Mitte der Reformation

Thomas Kaufmann:  Die Mitte der Reformation.
Eine Studie zu Buchdruck und Publizistik im deutschen Sprachgebiet,
zu ihren Akteuren und deren Strategien, Inszenierungs- und Ausdrucksformen

(Beiträge zur historischen Theologie 187)
Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XX, 846 Seiten.
ISBN 978-3-16-156605-9. 139,00 €.

 

Eine Doppelrevolution:
Buchdruck und Reformation befeuerten sich wechselseitig

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Das umfassende und gelehrte Buch des Reformationshistorikers erklärt beherzt und detailliert, wie sich Buchdruck und Reformation wechselseitig voranbrachten. Ein großer Fortschritt in der Materialkenntnis und ihrem Verständnis.

Ausführlich: Die Reformation, die Anliegen der Reformatoren, die Kirche und die Ordnung der Gesellschaft zu reformieren, bewegte die Menschen im Deutschen Reich schon länger und überall. Reformrufe hatte es im Spätmittelalter immer wieder gegeben und auf den Konzilien wurden sie diskutiert. Aber dass nun praktisch jede und jeder etwas von den konkreten Anliegen der Reformatoren erfuhr, von ihren Forderungen und den vorgeschla­genen Lösungen für liegengebliebene Probleme, liegt an dem Medium, das diese verbreitete: dem (Buch-)Druck. Und umgekehrt ließ das Verlangen, die Reformanliegen möglichst vielen mitzuteilen, das neue Medium sich in Windeseile verbreiten. Nicht nur die Reformer nutzten das Medium, sondern auch ihre Gegner. Dabei erwies sich die ‚Flugschrift‘ als ein beweg­liches Instrument, das man den Druckern, den Händlern geradezu aus den Händen riss.[1] Die oft polemischen kleinen Schriften, aber auch offenen Briefe, Erklärungen von komplexeren Sachverhalten auf einer oder wenigen Seiten, gerne auch mit einem deftigen Bild.[2] Dazu druckten aber die Druckermeister und ihre Gesellen auch dünnere (wie 1520 Luthers An den Christlichen Adel von des christlichen Standes Besserung oder den kleinen Katechismus)[3] und dickere Bücher, allen voran die Bibel, das Grundgesetz der Reformation.

Thomas Kaufmann hat aus seiner umfassenden Kenntnis der Forschung,[4] eigener Editions­tätigkeit[5] und ebenso emsigem Fleiß wie konzeptionellen Ideen jetzt ein Buch geschrieben, das nicht nur die gedruckten Werke analysiert, sondern alle ‚Buchakteure‘ einbezieht: Die Autoren, und das sind nicht nur die bekannten Theologen, sondern auch anonyme oder sonst unbekannte Autoren, darunter sind Frauen, Laien, insbesondere Handwerker, Bauern, Stadtschreiber. Weiter die Drucker mit ihrer Werkstadt und den Druckergesellen und -lehr­lingen,[6] Die Gefahr eines Buchverbotes und der Bücherverbrennung durch die Obrigkeit (176-209), die aber nur in den jeweils anders konfessionellen Ländern griff; die Gefahr für die Buchhändler. Dann die Vertreiber von Büchern, noch keine Buchhandlungen, sondern mobi­le Händler. Die Leserinnen und Leser eines schon erstaunlich alphabetisierten Publikums, das aber auch durch Vorlesen seine Neugierde befriedigen konnte. TK votiert dafür, dass die Drucke nicht nur die Meinung des Autors, sondern auch der Erwartung des Publikums ent­sprechen, zumal ja vielfach auch anonym publiziert wurde (124-143; der Basler Ökolampad als exemplarischer Buchakteur 66-73); gleichzeitig „bestätigen sie die exzeptionelle Stellung des Publizisten Martin Luther.“ (3). Druckkostenzuschüsse für die Beschaffung des Papiers, die etwa die Hälfte der Kosten ausmachten, gehen zu Lasten des Autors: 78 Anm. 209. Skandalisierende Themen waren gefragt: Der Papst verschlingt das Geld der Deutschen durch die Ablässe; die Türken vor den Toren Wiens; astrologische Vorzeichen kündigen eine Sintflut an;[7] der Mönch küsst und entführt eine Nonne aus dem Kloster.

Dass die Programme und Ideen der Reformatoren sich so lawinenhaft ausbreiten konnten, ist ein wechselseitig sich verstärkender Prozess. Das haben andere schon herausgearbeitet.[8] Der wichtige Katalog von Josef Benzing,[9] jetzt überarbeitet und auf den aktuellen Stand gebracht von Christoph Reske,[10] die Sammlung sämtlicher Drucke des 16. Jahrhunderts mit Ausnah­me der Flugschriften.[11] Deren Sammlung haben Adolf Laube in der DDR und Joachim Köhler vorangebracht, aber da bleibt noch viel zu tun. Immerhin gibt es eine weitgehend vollständige Grundlage für Forschungen.

