Sebastian Castellio: De haereticis an sint persequendi (1554) Von Ketzeren (1555) Traicté des heretiques (1557). Synoptische Edition mit Kommentaren zu den Textauszügen.
Hrsg. von Barbara Mahlmann, Kilian Schindler, Sonja Klimek u.a. (Schriften der Internationalen Castellio Gesellschaft, Herausgegeben von dem Vorstand der Internationalen Castellio Gesellschaft, Band 1)
Band 1: Textedition. Band 2 (durchpaginiert): Kommentare.
Basel: Schwabe 2024.
xxxvi, 1350 Seiten. 70 Abbildungen. 150 €.
ISBN 978-3-7965-4359-3.
Auch als kostenloses E-book.
Castellios Manifest der Religions- und Gewissensfreiheit
in der aufgeheizten Krise der Reformation 1554
Eine Rezension von Christoph Auffarth
Kurz: Das Manifest der Toleranz der Religionsfreiheit, die der Humanist Sebastian Castellio nach dem Justizmord an Michel Servet 1553 verfasst und durch Autoritäten der Kirche begründet hat, ist in dem umfangreichen Werk exzellent herausgegeben in den drei Sprachen und umfassend erklärt.
Ausführlich:
„Über die herausragende Bedeutung von De haereticis an sint persequendi in der Geschichte der religiösen Toleranz bis zur Menschenrechtserklärung der UNO im Dezember 1948 waren wir uns einig.“ (ix) Ein Text des 16. Jahrhunderts, den es im Zusammenhang mit den scharfen Kämpfen um die Reformation zu erklären und zu bewerten gilt. Die Herausgeberin Barbara Mahlmann-Bauer:[1] „Ich dediziere sie (die kommentierte Edition) persönlich dem stets gegenwärtigen Geist Theodor Mahlmanns. Seine Einwände gegen Castellios Theologie und seine Parteinahme für Calvins Institutio religionis christianae haben über seinen Tod 2011 hinaus meine Motivation befeuert, den Basler Kontext auszuleuchten und das internationale Netzwerk sichtbar zu machen, in dem sich Castellio und seine Mitautoren bewegt haben.“[2] Dabei musste dieser Band viel tiefer graben als die vorhandenen Biographien zu Castellio.[3] Die Texte Castellios sind in heutigem Deutsch dank des unermüdlichen Einsatzes von Wolfgang F. Stammler und Uwe Plath greifbar.[4]
Berühmt geworden ist Sebastian Castellio besonders durch den Roman von Stefan Zweig, Castellio gegen Calvin. Ein Gewissen gegen die Gewalt. 1936. Stefan Zweig war kein praktizierender Jude, er war auch kein Zionist, der einen jüdischen Nationalstaat forderte,[5] vielmehr legte er großen Wert auf sein deutsch-jüdisches Selbstverständnis. BMB hat den Zusammenhang und das Ziel von Zweigs Buch erforscht und in einem langen und spannenden Kapitel erklärt (1063-1102).
Die Anthologie De haereticis an sint persequendi erschien im März 1554. Das Büchlein umfasste 175 Seiten. „Die Sprengkraft dieser Sammlung von Zeugnissen gegen die Verfolgung und Tötung von ‚Ketzern‘ wurde von Zeitgenossen rasch erkannt. Eine regelrechte Tradition entstand – eine deutsche Übersetzung folgte 1555, eine französische erschien ein bis zwei Jahre später.“ (579). Auch wenn der Prozess gegen den Arzt Michel Servet, der maßgeblich durch das Eingreifen des Genfer Reformator Johannes Calvin vor den Toren Genfs am 27. Oktober 1553 hingerichtet wurde,[6] nirgends explizit erwähnt wird, so war dieser sicher der Anlass zu der Schrift des Humanisten Sebastian Castellio, Argumente zusammenzustellen (eine Anthologie), die gegen Glaubens- und Gewissenszwang sprechen, vielmehr Gewissensfreiheit als Wesen des evangelischen Glaubens herausstellen. Das Buch wurde mit einer falschen Fährte versehen, es sei in Magdeburg verlegt worden, in Wirklichkeit wurde es in Basel gedruckt (581 mit Anm. 20). Der Autor bleibt anonym; er versteckt sich hinter den zwei Pseudonymen Martin Bellius und Basilius Monfort,[7] seine Argumente verzichten auf persönliche Angriffe; zwei Jahre später greift er dann aber Calvin und dessen Rechtfertigung der Hinrichtung (die fast gleichzeitig mit Castellios Toleranz-Buch erschienen war) scharf und namentlich an.