Rechtsgeschichte Neues Testament

Rechtsgeschichtlicher Kommentar zum Neuen Testament.

Band 1; Einleitung, Arbeitsmittel und Voraussetzungen.

Herausgegeben von Folker Siegert in Verbindung mit Johann Maier und Frieder Lötzsch.
Berlin: De Gruyter, [2023]. XIII, 720 Seiten.
ISBN 978-3-11-065606-0.
149,95 €

„Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, aber Gott, was Gottes ist!“
Notwendige Rechtskenntnisse für das Verständnis des Neuen Testaments

 

Eine Rezension von Christoph Auffarth

In der konfliktreichen Beziehung der Iudaei als Bewohner der von den Römern eroberten und mit möglichst wenig Verwaltungsaufwand behaupteten Provinz Iudaea wie den Iudaei, die in der Diaspora lebten,[1] war die Anwendung von militärischer Gewalt ein Mittel der Herr­schaftsdurchsetzung, die aber begrenzt wurde durch das römische Recht. Dem berühmten Statthalter in Germanien, Quintilius Varus, warfen seine Kritiker vor, er habe die Niederlage im Teutoburger Wald herbeigeführt, weil er sich zu sehr an das Recht gehalten habe.[2] Neben dem römischen Recht bestand aber weiterhin das jüdische Recht, das für viele Fälle, die in den neutestamentlichen Texten erzählt werden, Gültigkeit hat, wo es nicht um die Belange der Durchsetzung der römischen Herrschaft geht. Die Texte des Neuen ‚Testaments‘ (das schon ein gewichtiger, aber selten geklärter Rechtsbegriff, S. 4)[3] sind in unterschiedlichen Phasen der Fremdherrschaft der Römer entstanden, die meisten im Umbruch nach der Zerstörung des jüdisch kontrollierten Tempelstaates, der Schleifung des Tempels und der Anlage Jerusalems als Colonia Aelia Capitolina nach dem Bar Kochba-Aufstand, also nach 135 n.Chr. Der Textbestand der Evangelien, wie sie heute im NT stehen, ist nicht vor dem zweiten Viertel des 2. Jahrhunderts redigiert; mündliche und schriftliche Vorstufen sind nicht sicher zu unterscheiden (87-97).[4] Das heißt, die Chronologie und Scheidung verschiedener Schichten der Quellen (u.a. Johannes-Evangelium Joh A, Joh B, Joh C) ist die Voraussetzung, die in der ‚Einleitungswissenschaft‘ geklärt wird: wann und wo? (S. 85-122).

Das Werk beruht auf der Zusammenarbeit der Kompetenzen mehrerer und in Methoden und Perspektiven verschiedener Wissenschaften, die für ein historisches Verständnis der Bibeltexte notwendig sind, bevor sie theologisch-moralisch ausgelegt werden. Für das Recht in der Hebräischen Bibel gibt es eine breite Diskussion, die sich als innovativ erwiesen hat.[5] Für das Neue Testament fehlt jedoch weitgehend eine solche Diskussion. Die Forschungsge­schichte („Vorarbeiten“ S. 99-118) zeigt Ansätze, aber keine grundlegende Bearbeitung in der neutestamentlichen Wissenschaft. Dabei gab es im Barock eine bibelkundige lutherische Jurisprudenz (Hugo Grotius 1641, Samuel Pufendorf 1672, Christian Wolff 1740, S. 77-84), die die notwendige Gesetzgebung nicht aus sakralem (konfessionellem) Recht ableiteten, sondern aus dem Naturrecht. – Benötigt werden für einen solchen Kommentar die Kompetenzen der Judaistik, der Klassischen Philologie, der Papyrologie und Epigraphik, Rechtsgeschichte, d.h. Geschichtswissenschaft und Jura (99-118). Die Bemerkungen zu Forschungen anderer sind teils harsch, aber berechtigt[6] und rehabilitieren ältere.[7] Es geht ja um vier Rechtssysteme in vier Sprachen (deren Begriffe durchgehend in Umschrift und deutscher Übersetzung angegeben sind, vgl. S. 13f): (1) das altorientalische Gebrauchsrecht, das vom Akkadischen zum Aramäischen übergeht. (2) die Rechtsterminologie der Tora auf Hebräisch, die die Rabbinen wieder aufgreifen. (3) Das griechische Recht der hellenistischen Herrscher. (4) Das römische Recht auf Latein. Wie FS feststellt, erwies sich die Geltung des römischen Rechts für die Situationen, die im NT dargestellt sind, als bedeutsamer als bisher angenommen (S. 9). Zu jedem dieser Rechtssysteme bedarf es einer Einführung. Diese gibt Johann Maier für das jüdische Recht (Verfassungsgeschichte, Einführung und Übersicht über die Quellen; 125-234), Martin Schermaier gibt eine Übersicht über die römischen Rechts­quellen und FS stellt ein Glossar dazu zusammen (239-267).

