Martin Baumann; Alexander-Kenneth Nagel:
Religion und Migration.
(Studienkurs Religion)
Baden-Baden: Nomos, 2023.
242 Seiten.
ISBN 978-3-8487-7916-1.
24 €.
Religion der Migrant:innen als Brücke und als Zaun: ein Lehrbuch
Eine Rezension von Christoph Auffarth
Kurz: Das wichtige Lehrbuch gibt dichte Informationen zu Forschungen, Ergebnissen und Methoden aus der Religionswissenschaft zur wechselseitigen Bedeutung (intersection) von Migration und Religion. Beide Autoren haben lange Forschungserfahrung, vor allem mit sozialwissenschaftlichen Projekten, aus denen sie lebendige, lebensnahe Beispiele vorstellen.[1]
Ausführlich:
Von den beiden Autoren sind der eine, Martin Baumann, Religionswissenschaftler mit sozialwissenschaftlichem Schwerpunkt,[2] der andere, Alexander-Kenneth Nagel, Soziologe mit religionswissenschaftlichem Schwerpunkt.[3] Obwohl das Thema Migration ein vielbeforschtes Thema in vielen Disziplinen darstellt, ist das Thema Migration und Religion selten Gegenstand, dafür aber mit vielen Vorurteilen – auch von Wissenschaftler:innen – beschwert und mit politischen Forderungen befrachtet (s. S. 26 „Islamisierung der Integrationsdebatte“). „So scheint uns, dass sich […] eine säkularistische Norm etabliert hat, die Religion in der Moderne für überwunden hält. […] Gerade in den Sozial-, Medien- und Erziehungswissenschaften, die seit den 1960er Jahren einen markanten Aufschwung erlebten, gilt vielen Forscher:innen Religion als ein Relikt des 19. Jahrhunderts.“ (200) Das zweite Kapitel (35-57) zeichnet nach, wie aus dem negativen Diaspora-Begriff für Juden und Jüdinnen das (eher positive) Analyse-Modell in den Kultur- und Sozialwissenschaften wurde. Das jüdische Verständnis Golah/ Galut (zum intransitiven Verb גלה ‚in die Verbannung verschleppen, deportieren‘) ist nicht das Gleiche wie Diaspora, dessen positive Bedeutung ‚Samen ausstreuen‘ erst später auf ‚Zerstreut Sein‘ eingeengt wurde. Dabei ist das oft verwendete Dreieck (S. 39; 50) ein Konzept, das gerade für Jüd:innen nicht zutrifft vor der Bewegung des Zionismus im Kontext der Bildung der sog. Nationalstaaten (und da auch nur für eine Minderheit der Jüd:innen).[4]
Der Mythos der Nostalgie auf die ‚Heimat‘ bezogen ist zu Recht in den Hintergrund getreten. Stattdessen hat die Diaspora-Forschung seit den 1990er Jahren erst einmal verschiedene Typen unterschieden:[5] erzwungene Vertreibung (Opfer) – Arbeitsdiaspora – Handelsdiaspora – imperiale Diaspora – kulturelle Diaspora. Das heißt, einer passiven Vertreibung stehen proaktive Mobilität gegenüber. Auch für die jüdische Diaspora hat Cohen darauf hingewiesen, dass der einseitig betonten Opferrolle andere Aspekte der aktiven Eingliederung in die Aufnahmegesellschaft gegenüber stehen.[6] Im Nahostkonflikt bekämpfen sich zwei Opfernarrative einander, Shoah und Nakba, die längst nichts mehr mit der jetzigen Realität zu tun haben.[7] Die Kriterien von Cohen 2008 sind auf S. 45 kurz zusammengefasst. Schließlich erläutern die Autoren das Modell von Steven Vertovec 46-48, das dann zu den neuen Forschungen zu transnationalen Netzwerken führt (die durch die leichtere Kommunikation mittels Handys intensiviert wird).[8] Von hoher Bedeutung ist die dritte Generation ‚mit Migrationshintergrund‘, die von der ‚Heimat‘ nur noch von Besuchen oder Erzählungen weiß, vielleicht noch die Sprache beherrscht (Phasenmodell; dazu eindrücklich Baumann 2002). – Kapitel 3: Religion, Migration und gesellschaftlicher Zusammenhalt (59-79). Hier werden Fragen der sog. ‚Integration‘ behandelt. Dabei steht im Mittelpunkt der (National-) Staat, der durch Gesetze und Grad der Durchsetzung in Justiz und Polizei die Bedingungen schafft, an die sich Migrant:innen anpassen oder eine Strategie der Vermeidung aufbauen. Auf der anderen Seite setzen die Staaten Bedingungen für die Migration, ein ‚Migrationsregime‘ 65-79.