Aber: dieses Buch ist von ganz anderer Qualität! Freigestellt von anderen universitären Ver­pflichtungen konnte TK zwei Jahre an diesem opus magnum arbeiten.[12] Die Metapher ist kühn: nach dem „Ende der Reformation“ und „Dem Anfang der Reformation“[13] untersucht TK nun die „Mitte der Reformation“.[14] Kapitel 1 (15-217) beschäftigt sich mit ‚Büchermen­schen‘: die Buchakteure, Drucker, Briefeschreiber, der Markt, der Autor Luther im work-flow seines Druckers Lotter. Kapitel 2 (219-449) nennt TK „die Reformation der Drucker“, wobei er wichtige Verlegerfamilien im Kontext ihrer Städte vorstellt, darunter die Lotter in Leipzig, Wittenberg und Magdeburg. Kapitel 3 (451-699) stellt „Literarische und publizistische Strat­egien, Gattungen und Ausdrucksformen“ zusammen. Da sind die akademischen Formen, wie die Disputationen, nicht mehr die beliebten, entspannten Dialoge der Antike, wie sie Erasmus in den Colloquia familiaria in der Tradition etwa Ciceros Tusculanae disputationes fortführte, sondern hitzige Wortgefechte. Drei Fälle greift TK heraus: Die Leipziger Disputa­tion, das Urteil der Pariser Fakultät und die Travestie Zürich 1523 und die Folgen (451-543). Humanistisches und Theologisch-Reformatorisches kommen zusammen in den Editionen der Kirchenväter (der Abschnitt ist zu knapp auf Luther fixiert; Thomas Müntzer bezog sich in seiner Radikalität etwa auf Tertullian und Cyprian; Zwingli kannte viel mehr Kirchen­väter),[15] den vielen Auflagen der Theologia Deutsch und anderer ‚Vorreformatoren‘. Schließ­lich die Bücher zur evangelischen Frömmigkeit, so die ersten Gesangbücher (685-699). Ein Anhang wirft den Blick über die Grenzen auf Interaktionen zwischen deutschen und englischen ‚Buchakteuren‘ (701-718).

Dieses unglaubliche Werk widmet sich in seiner Verschränkung von Reformation und Buchdruck wesentlich dieser Frage; es bleibt ein Ausschnitt aus der Mediengeschichte des 16. Jahrhunderts. Der Humanismus, etwa das Werk des Erasmus bleiben etwas am Rande, die enorme Bedeutung der Hermetik und der Astrologie in den Prognostiken werden am Fall des Vorwortes Luthers zur Prognostik des Johannes Lichtenberger knapp angespro­chen.[16] Auch in einem umfangreichen Buch muss man sich begrenzen. Dafür hat hier ein einziger Autor in einer Monographie in herausragender Weise ganze Bibliotheken durch­gearbeitet, die Bücher vorgestellt, im Kontext eingeordnet und bewertet. TK versteht es, das Thema von Konfliktfällen oder spannenden Beispielen her anzugehen, aber nicht herausge­pickt, sondern gleichzeitig detailliert und umfassend und in sehr peniblen Fußnoten mit ausführlichen lateinischen Zitaten zu belegen. Zahlreiche Abbildungen von Titelblättern oder etwa die Verwendung hebräischer Buchstaben (S. 254 die Philo-Ausgabe, S. 74 die hebräischen Namen zu dem griechischen biblischen Namensdeutungen des Eusebius oder das Stück Gelehrsamkeit des Karlstadt S. 109f). Über 60 Seiten Register (Namen, Orte, Sachen, Konkordanz der Kataloge) erschließen das Buch auch fürs Nachschlagen, nachdem man das Buch einmal ganz gelesen hat. Ein Meisterwerk! Der Verlag hat wieder ein elegan­tes Kunstwerk daraus gemacht. Der neue Kaufmann erweitert wieder das Wissen über die Reformation diesmal aus der Perspektive auf die Menschen, die das Wort der Reformatoren weit über den lokalen Wirkungskreis oder den Schall menschlicher Stimme hinaus unters Volk brachten, als Buch nicht zum Sammeln im Bücherschrank, sondern von vielen gelesen und nachgefragt. Wie das Wort zum Buch wurde, die vielen Schritte und Stufen dazwischen und danach sind wunderbar detailliert und genauestens belegt hier zu lesen. Wer kann, kaufe, lasse sich schenken, jedenfalls lese das spannende Buch!

Bremen/Wellerscheid, 18.10.2019                                                           Christoph Auffarth

Religionswissenschaft
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Eine Definition gibt Thomas Kaufmann S. 5 Anm. 21.

[2] Zuletzt Jan Löhdefink: Zeiten des Teufels. Teufelsvorstellungen und Geschichtszeit in frühreformatorischen Flugschriften, 1520-1526.(BHT 182) Tübingen: Mohr Siebeck 2016. Grundlegend war Robert W. /Bob Scribner: For the sake of the simple folk. Oxford 1994.