Der Jurist erschließt wichtige Begriffe, aber doch eher für Erstsemester, weniger für Außenstehende. Die römische Karriere der herrschenden Oberschicht als ‚Ehrenämter‘ zu bezeichnen (247) trifft zwar formal das lateinische cursus honorum, aber bei weitem nicht, was wir unter Ehrenamt verstehen. Besser ist die Erklärung, was römisch ein ‚Beamter‘ ist (249). Wichtiger aber wäre, wie in Europa das ‚römische Recht‘ übernommen wurde und erst da, seit dem 11. Jahrhundert, auch systematisiert wurde vom (‚kasuistischen‘) Recht einzelner und analoger Fälle zu einem systematischen Rechtsbuch, das von leitenden Prinzipien die darunter zu subsumierenden abgeleiteten Fälle bestimmt. Und im Unterschied dazu die Verfahren im angelsächsischen (und im islamischen) Bereich, die auf Streit­schlichtung ausgerichtet sind und den Berufsrichter als Berater kennen, nicht als Entscheider. Der anschließende Abschnitt von FS ist in seiner großen Perspektive bis zum heutigen Recht nicht nur für ‚theologische Leser‘ besser erklärend.[8] Man versteht, warum FS keinen Sammelband herausgeben wollte, sondern das meiste selbst konzis erklärt.

Der Teil C. behandelt übergreifende Themen: (1) Boaz Cohen: Buchstabe und Geist in jüdischem und römischem Recht 271-286. Die Rabbinen plädieren in der Mehrheit dafür, der Tora nicht nach dem Buchstaben zu folgen, sondern nach dem Sinn. Johann Maier: Schwören im Recht des antiken Judentum 287-309. Folkert Siegert: Bibel und Recht. Ein Durchgang vom Dekalog bis zur Gegenwart 341-465 (also 125 Seiten!).

In den „Exkursen“ 467-626 behandelt FS (auf weiteren 160 Seiten) wichtige Themen, die für die Kapitel zu weit geführt hätten, aber für sich eine Erklärung brauchen. Gleich das erste ist ein hoch umstrittenes Problem, der berühmte Gegensatz von „Gesetz und Evangelium. Der lutherische Ansatz“ 467-477. Zum Exkurs 5 Eschatologie s.u. An vielen Stellen würde man gerne in die Diskussion eintreten,[9] streitlustig und angreifbar wagt FS starke Sätze, aber man liest es allemal erhellt.

Das Gesamtwerk ist angelegt auf sieben Bände. Auf den hier besprochenden Einleitungs­band folgen die Bände 2-6 mit den rechtsgeschichtlichen Kommentaren (das Verzeichnis S. 689-697) zu den Perikopen: Band 2 in der Logienquelle und dem Markusevangelium, Band 3 Das Sondergut des Lukasevangeliums, (das älter datiert wird als) das Sondergut des Matthäusevangeliums, darunter „Der Prozess Jesu“, bearbeitet von Martin Pendnitz. Band 4 enthält das Johannesevangelium (nach der Unterscheidung der Schichten von Siegert) und die Apostelgeschichte. Dabei wird der Prozess des Paulus von Hans Kefner bearbeitet (eigentlich sind das drei Prozesse; die zwei versuchten in Korinth und Ephesus sind nicht weniger spannend als die Appellation an den Kaiser).[10] Band 5 enthält die Kommentare zum Hebräerbrief und zum Römerbrief. Band 6 bearbeitet die übrigen Episteln und die Apo­kalypse. Von Band 7 ist vorab 2019 schon ein Teil veröffentlicht. In ihm hat der Johann Maier[11] (1933 – 2019) schon ein Glossar zusammengestellt für die Begriffe des jüdischen Rechts.[12] Die Liste der Rechtsthemen ist ebenfalls schon in Band 1 aufgelistet mit dem Verweis, unter welcher Perikope sie behandelt sind. Der Verweis ist jeweils durch Raute + Zahl des durchgezählten Perikopenkommentars angegeben (Beispiel: # 70 zum Witwen­recht; das bei Mk 12,40-44 par behandelt wird). Das Eintreten für die praktisch rechtlosen Witwen und Waisen ist auch eigens schon von Ulrich Kellermann (in Band 1, 311-339) bearbeitet.