Kapitel 4 bringt die Selbstorganisation von Migranten ins Spiel, die sich meist über das Feiern ihrer Religion zusammenfinden (81-108). Anstelle des Verdachtes der Parallelgesellschaft hat AN in seinen Forschungen herausgefunden, wie diese Organisationen (auch Moscheegemeinden 77) sowohl Heimat als auch Brückenorte sind (instruktive Grafik 86f), benennt aber auch die Grenzen (91-94). In Kapitel 5 geht es dann um Forschungen zur persönlichen Religiosität (109-131), qualitativ untersucht an Tibetern in der Schweiz und sunnitischen Muslimen in Deutschland: Migranten werden religiöser als vor dem Umzug und zugleich müssen sie ihre Religion anpassen an die neue Lebenswelt. Das ändert sich in der zweiten Generation, geschlechtsspezifisch, in der Gewichtung von Tradition und Selbst; sie wird individueller und pragmatisch in ihrer Religionsausübung.[9]
Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit „Anwendungsfeldern“: Kapitel 6 Die Auseinandersetzung um repräsentative religiöse Architektur beschäftigt sich nach einer theoretischen Einführung in die Raumsoziologie (Lefebvre; Martina Löw) vorwiegend mit Schweizer Beispielen. Neben dem Volksentscheid zu den Minaretten erstaunt, dass auch christlich-orthodoxe Kirchen Mühe mit der Erteilung von Baugenehmigungen hatten. Konkrete Beispiele erläutern, welche Fehler bei der Vorbereitung solcher Bauanträge gemacht wurden und welche Strategien den Weg dorthin erleichtern. Kapitel 7 untersucht Aktivitäten des „Dialogs“, verschiedenen Formen vom Schulgottesdienst bis zum interreligiösen Friedensgebet im Rathaus. Wenn es in die Öffentlichkeit geht, sind immer die big five zu beteiligen, also die sog. Weltreligionen Christentum in katholischer, evangelischer und orthodoxer Konfession, Judentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus, dazu können Vertreter lokaler kleinerer Gemeinden eingeladen werden. Muslime zu integrieren ist eine wesentliche Motivation: „Ihre Teilnahme stellt faktisch eine Art Minimalbedingung für den interreligiösen Dialog dar.“ (175) Dabei spielen aber die innerislamischen Differenzen keine Rolle. Politik sieht im interreligiösen Dialog ein Instrument des kooperativen Problemlösungshandelns, wertet dabei die Vertreter der ‚großen‘ Religionen auf zulasten der kleineren religiösen Gruppierungen. Eine gewisse religiöse Kompetenz bei Politiker:innen sei zur Einschätzung nötig, wen man einlädt und damit stärkt. So war die Zusammenarbeit mit der DITIB, der von der türkischen Regierung bestimmten Organisation (vgl. 179), lange die einfachste Lösung, bis dann die Einweihungsfeier der Moschee in Köln zeigte, dass der türkische Präsident für eine Rede eingeflogen wurde, die Oberbürgermeisterin der Stadt aber ausgeladen wurde. (Dazu Kapitel 9) War hier von der lokalen Ebene hin zur Regierbarkeit (governance) der Bogen des Kapitels geschlagen, so stellt das Kapitel 8 die übernationale Dimension von religiöser Vergemeinschaftung dar. Die transnationale Vernetzung gilt als riskant für den Aufnahmestaat, ist aber im Sinne des obigen Schemas ein Grundelement. Das nicht nur in der Verbindung zum Heimatland, sondern auch mit Diaspora-Gruppen in anderen Ländern. Durch den Medienwandel besonders hin zu den preisgünstigen und nahezu synchronen Gesprächen über die Sozialen Medien spielen Territorium und nationale Grenzen keine Rolle mehr für die ‚Deterritoriale Vergemeinschaftung‘. Das eröffnet auch anderen Autoritäten Aufmerksamkeit wie den ‚Cyber-Muftis‘, die auf Fragen, wie man sich religiös korrekt in einer fremden Umgebung verhalten solle, Fatwas erteilen, die auch von anderen gelesen werden. Spannend ist auch das andere Beispiel einer Hindu-Gruppe, die sich in England selbst organisierte, für heilige Orte (shrines) in der Heimat, im indischen Punjab, Spenden organisierte, und in England sich gegenseitig unterstützte, so dass sie gegenüber der großen Mehrheit der Sikhs, die sie als „Unberührbare“ verachteten, einen rasanten Aufschwung erlebten. Kapitel 9 berichtet über Religionskompetenz in der Einwanderungsgesellschaft (199-218). Dem Thema Schule als Zwangsinstitution („unausweichlich“), dem alle Migrant:innen als Kinder und in der zweiten Generation ausgesetzt sind, bedürfte größerer Aufmerksamkeit. Die drei Seiten 211-214 sind gut und verweisen auf ein Praxisbuch, aber das Thema hat sehr viel mehr Facetten.[10]