[3] Thomas Kaufmann hat diese programmatische Schrift kommentiert, dazu meine Rezension: Der Papst hat die Kirche gekidnapt: Luthers Adelsschrift kommentiert. Thomas Kaufmann: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung 2014. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2015/03/19/thomas-kaufmann-an-den-christlichen-adel/(19. März 2015). In diesem Band Von der Freiheit eines Christenmenschen S. 628-646.

[4] Seine Gesamtdarstellung der Reformation (in Deutschland bzw. dem Alten Reich) zeigte schon seine umfassende und detaillierte Kenntnis, dazu meine Rezension Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation. 2009. http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2010/01/10/geschichte-der-reformation-von-thomas-kaufmann/ 1.10.2010.

[5] Die Edition der Schriften Andreas Bodensteins, genannt Karlstadt, erscheint kommentiert sukzessive online und als gedrucktes Buch. Kritische Gesamtausgabe der Schriften und Briefe Andreas Bodensteins von Karlstadt. Erscheint in 8 Bänden. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2017-. Bislang erschienen Band 1,1 und 1,2 (2017) und 2 (2019).

[6] Der wichtige Artikel von Natalie Z[emon] Davis: ist von TK nicht genannt. Sie zeigt, wie die Gesellen in Lyon die Reformation mit heimlich gedruckten Blättern voran brachten: Streiks und Erlösung in Lyon. Buchdruck und Volk. In: NZD: Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesell­schaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich. [Stanford 1975] Frankfurt am Main: Fischer Taschen­buch 1987, 14-29; 250-254. 210-249; 309-319.

[7] Dieses Medienereignis hat Heike Talkenberger: Sintflut: Prophetie und Zeitgeschehen in Texten und Holzschnitten astrologischer Flugschriften 1488 – 1528. Tübingen: Niemeyer 1990 umfassend erforscht.

[8] Marcus Sandl: Medialität und Ereignis. Eine Zeitgeschichte der Reformation. Zürich: Chronos 2011. [Dazu Rezension TK in Zeitschrift für Historische Forschung 41, 2014, 317-320] Das Themenheft Christoph Cornelißen, Michael Sauer, Peter Burschel: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 68(2017), 9/10. Andrew Pettegree: Die Marke Luther […]. Berlin: Insel 2016. Beruhen auf den Forschungsarbeit French books bevor 1601. 2012.  Netherlandisch Books 2011. Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998.

[9] Josef Benzing: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 12) Wiesbaden: Harrassowitz, 1963. [xi, 528 Seiten]. Wichtig zu Benzing Nazarii Gutsul 2013, dessen Forschungen im Wikipedia-Artikel knapp zusammengefasst sind.

[10] In der Neubearbeitung ist der Umfang fast verdoppelt. Christoph Reske: Die Buchdrucker … Auf der Grundlage des gleichnamigen Werks von Josef Benzing. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 51) Wiesbaden: Harrassowitz, 2007; ²2015. [xxxiv, 1181 Seiten].

[11] Das Verzeichnis der im deutschsprachigen Bereich erschienene Drucke des 16. Jahrhunderts, kurz VD 16 ist online https://www.bsb-muenchen.de/…/kompetenzzentren/vd-16 ein Grundlagenwerk, das sämt­liche Drucke bibliographisch und zunehmend auch als Digitalisat zur Verfügung stellt. (Digitalisat meint in dem Fall Bilder der Seiten, nicht durchsuchbare Texte auf digitalen Buchstaben basierend). Vgl. Regine Wolters u.a.: Die Bremer Kirchenordnung digital, in: Jan van de Kamp; Christoph Auffarth (Hrsg.): Die »andere« Reformation im Alten Reich: Bremen und der Nordwesten Europas. Leipzig: EVA 2020. – Für das 15. Jahrhundert der Gesamtkatalog der Wiegendrucke [oder Inkunabeln] https://www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de/(17.10.2019).

[12] Die Volkwagenstiftung fördert die Freistellung für ein ‚großes Werk‘, indem sie einen Vertreter für die Lehre finanziert.

[13] Christoph Auffarth: Anfänge und Bruch. Thomas Kaufmann: Der Anfang der Reformation. 2012.

https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2013/02/27/der-anfang-der-reformation/

[14] Eher knapp begründet S. 7: Mitte sei „das In- und Miteinander von Buchdruck und Reformation“. Das bedeutet aber auch, dass TK der oft gehörten These nicht zustimmen kann, die Reformation sei ein religiöses oder theologisches Ereignis (8).

[15] Müntzers Exemplar mit Randnotizen der Schriften Tertullians (Basel 1521) abgebildet bei Siegfried Bräuer; Günter Vogler: Thomas Müntzer. Gütersloh2016, 139. Zu den Schweizern haben die Zürcher haben gerade einen Band herausgegeben über Buchdruck und Reformation in der Schweiz (= Zwingliana 45) hrsg. von Urs B. Leu; Christian Scheidegger. Zürich: TVZ 2018.

[16] S. 604f. In dem oben genannten Buch von Talkenberger: Sintflut ist das Medienereignis von 1525/26 erforscht, das durch Zeichen am Himmel ausgelöst wurde.

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