Die Schlange war klug

Peter Schäfer: Die Schlange war klug. Antike Schöpfungsmythen
und die Grundlagen des westlichen Denkens.

München: Beck 2022.
(Edition der Carl Friedrich von Siemens Stiftung)
XVI, 447 Seiten. ISBN 978-3-406-79042-3.
34€

 

Nicht die Erbsünde, es war Evas freie Entscheidung.
Sie wurde nicht verführt durch eine diabolische Schlange

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Das westliche Denken war lange bestimmt durch die Behauptung, Menschen sind sündige Wesen von Grund auf: aufgrund der Erbsünde, verursacht durch das erste Menschenpaar. Dass die Urgeschichten auch anders gelesen und anders erzählt werden, zeigt Peter Schäfer insbesondere an jüdischen Leseweisen. Dass Eva zwischen Gut und Böse unterscheiden kann, mündig wird, sei Gottes Absicht.

Ausführlich

Mit dem Aufruf zur ‚Bewahrung der Schöpfung‘ hat die Aussage von der Schöpfung der Welt durch Gott eine positive Wendung erhalten, die auf die ökologische Krise und drohen­de Katastrophe antwortet. Dabei werden zwei alte, unnütze Kämpfe des Christentums nicht mehr gefochten: der jüngere mit dem Darwinismus, dass die Welt nicht auf die Schöpfertat Gottes zurückgehe, sondern sie entstanden sei in einem autopoietischen Prozess, der nicht von einem Planer gesteuert wurde. Der ältere Kampf aber belastete die Christen über Jahr­hunderte: Dass Gott die Welt gut erschaffen habe, aber durch die Bosheit der Menschen die gute Schöpfung gefallen sei, die Menschheit unter dem Fluch der Sünde stehe. Das abgrund­tief negative Menschenbild, noch dazu das der Verführerin Eva, als die Frau schlechthin, führt zu der Annahme, es sei notwendig, dass Kirche und Staat die Bosheit eindämmen müssten. Dank der Erlösungstat, indem sich Christus selbst opferte, der Sündlose für den sündigen Menschen, wurde aus der Schuld Glück. Die glückliche Schuld, „O felix culpa!“ singt man am Oster-Sonntag in der Kirche und so nennt Peter Schäfer[1] sein Schlusskapitel (327-357).[2] Hier konfrontiert er die christliche Fluchgeschichte, aus der nur die Sakramente der Kirche helfen können: Taufe, Beichte und Buße, das Abendmahl als Teilhabe am Blut und Leib Christi. Am Ende aber seien die Menschen auf die Begnadigung durch Gott angewiesen. Nicht gute Taten, nicht der freie Wille führten zum Heil. Dagegen kommt im jüdischen Verständnis der gleichen Geschichte, Adam und Eva im Paradies, etwas ganz anderes heraus: Gott verbietet zwar den Menschen, von zwei Bäumen im Garten zu essen. Der eine ist der Baum des (ewigen) Lebens, der andere ist der Baum der Erkenntnis. „Die Ermunterung der Schlange, von der Frucht des Baumes zu essen, ist nicht die diabolische Verführung einer außer-gött­lichen Gewalt, sondern die kluge Einsicht in Gottes eigentlichen Plan. Daher ist die Schlange in Wirklichkeit Gottes Instrument.“ (329). Die Menschen können zwischen Gut und Böse unterscheiden und haben den freien Willen, das eine zu tun, das andere zu lassen. Auf dem Weg zu dieser doppelten Rezeptionsgeschichte nimmt sich PS vor, die Mythen von der Schöpfung in den verschiedenen Kulturen der Antike vorzustellen und vergleichend zu interpretieren. Er beginnt mit den zwei Urgeschichten der hebräischen Bibel (27-82): die zwei Schöpfungserzählungen kann der Hebräisch-Könner mit den Etymologien der Originalsprache erläutern.[3] Die ‚Rückkehr der altorientalischen Mythen‘,[4] zumal in der Sintflutgeschichte, führen zur Frage im nächsten Kapitel nach den ‚Grausamen und gleich­gültigen Göttern in den altorientalischen Epen‘ (83-119). Gilgamesch würde gerne ewig leben, aber auf der Suche nach dem Wunderkraut erfährt er sein Menschsein, zu dem der Tod gehört. Mit Kapitel 3 bis 6 wagt PS den Vergleich mit griechischen und römischen Kon­­zeptionen von Weltentstehung, Menschsein, Tod und Untergang. Platons Dialog Timaios, ein spätes Werk, erklärt die Welt als Werk eines Handwerkers (Demiourgós δημιουργός), der die materielle Welt aus dem Chaos zum Kosmos formt in Entsprechung zu der Welt der Ideen. Das kann Platon aber nicht, wie er sich sonst eigentlich vornimmt, als Deduktion zur ‚wahren‘ Welt, sondern er braucht dafür die mythische Sprache. Das bewerten einige so: „Der Timaios ist weder wider­spruchsfrei noch kohärent“ (Rainer Enskat, S. 134; das ganze Kapitel 121-160).[5] Aristoteles, Platons Schüler und Konkurrent, verzichtet ganz auf Gleichnisse und mythische Bilder. Die Welt des Lebens ist Bewegung, die von einer anderen Bewe­gung angestoßen wird, Ursache und Wirkung. Denkt man das bis an den Anfang, dann muss es einen ersten Beweger gegeben haben, der nicht von einem anderen angestoßen wurde (Metaphysik, 10. Buch): Aristoteles‘ Kosmos ist entgöttlicht (161-175). Mit Aristoteles‘ Denk­figuren kann der christliche Professor des 13. Jahrhunderts, Thomas von Aquin, und anders der jüdische Denker Maimonides, Gott als den ‚ersten Beweger‘ einsetzen. Mit Philon von Alexandria stellt PS den ‚jüdischen Platon‘ vor (177-215). Die Zweiheit der Schöpfungserzählungen erklärt Philon als die Erschaffung der intelligiblen Welt im ersten (mit dem Menschen in 1,26f), die materielle Welt und den konkreten Menschen im zweiten Bericht, Gen 2-3. Die Materialisten oder Atomisten, von Demokrit über Epikur bis zu dem großartigen Gedicht des Lukrez, denken sich die Welt als Atome, die kleinsten Bausteine, aus denen Gestalten sich formen und wieder vergehen. PS nennt das den „perfekte(n) Gegenentwurf zum biblischen Schöpfungsbericht“ (217-267). Als Abiturient eines altsprachlichen Gymnasiums kann sich PS in die Antike hineindenken, ist offenbar fasziniert von dieser Konzeption und spielt nicht beide ‚Schöpfungsvorstellungen‘ gegeneinander aus. Es geht nicht um Wahrheit und Glaube, sondern Vorstellungen davon, ‚was die Welt im Innersten zusammenhält‘, indem man Anfang und Ende denkt; bei der Schöpfung dabei war keiner, es sind immer Vorstellungen, die etwas aussagen über die gegenwärtige Existenz. Auch der Urknall ist ein Versuch, die Wirklichkeit in einem Bild zu gestalten. Sich in die rabbinische Denker hineinzudenken ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die PS lesergerecht darbietet (269-326). Eine der Fragen ist, ob Gott bei der Schöpfung auf die Hilfe der Engel zurückgreifen konnte oder das seine Souveränität beeinträchtigt hätte. Sodann: Was war vor der Schöpfung schon vorzubereiten: Der Thron, von dem aus Gott die Schöpfung organisierte, der Name des Messias, der ideale Tempel? Für die Rabbinen ist der hebräische Text der Bibel ausschlaggebend, nicht die griechische Übersetzung, von der Philon ausging. Die Tora erweist sich als ein großer Plan Gottes für die Welt vom Anfang bis in die künftige Welt. Entsprechend diesem ‚Plan‘ war dann auch „die Schlange klug“ im Sinne Gottes (wie der Titel des Buches angibt).