Der Einleitungsband ist ein sehr ausgreifender Auftakt zum eigentlichen Kommentar. Warum es keinen rechtsgeschichtlichen Kommentar bisher geben konnte, ist hier erklärt: Das hat grundlegende Wurzeln in der Theologie vor allem des 19. und 20. Jahrhunderts. So wird dieser Einführungsband zu einer, so gar nicht leise formulierten Kritik am Zustand der neutestamentlichen Wissenschaft. Zum einen war der Gegensatz Gesetz (= Judentum) und Evangelium (das die Prophetische Linie der Hebräischen Bibel fortführe) ein protestantischer Leitsatz. Weiter habe die Vorläufigkeit dieser Welt und ihrer Institutionen keine neuen gesetzlichen Regelungen erfordert angesichts des nahen Weltendes.[13] Zum dritten hat auf dem Höhepunkt der Herabsetzung des Katholizismus im Deutschen Kaiserreich der evangelische Kirchenrechtler Rudolph Sohm die Bedeutung Jesu auf sein Charisma zurückgeführt, während schon im NT in den ‚Katholischen Briefen‘ sich Gesetzlichkeit breit mache, der ‚Frühkatholizismus‘. Max Weber hat das Konzept Charisma übernommen, aber die Veralltäglichung des Charisma zum Amtscharisma erweitert.[14] Diese zur evangelischen DNA zählenden Grundsätze haben die Erkenntnis der Bedeutung des Rechts für das NT verhindert. Folker Siegert setzt dagegen: Erst einmal seien die historischen Bedingungen für Aussagen des NT (nicht gleich: Jesu) zu klären, bevor man sie auslegt auf ‚mich‘ (existenzia­listisch-individualistisch). Sehr viele und oft behandelte Aussagen im NT verlangen nach einer rechtsgeschichtlichen Klärung. Hoffentlich kann FS und sein Team den langen Atem aufbringen, um dieses wirklich grundlegende Kommentarwerk zu vollenden. Das verspricht, ein Grundlagenwerk der neutestamentlichen Wissenschaft zu werden. Der erste Band ist ein aufregender Auftakt. Und darüber hinaus ein Kommentar zur gegenwärtigen Theologie, jedem Interessierten und Beteiligten zur Lektüre wärmstens empfohlen.

 

Bremen/Wellerscheid, April 2023                                                              Christoph Auffarth

Religionswissenschaft
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

 

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[1] Hier wird gleich die Notwendigkeit der juristischen Klarheit deutlich. Wenn wir von „Juden“ in der Antike reden, meinen wir die religiöse Definition (im Unterschied zu den Christen). In römischer, d.h. juristischer Definition meint Iudaei aber zunächst nur die Einwohner der römischen Provinz Iudaea. Darauf hat grundlegend Benedikt Eckhardt hingewiesen: Rom und die Juden – ein Kategorienfehler? Zur römischen Sicht auf die Iudaei in später Republik und frühem Prinzipat. In: Görge K. Hasselhoff und Meret Strohmann (Hrsg.): „Religio licita“? Rom und die Juden. Berlin: De Gruyter 2017, 13-54.

[2] Velleius Paterculus, Historia Romana 2, 117,3f. Qui gladiis domari non poterant, posse iure mulceri. Quo proposito mediam ingressus Germaniam velut inter viros pacis gaudentes dulcedine iurisdictionibus agendoque pro tribunali ordine trahebat aestiva. „Die Germanen, die man durch Schwerter nicht hatte zähmen können, könne man durch das Recht lammfromm machen. Mit diesem Vorsatz begab er sich ins Innere Germaniens, und als habe er es mit Männern zu tun, die die Annehmlichkeiten des Friedens genossen, brachte er die Zeit des Sommerfeldzuges damit zu, von seinem Richterstuhl aus Recht zu sprechen und Prozessformalitäten abzuhandeln.“

[3] Das gehört zu # 301 bei 1Kor 11,25 (vgl. S. 710 Rechtsthema: Erbrecht, Testamente).

[4] Das hat Folker Siegert für die jüdisch-hellenistische Literatur in seiner Einleitung Berlin: De Gruyter 2016 mit bemerkenswerter Klarheit ausgearbeitet.

[5] Etwa durch eine eigene Zeitschrift für altorientalische und biblische Rechtsgeschichte ab Band 1(1995).

