80).[11] FWG erläutert auch grundlegend Nähe und Distanz ETs zu Schleiermacher (82-102).
Gegenüber der ersten Buchausgabe sind die beiden Versionen wertvoll, unvergleichlich aber bleibt die Arbeit, die Gertrud von Le Fort geleistet hat, um einen Eindruck vom Redner ET zu vermitteln, der über seinen Glauben spricht als einem sich verantwortenden Wissenschaftler. Die umfassende Einordnung durch den Herausgeber zeigt Absicht und Rezeption, nachdem sich bereits mit der Dialektischen Theologie und dem katastrophalen Ende des Ersten Weltkriegs die Situation völlig anders darstellte als zu der Zeit, als ET die Vorlesungen hielt. Liberal und weltoffen, tolerant gegenüber anderen Meinungen war zu einer verpönten Haltung geworden, auch bei vielen, die ET zugehört hatten.
Bremen/Wellerscheid, Februar 2024 Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen
E-Mail: auffarth@uni-bremen.de
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[1] Der Editionsplan der KGA ist 833-836 zu finden. Demnach stehen noch sechs Bände in acht Teilen aus. Hervorzuheben ist, dass die Reihe weiter in Fadenheftung und in Leineneinbänden erscheint.
[2] Fritz K. Ringer (1934 in Ludwigshafen – 2006 in Washington D.C.) arbeitete die Bedingungen der Karrieren der Universitätslehrer in Deutschland heraus und bezeichnets sie als ‚Mandarine‘, also die sprichwörtlich unterwürfigen Diener des Staates wie in China: The Decline of the German Mandarins: The German Academic Community 1890–1933. Harvard 1969; dt. 1983, später im Vergleich mit den französischen Universitäten: Fields of knowledge: French academic culture in comparative perspective 1890–1920. Cambridge: CUP 1992; dt. 2003.
[3] Die unglaubliche Fülle der von ihm rezensierten Bücher wird deutlich in den Bänden 2, 4 und 13 der KGA und der Bibliographie der in den Büchern und Aufsätzen aus vielen Gebieten der Geisteswissenschaften, die die Herausgeber je in einer eigenen Rubrik der Bibliographien genau gelistet haben. Für das englischsprachige Publikum habe ich berichtet, zuletzt Numen 70(2023), 633-634.
[4] Lucius Hopkins Miller (1876-1949) 1913, zitiert KGA 26,3. – Albrecht Ritschl war der Professor für Dogmatik, der als der wichtigste Vertreter der ‚modernen‘ liberalen Theologie, gegen dessen Theologie aber die jungen Wilden der theologischen Fakultät in Göttingen die (informelle) ‚Religionsgeschichtliche Schule‘ bildeten. Während viele von denen (wie Wilhelm Bousset) länger auf keine Professur berufen wurden, wurde ET schon mit 27 Jahren Professor erst in Bonn, dann in Heidelberg und schließlich (nachdem er 1908 schon einmal gescheitert war) als 50-Jähriger in Berlin.
[5] Siehe den Index der KGA 22! Lange Briefe ET an Le Fort (114-120; 160-162), zeitweilig stand im Raum, dass GvL in der großen Wohnung der Troeltschs in Berlin ein Zimmer beziehen könnte. Im vorliegenden Band KGA 26 ist ein Foto (S. 703) abgebildet, das Ernst, Marta und den spätgeborenen Sohn zeigt am Strand von Warnemünde (vgl. 311: im Jahre 1917); GvL als Freundin der Familie, sitzt davor im Sand. Ausführlich FWG in diesem Band 308-315. GvL wurde zu einer bedeutenden Schriftstellerin; sie konvertierte 1925 zum Katholizismus, verstand das aber nicht als Abkehr vom Protestantismus, sondern als „eine persönlich vollzogene Vereinigung“ (309). Marta Troeltsch weigerte sich, den Namen GvL auf dem Titelblatt zu gestatten (353f) und wollte zunächst das ganze Honorar für sich behalten, lenkte dann aber ein (383).
[6] Friedrich Wilhelm Graf hat als Krönung seiner lebenslangen Forschungen eine Biographie verfasst, vgl. „Advokat(en) einer liberalen Theologie: Ernst Troeltschs Biographie von Friedrich Wilhelm Graf“: Friedrich Wilhelm Graf: Ernst Troeltsch. Theologe im Welthorizont. Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2022. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/03/04/ernst-troeltsch-biographie/ (4. März 2023).
[7] In einer eigenen Reihe von FWG und Horst Renz hrsg. Troeltsch-Studien 1(1982) – 11 ETs Historismus (2000) und Troeltsch-Studien Neue Folge 1 (2006) – 7 (2021), wobei zuletzt 4: Briefwechsel Le Fort – Gogarten 2022 erschienen ist, sind Beiträge zu Kongressen und Monographien erschienen.
[8] FWG 67 in Aufnahme eines Zitats von Hans-Joachim Birkner 1987. Neben der Formulierung des ‚evangelischen Bekenntnisses‘ in der Confessio Augustana 1530 blieb grundlegend der Kommentar des Humanisten und Wittenberger Kollegen Luthers, Philipp Melanchthon, in den Loci Communes (Peter Litwan, Sven Grosse [Hrsg.]: Loci praecipui theologici nunc denuo cura et diligentia Summa recogniti multisque in locis copiose illustrati 1559. Studienausgabe Lateinisch-Deutsch. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018) bzw. auf reformierter Seite Jean Calvin Institutio Christianae Religionis (zuerst 1536, dritte völlig umgearbeitete Fassung 1559). – Die entsprechenden Texte von ET zur Dogmatik in KGA 3 und KGA 10 sind noch nicht ediert.
[9] 67-69. Da der Begriff von den Kritikern formuliert wurde, breitet FWG in einem Exkurs (69-73) ETs Begriffe aus und gibt die Belegstellen, etwa für ‚Melanchthons Definitionstheologie‘ gegen die Spekulationstheologie.
[10] 74. Genau das aber nahm sich der reformierte Theologe Karl Barth vor in seiner Kirchlichen Dogmatik 1932-1967 in 13 Teilbänden, unvollendet. Sie richtete sich in ihrer dialektischen Theologie gegen Schleiermacher und damit gegen Troeltsch. Vgl. 94 Anm. 432 zu einem Aufsatz von Eilert Herms und S. 101 zu Schleiermachers Bezug auf die evangelische Kirche.
[11] ETs Freund Max Weber dagegen entfernte sich vom Christentum v.a. seiner Mutter, weil man dafür seinen Verstand ‚opfern‘ müsse (sacrificium intellectus). Christoph Auffarth: Opfer. Eine Europäische Religionsgeschichte. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2023, 201.