Das Buch entstand gefördert von der Carl Friedrich von Siemens Stiftung. Von daher ist der Epilog (359-383) ein spannender Nachschlag. Die Erbsündenlehre wird im Konzil von Trient zum Dogma, eben dem Konzil, das im 16. Jahrhundert die ‚Fehler‘ der protestantischen Reformation zurechtrückt. Die protestantischen Philosophen Kant, Schiller, Fichte bedenken die Paradiesge­schichte. Bei Kant sollte man allerdings nicht nur die frühere Schrift von 1786 zitieren, sondern die auch die späte Religionsschrift (1793), in der Kant das „radikale Böse in der menschlichen Natur […] angeboren“ erklärt (AA VI, 21-37),[6] was Kant den Ruf ein­brachte, er habe eine protestantische Erbsündenlehre geschaffen. Schiller und Fichte zeigen, wie der alte Mythos eine Denkfigur auch der von Aufklärung und Französischer Revolution geprägten Philosophen wurde, sondern erst recht ist das der Ort, um ‚Politische Theologie und Erb­sündenlehre bei Carl Schmitt‘ (1888-1985) zu bedenken, dem ‚konservativen Revolutionär‘. Um für seinen Begriff des Politischen (1927) die grundlegende Unterscheidung von Freund und Feind voraussetzen zu können, behauptet er, „dass alle echten politischen Theorien den Menschen als ‚böse‘ voraussetzen, d.h. negativ bewerten.“ (23) – im Gegensatz zu den ‚libe­ralen‘ Theorien der Aufklärung. „Das theologische Grunddogma von der Sündhaftigkeit der Welt und der Menschen führt ebenso wie die Unterscheidung von Freund und Feind zu einer Einteilung der Menschen und macht den unterschiedslosen Optimismus des Menschenbegriffs unmöglich. In einer guten Welt unter guten Menschen herrscht natürlich nur Friede und Harmonie Aller mit Allen: […] die Leugnung der Erbsünde.“ (23f)