Der Band ist als Lehrbuch gestaltet: Die Kapitel beginnen mit einer Zusammenfassung, in gerahmten Absätzen werden Definitionen hervorgehoben, Kurzbiographien. Am Schluss der Kapitel stehen Reflexionsfragen und Denkanstöße sowie Literatur zur Einführung zum jeweiligen Kapitel. Abgeschlossen wird das Buch durch eine umfangreiche Bibliographie 219-237, ca. 360 Titel, vorzugsweise in Deutsch und Englisch, sowie ein Register zu Namen und Stichworten.[11] Das Buch ist erschienen in der Reihe Studienkurs Religion. Dort liegen bereits vor Sebastian Gäb: Religionsphilosophie 2022. Oliver Freiberger: Religionsvergleich 2022. Anna-Katharina Höpflinger und Yves Müller: Religionen und Tod 2022. Der Schwerpunkt liegt durch die sozialwissenschaftliche Herangehensweise nur auf der Moderne; Historisches fehlt fast völlig. Doch das hervorragend gearbeitete Lehrbuch gehört in die Reihe von Büchern, die jede:r Religionswissenschaftler:in, ob Studierende oder Lehrende, durchgearbeitet haben muss, um grundlegende Voraussetzungen für Veränderungen von Religionen zu kennen. Auch in der Verwaltung und Polizei sind die vorgestellten Erkenntnisse Lehr- und Lernstoff für die im Kapitel 9 erklärten Grundsensibilisierung für Religionskompetenz. Das Buch bündelt Forschungen und informiert sehr ausgeglichen Ergebnisse, strukturiert erhellend durch (öfter neue) Kategorien den theoretischen Zugang, der dann mit Fallbeispielen konkretisiert wird. Auf so knappem Raum kann man das nicht besser machen. Und ein Thema ist erschlossen, zu dem es solch ein Lehrbuch noch nicht gab. Gratulation!
Bremen/Wellerscheid, Februar 2024 Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen
E-Mail: auffarth@uni-bremen.de
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[1] Das ausführliche Inhaltsverzeichnis result_katan.pl (bsz-bw.de) (12.12.2023).
[2] Martin Baumann ist Prof. in Luzern/Schweiz seit 2001. Seine Homepage Prof. Dr. Martin Baumann – Universität Luzern (unilu.ch) (28.10.2023).
[3]Alexander-Kenneth Nagel ist Professor in Göttingen seit 2015. Die Homepage Prof. Dr. Alexander-Kenneth Nagel – Georg-August-Universität Göttingen (uni-goettingen.de) (28.10.2023).
[4] Wie im Fall der türkischen Arbeitsmigration das Aufnahmeland unterstellte, dass die Migranten ihren Ruhestand im ‚Heimatland‘ verbringen wollten, so gibt es einen ‚christlichen Zionismus‘, der Jüd:innen unterstellt, dass sie eigentlich ‚zurück nach Jerusalem‘ ziehen wollten, ein Land, das niemand realiter kannte, sondern nur noch als Metapher. Zum christlichen Zionismus s. Shlomo Sand: Shlomo Sand: Die Erfindung des Landes Israel. 2012. Meine Rezension (11. Juli 2013) http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2013/07/11/die-erfindung-des-landes-israel-mythos-und-wahrheit/. Baumann/Nagel verweisen S. 46 auf den einseitigen Mythos von den „Glaubensflüchtlingen“.
[5] Wegweisend das Buch Global Diasporas von Robin Cohen, dessen erste Auflage 1997 grundlegend überarbeitet wurde ²2008 (³2022).
[6] Cohen verweist auf die Jüd:innen, die, auch nachdem eine Minderheit 532 v.Chr. zurück nach Israel gewandert war (und auch dort als Minderheit das nachexilische Judentum bestimmte), in Babel blieben und dort eine blühende Gemeinde Yehud bildeten, und u.a. dort der babylonische Talmud das Leben in der Diaspora gestaltete.
[7] Anne Rohrbach: Erinnerungskultur und kultureller Widerstand in den palästinensischen Gebieten. Jenin, „Cinema Jenin“ und das „Freedom Theatre“. Bielefeld: transcript 2017.
[8] Bei Suhrkamp erscheint 2024 eine Übersetzung von Vertovec‘ Superdiversity.
[9] Das Buch thematisiert mit seinem empirisch-sozialwissenschaftlichen Anspruch kaum historische Untersuchungen. Für die Antike zuletzt Christoph Auffarth: Religion im Gepäck. Von Migranten und religiösen Virtuosen im römischen Kaiserreich. In: Ciprian Burlacioiu (Hrsg.): Migration and Diaspora Formation: New Perspectives on a Global History of Christianity. (Arbeiten zur Kirchengeschichte 152) Berlin: De Gruyter 2022, 37-66.
[10] Eine gute Studie teilnehmender Beobachtung vor allem an Schülerinnen hat Assia Harwazinski veröffentlicht: Islam als Migrationsreligion. Vom Umgang der Deutschen mit ihrer muslimischen Minderheit am Beispiel der Region Stuttgart. Marburg: Tectum 2004.
[11] Die Stichworte des Index sind teils etwas pauschal, etwa „Islam“ mit 32 Einträgen, aber nicht differenziert. Das Stichwort „Islamkonferenz“ etwa fehlt. Zu ‚Ehrenmorden‘ steht etwas auf S. 185.