Richenhagen Jerusalem

Elisabeth Richenhagen: Schon stehen wir in Deinen Toren, Jerusalem.
Pilgerwesen und Jerusalembild am Vorabend des Ersten Kreuzzuges.

(Orbis Mediaevalis: Vorstellungswelten des Mittelalters 18)

Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2023.
ISBN 978-3847110811

 

Pilger machen sich auf nach Jerusalem:
Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Ein wichtiges Forschungsprojekt für das Verständnis der Kreuzzüge stellen die Pilgerfahrten dar; nicht einfach als Vorstufe, sondern gerade in der Verschiedenheit zu den späteren Kreuzzügen stellt das Phänomen der Pilgerfahrten in großen organisierten Gruppen ein Thema dar, das zwar schon in einzelnen Ereignissen erforscht wurde, aber noch nicht systematisch für das ganze 11. Jahrhundert, bevor am Ende des Jahrhunderts 1095 Papst Urban II. den Aufruf zum Ersten Kreuzzug predigte. Elisabeth Richenhagen hat das Thema für ihre Dissertation erforscht.[1] Dafür erweitert sie die Quellenbasis enorm und umfassend. Zwar sind „aus dem 11. Jahrhundert keine klassischen Pilger- und Reiseberichte […] überliefert“ (30). ‚Klassisch‘ meint die Erzählung einer individuellen Pilgerschaft, etwa die der Egeria.[2] Dafür aber gibt es andere Quellen-Gattungen (Graphik VII 4, S. 389: prozentual aus den 260 Quellen): Historiographische, hagiographische Quellen, Urkunden, Briefe, Sonstige). Eine Leitfrage bildet: „Warum rückt angesichts der biblischen und liturgischen Allgegenwart des Himmlischen Jerusalems im 11. Jahrhundert die irdische Stadt wieder in den Fokus?“ (29).[3]

Die I. Einleitung (11-47) erläutert Forschungsstand, das Quellenkorpus,[4] Methoden und theoretische Herangehensweise, und die mittelalterlichen Vorstellungen von Jerusalem.

Der Teil II. Die Suche nach Jerusalem am Vorabend des Ersten Kreuzzugs (49-94) kontrastiert in tiefgehender Interpretation Briefe und Texte zur Gegenüberstellung des irdischen zum himmlischen Jerusalem. Dahinter steht eine soziale Differenz und deren Rechtfertigung: Im Prinzip dürfen Mönche gar nicht auf Pilgerreise, haben sie doch die stabilitas loci geschworen, dass sie ihr Kloster nicht mehr verlassen werden. So ergeben sich Argumente, warum ihr Leben im Kloster mehr wert sei, als sich auf die Reise nach Jerusalem einzulassen. Sie seien mit ihrer Askese auf der ‚Reise‘, die sie endgültig in das himmlische Jerusalem führt.[5] ER kann eine ganze Reihe von Beispielen von Mönchen auf Pilgerfahrt anführen, aber doch meist als gerade noch gut gegangenes eigenmächtiges Verhalten, das im Nachhinein verziehen wird, etwa Lambert von Hersfeld (83): die Autoren der Texte sind meist selbst Mönche. Deutlich wird aber schon eine neue Rolle: Äbte und Bischöfe als Organisatoren und Führer großer Pilgerfahrten (87-89: der byzantinische Mönch Symeon ‚von Trier‘). Für Laien dagegen wird die Pilgerfahrt in (oft von Äbten und Bischöfen) organisierten größeren Gruppen ein empfohlenes Ziel, das Heil zu erlangen.

III. Exil/Liminalität/Läuterung auf dem Weg nach Jerusalem (95-172): Warum doch das lebensbedrohliche Abenteuer der Reise nach Jerusalem? Peregrinus (und verwandte Begriffe) ist nicht einfach als ‚Pilgerschaft hin zu einem heiligen Ort‘ zu verstehen, obwohl das Wort dann zur meist gebrauchten Bezeichnung wurde.