[8] Das Werk beginnt mit einem ‚Brief‘ an Herzog Christoph von Württemberg unter dem Pseudonym Bellius (‚der Kriegerische‘). Dort dekonstruiert SC jede Definition von Häretiker (618-624). Dann folgen Texte von Autoritäten, zunächst der ‚Kirchenväter‘, unter denen Augustinus den größten Platz einnimmt. Ausgerechnet Augustinus, der den Zwang zum ‚catholischen‘ Glauben begründet und Gewaltanwendung gefordert hat, wird als Gewährsmann für Toleranz ausführlich zitiert. Castellio findet aber Zitate des ‚milden‘ Augustinus.[9] Die Definition des Konzils von Nizäa (Nikaia 325) wird später ausführlich von Brenz, Sebastian Franck und von ‚Monfort‘ zitiert. Es folgen Zeitgenossen, beginnend mit Erasmus (der als einziger der Autoritäten nicht die Reformation vertrat) und vor allem Luther, der selbst einmal als Ketzer um sein Leben fürchten musste. „Die Lektüre der Anthologie mochte damals viele protestantische Leser […] melancholisch stimmen. Dies scheint uns eine geheime Absicht Castellios zu sein: zu zeigen, dass infolge der Bekenntnisbildung und Institutionalisierung der protestantischen Regionalkirchen und seit der Täuferverfolgung, erst recht nach der Hinrichtung Michel Servets die von Luther pathetisch angestoßene Reformation der Kirche in eine Krise geraten sei.“ (593).
Die Edition und die Kommentare, die das Netzwerk des Castellio erforschen, hat zehn Jahre gebraucht, die Herausforderungen einer drei- bzw. viersprachigen synoptischen[10] Ausgabe sind enorm, aber die vielen Unterstützer und Vorarbeiten in zwei Tagungen[11] und Einladungen zu anderen Netzwerken haben das Projekt mit Expertisen unterstützt, die einsam am Schreibtisch nicht zu gewinnen waren. Im Hintergrund steht die Internationale Castellio Gesellschaft, deren ersten Band diese Edition bildet. Nicht zuletzt war die vierspaltige Edition des lateinischen, des frühneuhochdeutschen, des frühfranzösischen Textes und der holländischen Ausgabe eine große Herausforderung für das Layout der jeweils entsprechenden Stellen oder ihrer Auslassungen.
Mit großer Energie hat die Herausgeberin nach dem Ort, Zeit und der Person des anonymen Übersetzers ins Frühneuhochdeutsche gesucht (1105-1205, also gut hundert Seiten). Als wahrscheinlichster Ort kommt Straßburg in Frage. Während die reformatorische Bewegung bis dahin in diesem Zentrum der Reformation (von vieren: Straßburg neben Wittenberg, Zürich, Genf)[12] untypisch harmonisch verlief und ein Fall wie die Hinrichtung Servets dort nicht durchgeführt worden wäre, spaltete das Interim (die von Kaiser Karl erzwungene Rückkehr zur alten Religion 1548) die dortige Gesellschaft (wie die Protestanten insgesamt seit Luthers Tod 1546) in zwei Parteien. Auf der einen Seite war Bucer zum entschiedenen Gegner des Interim geworden, seit man ihn gezwungen hatte, den Entwurf zum Interim zu unterschreiben, statt diesen kritisch zu kommentieren, wozu man ihn eingeladen hatte. Auf der anderen Seite war Jacob Sturm ein geschickter Vermittler zwischen dem Rat und dem Konvent der Theologen von Straßburg und der kaiserlichen Seite. Angesichts der kaiserlichen Drohung, das Interim militärisch durchzusetzen (was in Konstanz auch passierte) riet Sturm zur Kapitulation und Akzeptieren des Interim. In den ‚Stimmen‘ in Castellios Text wird Sturm zitiert. BMB versteht das so: „Christus lehrt, seine Jünger sollten nicht nur falsche Propheten meiden, die offen mit Gewalt vorgehen, sondern auch solche, die sich einen rechtmäßigen Anschein geben, sie dürften aber nicht offen bekriegen oder töten. Dies trifft genau auf den Straßburger Bischof zu, der auf das Augsburger Interim gestützt, seit 1549 Priester in drei Kirchen Straßburgs schicken durfte, die dort Messe lesen sollten. Aber es wäre (für die evangelischen Interims-Gegner) gefährlich, sie zu bekämpfen.