[6] Beispiel 86 Anm. 4 zu „Bultmanns Vermutung ‚gnostischer Offenbarungsredner‘ im Joh. war ein allzu kühner Anachronismus, den ein Altphilologe vom Fach sich nicht geleistet hätte.“ Bultmann war ein ausgezeichneter Griechischkenner, aber er verglich gerne die Antigone mit dem NT, also vierhun­dert und mehr Jahre auseinanderliegende Texte. Ein Fehler, der auch für den ‚Kittel‘, das Theologische Wörterbuch des NT, typisch ist; Deissmann und Bauer hatten da schon vorgemacht, dass das zeitge­nössische Koine-Griechisch, die gesprochene Sprache die Vergleichsebene sein muss.

[7] So etwa den wegen seiner Gegnerschaft zum Barmer Bekenntnis viel gescholtenen Werner Elert mit seiner Morphologie des Luthertums 1931-1932 (eine knappe Charakteristik 467 Anm. 3). FJ hebt auch die Leistung von Adolf Deissmann in seinen frühen Arbeiten, bes. Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt (1908, 41923) hervor (108). Vgl. Auffarth: Ein Gesamtbild der antiken Kultur. Adolf Erman und das Berliner Modell einer Kulturwissenschaft der Antike um die Jahrhundertwende 1900. In: Bernd U. Schipper (Hrsg.): Ägyptologie als Wissenschaft. Adolf Erman (1854-1927) in seiner Zeit. Berlin; New York 2006, 396-433.

[8] Genauso umsichtig sind die theologischen und judaistischen Begriffe erklärt, etwa ‚Perikope‘ (265). Zum ‚Tempel‘ (263) wäre die römische Unverschämtheit des fiscus Iudaicus noch zu erwähnen: Die Tempelsteuer wurde weiter eingezogen, aber nicht zum Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels verwendet, sondern für die Renovierung des Tempels auf dem Capitol in Rom.

[9] So lese ich den Exkurs Die Verführung des Totalitarismus (601-606) parallel zur Biographie von Jacob Taubes (Rezension auf dieser web-Seite) mit Staunen, was FS alles kennt, aber auch vielen Einwänden.

[10] S. Auffarth: „Groß ist die Artemis von Ephesos!“ Der Artemiskult im kaiserzeitlichen Ephesos. In: Tobias Georges (Hrsg.): Ephesos. Die antike Metropole im Spannungsfeld von Religion und Bildung (COMES Civitatum Orbis MEditerranei Studia 2) Tübingen: Mohr Siebeck 2017, 77-100.

[11] Der Band trägt die Widmung an Johann Maier (17. Mai 1933 – 16. März 2019 [das Geburtsjahr ist falsch angegeben]. Maier war promoviert in evangelischer Theologie (Das altisraelitische Ladeheiligtum. (BZAW 93) Berlin: Töpelmann 1965) und Dr. phil. Habilitationsschrift Vom Kultus zur Gnosis: Studien zur Vor- und Frühgeschichte der „jüdischen Gnosis“. Bundeslade, Gottesthron und Märkābāh. Salzburg: Müller 1964. Er war dreißig Jahre Professor für Judaistik an dem 1966 gerade erst gegründeten Institut für Judaistik an der Universität Köln. Für den vorliegenden Kommentar war er maßgeblich beteiligt an den Vorarbeiten seit 2006 und schrieb gewichtige Teile des ersten Bandes sowie das Glossar der Begriffe des jüdischen Rechts (folgende Anmerkung), das im Band 7 des Kommentars integriert wird.

[12] Band 7 (Teil 1) vorab als Broschur Johann Maier: Hebräisch-aramäisches Glossar zum jüdischen Recht in der Antike. Mit einer Einführung in das jüdische Recht der Antike und einem Quellenüberblick. Berlin: De Gruyter 2019.

[13] Als Einstieg in das Buch empfohlen sei der aufregende Einsichten eröffnende Exkurs 5 „Theologie ist Eschatologie“ 503-509, ein Ausspruch Karl Barths, der aber eine Linie der evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts charakterisiert. Man versteht auch, warum die evangelischen Kirchen gegen den Unrechtsstaat der Nationalsozialisten und die Aufhebung der Menschenrechte nicht aufstanden.

[14] Mit Berufung auf Paulus (1.Kor 12,7) Rudolph Sohm (1841-1917): Kirchenrecht, Band 1, 1892. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 4 Herrschaft. (Max Weber Studienausgabe Band 22-4, 169-185; 194-201; Nachwort 247-250).  WuG. Soziologie (MWS, Band 23, 173-182). Martin Riesebrodt: Charisma. In: Hans G. Kippenberg; MR (Hrsg.): Max Webers ‚Religionssystematik‘. Tübingen: Mohr Siebeck 2001,151-166

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