Augustinus wird oft ungenau herangezogen: Er verwendet den Gegensatz civis/civitas – peregrinus mit der präzisen römischen Terminologie: Bürger, Bürgerschaft – Nichtbürger. D.h. das Wort enthält weniger eine Bewegungsdynamik, sondern einen Statusunterschied. Christen sind schon Bürger bei Gott („Gottesstaat“ für civitas Dei trifft nicht), dafür peregrini Nichtbürger gegenüber der civitas terrena der Bürgerschaft auf Erden.[6]

Die Pilgerfahrt als Exil wird teils als weltliche Strafe ausgesprochen, häufiger aber als satis­factio gegenüber Gott verstanden und freiwillig auf sich genommen. Die große ‚deutsche‘ Pilgerfahrt von 1064/65 interpretiert ER vorzüglich auf die Topoi hin, die sie biblischen Exempeln gleichstellt (145-151; 159). Dabei wird deutlich: Die Heilsgeschichte ist nicht mit den biblischen Ereignissen und Gottes wunderbarem Eingreifen damals abgeschlossen, sondern sie wird fortgeführt bis in die Gegenwart.[7] Auch sonst gelingt es der Autorin, die Traditionslinien der Pilgerfahrt zu skizzieren, dabei aber herauszuarbeiten, was im 11. Jahrhundert anders und neu ist.

  1. Erinnerung und Vergegenwärtigung in Jerusalem (173-252). An den verschiedenen Deutungen des Wortes „wo seine Füße standen“ (ubi steterunt pedes eius Psalm 132,7) entwickelt ER eine reizvolle Entfaltung von der Verkörperung und Materialisierung der Kontaktreliquie Jerusalem. Die heiligen Orte (loca sancta) berührt, emotional beweint, geküsst, einen Krümel davon mit nach Hause gebracht zu haben ist der Höhepunkt (und gleichzeitig der Wendepunkt für die Rückreise) der Pilgerfahrt. Die Grabeskirche steht in der Bedeutung vor allen anderen Orten: im gleichen Gebäude der Felsen von Golgata, die Höhle, wo das Kreuz gefunden wurde (wo an der Treppe unzählige Pilger ein Kreuz in die Wände geritzt haben) und das winzige Gebäude mit dem Grab, in das immer nur drei bis maximal fünf Menschen hineingelassen werden. Die Griechen nennen sie ‚Auferstehung‘, die Lateiner „Grab“. Das Grab des Lebenden, dieses Oxymoron („was sich beißt“) gibt die Gewissheit, dass der Erlöser als erster auferstanden ist und damit den Tod auch für alle Christen überwunden hat. Auffälligerweise wissen nur wenige im Westen, dass die Grabeskirche erst wenige Jahre zuvor, im Jahre 1009, zerstört worden war,[8] aber gerne behauptet man, dass die Juden und die Muslime die Christen behindern wollen in ihrem verkörperten Glauben, der in Reliquien materiell mächtig (ER verwendet und erklärt die Mächtigkeit virtus am Ort) und transportabel ist.[9]
  2. Eschatologie und Apokalypse in Jerusalem (253-305). Sehr wichtig ist schließlich die Diskussion, ob die Pilgerfahrten (und die Kreuzzüge) apokalyptisch motiviert waren. Die Vermutung, dass die Vollendung des Millenniums, also der tausend Jahre nach Christi Geburt bzw. seiner Kreuzigung und Auferstehung in Verbindung mit Apk. 20, die Christen in eine Ekstase versetzt habe, die sie an den Ort des jüngsten Gerichtes eilen ließ, erweist sich als falsch. Nicht das Weltende, sondern das individuelle Ende lässt Menschen die Pilgerfahrt nach Jerusalem als die heilsmächtigste Form auf sich nehmen, wohl wissend, dass sie auf dem Weg sterben könnten. Das zeigen u.a. Testamente, die die Pilger vor ihrem Aufbruch aufsetzen ließen.[10]

Die Lektüre setzt die Kenntnis des Lateinischen voraus. ER beherrscht die Sprache der Quellen wie auch der Begriffssprache. Fehler in den vielen Zitaten habe ich keine gesehen. ER übersetzt viele der Zitate erstmals auf Deutsch, es bleiben aber auch viele Quellen und Begriffe ohne Übersetzung. Ein Register zur Erschließung dieses gehaltvollen Buches fehlt leider.