“ (1138) Den Text des Paulus im Titusbrief 3,10, der aufruft, Häretiker zu meiden devita! haben Inquisitoren fälschlich anders gelesen und ergänzt: de vita ad ignem „aus dem Leben ins Feuer!“ (1146). Mit streitsüchtigen Häretikern könne man nicht diskutieren, besser man vermeidet den Umgang mit den Kirchenspaltern. Duldung heißt nicht zustimmen. Die Straßburger nahmen während der Revolution von 1525 (‚Bauernkrieg‘)[13] Verfolgte auf, die in drei Gruppen zu unterteilen sind: Täufer, Spiritualisten, ‚Epikureer‘.[14] CS tritt ein gegen jede Verurteilung von Ketzern, das sei Verrat am Evangelium. Dem Evangelium könne man sich auf verschiedene Weisen nähern, formuliert neben anderen Katharina Zell und trifft damit auf Sympathien bei manchem Ratsherrn. Ihre Selbstverteidigung Apologia von 1557 protestiert gegen den Prozess gegen Servet in Genf und bezieht sich auf die deutsche Version des Castellio (1165f). Sie kann aber nicht die Übersetzung angefertigt haben, bleiben andere Dissidenten, denen die Glaubensfreiheit das zentrale Merkmal evangelischen Glauben gilt. Der Übersetzer der französischen Version traicté des heretiques ist dagegen mit größerer Sicherheit zu bestimmen (1215-1269). Wie bei der deutschen Version sichern Beobachtungen zu sprachlichen Eigenheiten wie die fehlende Diphthongierung im Allemannischen, zur Syntax und Lexik den Ort des Autors.
Barbara Mahlmann hat mit ihrem Team ein sehr sorgfältiges Werk erarbeitet. Es umfasst den synoptisch gedruckten Text, die vier Texte de haereticis 1554, die deutsche Version Von Ketzeren 1555, die französische Version ca. 1555-1557 und die holländische Ausgabe von 1610 mit einem Testimonien-Apparat. Im zweiten Teilband sind die Texte der Sammlung der Autoritäten des Aufrufs zur Toleranz erklärt in einer Genauigkeit, die enorme Recherchen verlangt haben. Der Kontext und der Text sind nun gründlich eingefügt in die zeitliche Situation der Krise, ja fast dem Scheitern der Reformation zwischen der vom Kaiser im Interim erzwungenen Rückkehr zu den alten Traditionen und dem Augsburger Religionsfrieden 1555, der das Nebeneinander der Konfessionen und die Konfessionalisierung auf längere Zeit ermöglichten, je regional getrennt. Castellio prangert die Hinrichtung eines Gläubigen an, der die Bibel kennt und dort nicht das Dogma der Dreieinigkeit findet. Calvin, der im Bewusstsein der ‚Wahrheit‘ sich wähnt, lässt ihn hinrichten, als sei das ein Verbrechen, schlimmer als Mord. Castellio beweist, dass Gewissensfreiheit ein Wesensmerkmal des evangelischen Glaubens sein muss: Ein Manifest der Toleranz in einer intoleranten Zeit.
Bremen/Wellerscheid, Dezember 2024 Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen
E-Mail: auffarth@uni-bremen.de
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[1] Jahrgang 1954. Emeritierte Professorin für Germanistik an der Universität Bern. Ihre Homepage: Über uns: Prof. em. Dr. Barbara Mahlmann-Bauer – Institut für Germanistik (27.10.2024). Das Buch wird so zur Festschrift zu ihrem 70. Geburtstag: Gratulation zum opus magnum! Ihren Namen kürze ich mit den Initialen ab BMB.
[2] xiii. Theodor Mahlmann war Professor für Dogmatik in der Ev.-theolog. Fakultät in Marburg und mit BM verheiratet.
[3] Mirjam van Veen: Die Freiheit des Denkens. Sebastian Castellio – Wegbereiter der Toleranz 1515-1563. Eine Biographie. Aus dem Niederländ. übers. von Andreas Ecke. Hrsg. von Wolfgang F. Stammler. Essen: Alcorde 2015. Ueli Greminger: Sebastian Castellio. Eine Biografie aus den Wirren der Reformationszeit. Zürich: Orell Füssli 2015. Sehr knapp Uwe Plath: Sebastian Castellio (1515-1563). Vorkämpfer für Toleranz im konfessionellen Zeitalter. Würzburg: Königshausen & Neumann, [2020].