Mit der jüdischen Rezeptionsgeschichte der Urgeschichte und den anderen Konzeptionen von der Welt in anderen antiken Kulturen hat Peter Schäfer einiges weniger Bekanntes vorgestellt, und zum Vergleich daneben gesetzt. Dass die ‚Urgeschichte‘ im westlichen Denken über Jahrhunderte hinweg die Menschen zu sündhaften Wesen erklärte, die erlöst werden (Passiv!) müssen und nichts selbst dafür tun können (Aktiv), um zurück ins Paradies zu kommen, erweist sich als eine entmündigende Lesart, die den Mythos von Adam und Eva, von den Menschen, nicht trifft. Ein lesenswertes Buch, das Diskussion auslösen will. Die Doppelbödigkeit des Mythos sollte nicht zu kurz kommen. Menschen sind nicht gut oder böse, sondern kommunikative Wesen, die Rat, Kritik, Lob brauchen, auch mal Widerstand um ihren Weg zu finden. Aber sie sind mündige Wesen. Das will der Autor betonen und an den Erzählungen heraus­arbeiten. Wo, wenn nicht in der Schule, ist der Ort für solche tiefgreifende Fragen?

 

Bremen/Wellerscheid, 21. Mai 2023                                                                      Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

 

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[1] Prof. Peter Schäfer (*1943) forschte als Professor für Judaistik in Berlin (Freie Universität) und in Princeton. Sein Lebenswerk galt der Edition und Übersetzung des Jerusalemer Talmud u.a. Einige seiner Werke sind auf dieser website besprochen. Zu seiner Person und der Kritik an seiner Zeit als Direktor des Jüdischen Museums in Berlin 2014-2019, s. die Materialien auf Wikipedia. Im Folgenden kürze ich seinen Namen ab mit den Initialen PS.

[2] Zur Unmöglichkeit der christlichen Lehre vom ‚Selbstopfer‘ Christoph Auffarth: Opfer. Eine Europäische Religionsgeschichte. Göttingen: V&R 2023, bes. Kapitel 8.

[3] PS stützt sich hier auf den die neuere Forschung repräsentierenden Kommentar von Jan Christian Gertz: Das erste Buch Mose. Die Urgeschichte: Genesis 1-11. Göttingen: V&R 2018. Dass die Hebräische Bibel die Schöpfung auch noch durchaus verschieden darstellt, kommt hier nicht zum Ausdruck. Dazu erscheint gerade, sein Lebenswerk (nach der Anthropologie 2019 nun [22.Mai 2023]) zusammen­fassend Bernd Janowski: Biblischer Schöpfungsglaube. Religionsgeschichte – Theologie – Ethik. Tübingen: Mohr Siebeck 2023. XVIII, 775 Seiten. Mit drei Anhängen und zahlreichen Abbildungen.

[4] PS kommt auch auf den Babel-Bibel-Streit zu sprechen (69-81), dem Vorwurf, das ‚Alte Testament‘ habe alles nur aus dem Alten Orient ‚abgeschrieben‘ und sei damit wertlos, vgl. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/01/16/babel-bibel-streit/ (16. Januar 2023).

[5] Vielschichtiger erklärt Thomas Alexander Szlezák den Dialog in seinem Buch Platon. Meisterdenker der Antike. München: Beck 2021, 421-461, bes. 451-458: Wer ist der Demiurgos?

[6] Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft 1793. Die AA Akademie-Ausgabe ist digital greif­bar: http://www.korpora.org/Kant/verzeichnisse-gesamt.html (feste URL). Kants Erbsünden-Kon­zeption sind in den Stichwörtern „Hang zum Bösen“ (Claus-Dieter Osthövener S. 1000f), „Erbschuld und Erbsünde“ und „Böses, radikales“ (Thomas Wyrwich S. 519 und 305-310) in Marcus Willaschek; Georg Mohr [u.a.] (Hrsg.): Kant-Lexikon. Berlin: De Gruyter 2015) ausgearbeitet. Der Vor­wurf einer neuen Erbsündenlehre im Brief Goethes an Johann Gottfried Herder, zitiert dort S. 309.

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