Elisabeth Richenhagen ist ein wichtiges Buch gelungen, das die Kreuzzugsforschung bedeutend voranbringt; es stellt auch ein hervorragendes Beispiel dar für die in der Mediävistik gerade diskutierten kulturwissenschaftlichen Themen.  Ihre Fähigkeit zur Erschließung von Quellen, die von Historikern bisher gemieden wurden (wie der als notorisch in den Fakten und Datierungen ungenau geziehenen Rodulfus Glaber S. 362-373) oder hagiographische Legenden (beispielsweise die doppelte Legende von Erzbischof Ursus von Bari S. 165f, die in  Bari anders erzählt wird als im gegnerischen Montecassino). Wichtig die Zielsetzung von ER: „um zeitgenössische Vorstellungen nachvollziehen zu können und anachronistischen Fehlschlüssen vorzubeugen“ (95). Was Carl Erdmann vor bald 90 Jahren als Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens so eindrücklich auf verschiedenen Ebenen untersucht hat,[11] das hat ER für das Pilgerwesen als eine Wurzel hier weitergeführt, auf breitere Basis gestellt und eindrücklich präzisiert.

Was den Ausblick auf die Kreuzzüge, besonders den Ersten Kreuzzug angeht – das ist nicht der Gegenstand des Buches –, so ist die Formel von der „Bewaffneten Pilgerfahrt“ (zusam­menfassend ER 313) und die These vom Kreuzzug des Papstes falsch: Weder trugen die Pilger des 11. Jahrhunderts keine Waffen bei sich noch sind die Krieger der Kreuzzüge in erster Linie Pilger.[12] Vielmehr sind die Teilnehmer am Ersten Kreuzzug (und die des von Peter dem Eremiten angeführten Zuges) ganz unterschiedlich in ihrer sozialen Stellung wie in ihrer Motivation. Pilger ziehen zusammen mit Kriegern in einem joint venture. An der Situation um Antiochia, ein dreiviertel Jahr erst Belagerer, dann Belagerte, kommt es zur Krise: Die Pilger und ihre Geistlichen wollen weiter nach Jerusalem und von dort wieder nach Hause, die Krieger (mit ihren Geistlichen)[13] wollen Land erwerben und bleiben. Der päpstliche Leiter Ademar hatte schon vorher kaum Einfluss auf das Verhalten der Krieger, schon gar keine Herrschaft, aber nun war er gestorben. Gehen die Krieger weiter mit den Pilgern nach Jerusalem oder haben sie ihr Ziel erreicht? Da wird ein einfacher Mann zum Anführer, autorisiert durch Visionen des verstorbenen Ademar und durch die wahre oder falsche Reliquie der Heiligen Lanze.[14] – Wie gesagt, das ist nur ein Ausblick, nicht das Untersuchungsprojekt dieser Dissertation. Sie führt die Forschung wirklich weiter und ist eine sehr gute Monographie für die neuen Fragestellungen der Mediävistik.

 

Bremen/Wellerscheid, April 2024                                                             Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de 

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[1] Dr. Elisabeth M. Richenhagen studierte Geschichte, Philosophie und Politische Wissenschaft in Bonn und Paris, Frankreich. Während ihrer Promotion war sie am DHI Paris und als Visiting Scholar am Oxford Centre for Global History, Großbritannien, tätig und wurde 2017/18 an der Universität Bonn bei Prof. Matthias Becher promoviert. Vgl. (23) Elisabeth Richenhagen | LinkedIn (19.03.2024). Den Namen kürze ich ab mit den Initialen ER.

[2] Das Reisebuch Itinerarium (Ende des 4. Jahrhunderts) der wohlhabenden Dame (auch Aetheria) aus dem spätantiken Spanien wird immer wieder beachtet und liegt in zweisprachigen Ausgaben vor: von Georg Röwekamp (Fontes Christiani) Freiburg: Herder, 1995, ³2018 und von Kai Brodersen (Sammlung Tusculum) Berlin: de Gruyter 2017.

[3] Das war auch meine Leitfrage in meiner Dissertation an der theologischen Fakultät Groningen Mittelalterliche Eschatologie 1996, erweitert gedruckt als Irdische Wege und Himmlischer Lohn. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2002, von der ER wichtige Anregungen aufgenommen hat (15-17; 270 Anm. 1103 und öfter).

[4] Das am Lehrstuhl in Bonn erarbeitete Repertorium Saracenorum, hrsg. von Matthias Becher und Katharina Gahbler (ER 41 Anm. 116) präsentiert u.a. die Pilgerfahrt von 1045/46 mit lateinischem Text und deutscher Übersetzung der Annales Altahenses 0007 – Repertorium Saracenorum (uni-koeln.de) (8.4.2024).