[4] Im Verlag Alcorde in Essen (jetzt im Vertrieb das Schwabe Verlags, Basel) erschienen: Das Manifest der Toleranz (= De haereticis an sint persequendi). Gegen Calvin. Die Kunst des Zweifelns und Glaubens, des Nichtwissens und Wissens (= De arte dubitandi et confidendi) 2022. – Zur Kritik an Calvins Verurteilung von Servet hat Plath auch den lateinischen Text herausgegeben: Sébastien Châteillon: Contra libellum Calvini. ed. Uwe Plath. Genève: Droz 2019.
[5] In der politischen Berichterstattung und als Leitziel der gegenwärtigen Regierung Netanyahu ist oft vom jüdischen Staat die Rede. Israel ist aber nicht nur multiethnisch von der Herkunft seiner Bürger her, sondern es leben im Land auch ein größerer Anteil von arabischen Bürgern mit israelischem Pass.
[6] Immer noch das wichtigste Buch zu Servet ist Roland Bainton: Michel Servet 1511-1553. Gütersloh: Mohn 1960.
[7] Montfort ‚befestigter Berg, Burg‘ entspricht Castellio; der Vorname ‚aus Basel‘.
[8] Contra libellum Calvini (wie oben Anm. 4).
[9] BMB 833-865. Der gewaltsame Augustinus, der beispielsweise das Gleichnis so auslegt, dass nicht etwa die geladenen Gäste, die je eine andere Ausrede vorbringen, warum sie nicht zur Hochzeit kommen, sondern die Armen „genötigt werden müssen einzutreten“ (coge intrare Lukas 14,23), ist im Augustinus-Lexikon (hrsg. von Cornelius Mayer u.a. ,5 Bände, 1986-2024) in den Stichwörtern catholicus, coercitio, haeresis/haereticus (Band 3, 290-302), secta, etc. nachgewiesen. Die Auslegung des Gleichnisses „vom Unkraut unter dem Weizen“ gegen den Sinn, dass nicht die Menschen/die Kirche das Unkraut ausreißen und verbrennen dürfen, sondern es Gott im Jüngsten Gericht überlassen müssen: Matthäus 13, 24-30 und Auslegung als Allegorese 36-42. Dazu Meinolf Schumacher: Weeds Among the Wheat. The Impurity of the Church Between Tolerance, Solace, and Guilt Denial. 2019.
https://doi.org/10.1111/cros.12376 (29.12.2024).
[10] Synoptisch bedeutet, dass die entsprechenden Passagen nebeneinander gedruckt werden; was keine Entsprechung hat, wird durch eine Lücke, also durch freien Platz, angezeigt.
[11] Die zweite Tagung fand auf dem Monte Verità statt im August 2014 und führte zu der Publikation Barbara Mahlmann-Bauer, unter Mitarbeit von Sonja Klimek und Daniela Kohler (Hrsg.): Sebastian Castellio (1514–1563) – Dissidenz und Toleranz. Beiträge zu einer internationalen Tagung auf dem Monte Verità in Ascona 2015. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2018. Barbara Mahlmann-Bauer (Hrsg.in:): Visionen und Praktiken religiöser Toleranz. Die Reformation als Epochenschwelle. (Refo 500) Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2023.
[12] Herausgearbeitet etwa bei Irene Dingel: Geschichte der Reformation. Göttingen: V&R 2017. Dingel verwendet das Wort Dissent (vgl. dort 136, Anm. 5); BMB auch den Begriff Dissenter.
[13] Zur Revolution von 1525, die verkürzt und fälschlich „Bauernkrieg“ genannt wird, siehe meine Rezension: https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2024/10/09/kaufmann-bauernkrieg/(9.10.2024).
[14] Der Begriff der Epikureer, mit dem Bucer ‚andere‘ zusammenfasste, die sich zusammengerottet hätten (epicurisch rott), ist in der Frühen Neuzeit öfter benutzt für Religionsleugner. Der antike Philosoph Epikuros meinte, es gebe zwar Götter, aber sie lebten für sich in aller Ruhe, ohne sich um die Menschen zu kümmern. Also sei es auch sinnlos, mit ihnen zu kommunizieren über Gebete, Geschenke, Opfer.