[5] ER führt erst spät das grundlegende Argument der stabilitas loci ein (76-78; zu stark 80f: Das früh­mittelalterliche [irische und angelsächsische] Mönchtum als peregrinatio kann hier nicht angeführt werden). Der Papst schloss im Kreuzzugsaufruf von 1095 Mönche von der Teilnahme aus. – ER geht – sinnvollerweise – über den Zeitraum, den sie sich eigentlich gesteckt hat, das 11. Jahrhundert, hinaus.

[6] „Augustinus sieht entsprechend im gesamten Leben eine Pilgerfahrt in die himmlische Heimat“ (103 mit Anm. 350; die als Beleg angeführte Stelle serm 346B 1 Vitam nostram […] peregrinationem quandam esse a patria sagt gerade nicht „ad patriam“ Pilgerfahrt zur Heimat, sondern spricht vom Fremd-Sein fern der Heimat. Mit dieser Fehldeutung steht ER in Übereinstimmung mit vielen Forscher:innen. Dagegen der Befund Notker Baumann: peregrinatio/peregrinus. Augustinus-Lexikon 4(2012-2018), 668-674.

[7] Hans-Henning Kortüm hat die Bedeutung dieser Pilgerfahrt herausgestellt: Der Pilgerzug von 1064/65 ins Heilige Land. Eine Studie über Orientalismuskonstruktionen im 11. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 277 (2003), 561-592.

[8] Die muslimische Seite fehlt. Dazu etwa Josef van Ess: Chiliastische Erwartungen und die Versuchung der Göttlichkeit: der Kalif al-Ḥākim (386 – 411 H.). Heidelberg: Winter, 1977

[9] Vgl. CA: Jerusalem in den Niederlanden: Die Heilsgeschichte und -gegenwart im Haus nebenan. Nadine Mai: Die Brügger Jerusalemkapelle und die monumentale Nachbildung der Heiligen Stätten um 1500 2022. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/03/02/jerusalem-transformationen/ (2. März 2023).

[10] Grundlegend dazu eine Untersuchung von Nikolas Jaspert zu Testamenten aus Katalonien (2015).

[11] S. Auffarth: Das kurze Leben des Mittelalterhistorikers Carl Erdmann, der sich dem Nationalsozialismus nicht anpasste. Folker Reichert: Fackel in der Finsternis. Der Historiker Carl Erdmann und das „Dritte Reich“ 2022. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/03/23/carl-erdmann/ (23.3.2022).

[12] ER führt 148 Anm. 548 die Thesen der Forscher auf, die teils hier schon ‚die bewaffnete Pilgerfahrt‘ sehen wollen. Meine Differenzierung der unterschiedlichen Motive der Teilnehmer der Kreuzzüge, s. Christoph Auffarth: Nonnen auf den Kreuzzügen: ein drittes Geschlecht? In: Das Mittelalter. Zeitschrift des deutschen Mediävistenverbandes Band 21, Themenheft 1: Kreuzzüge und Gender, hrsg. von Ingrid Baumgärtner und Melanie Panse. Berlin: de Gruyter 2016, 159-176.

[13] Diese Unterscheidung fehlt bei Thomas Haas: Geistliche als Kreuzfahrer. Heidelberg 2012. Dazu meine Rezension Zeitschrift für Religionswissenschaft 22(2014), 414f.

[14] Unter den Dissertationen zum Thema Kreuzzug, die ich rezensiert habe, gehört diese zu den besten deutschsprachigen Arbeiten, vergleichbar mit (1) Kulturkontakt – Kulturkonstrukte: In den Chroniken gedeutete Erfahrung auf den Kreuzzügen. [Rezension zu] Kristin Skottki: Christen, Muslime und der Erste Kreuzzug. Die Macht der Beschreibung in der mittelalterlichen und modernen Historiographie 2015, in: http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2016/09/17/christen-muslime-und-der-erste-kreuzzug/ (17. September 2016). – (2) Ohne Vorurteile ins Land der Muslime – in der Kreuzfahrerzeit: Christiane M. Thomsen: Burchards Bericht über den Orient. Reiseerfahrungen eines staufischen Gesandten im Reich Saladins 1175/1176. 2018. In:https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2018/08/03/burchard-ueber-den-orient/ (3.8.2018).

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