Eine andere Seite der ‚frommen Politik’ in Amerika
Marcia Pally
Die neuen Evangelikalen. Freiheitsgewinne durch fromme Politik
Berlin: Berlin University Press 2010 – 353 S.
ISBN 978-3-940432-93-3
EUR 29.90
Man reibt sich die Augen: Evangelikale in den USA – hatten die nicht George W. Bush 2004 zur zweiten Amtszeit verholfen? Die politische Rechte, die mit christlichen Werten für Krieg, für Folter, gegen Abtreibung, gegen Sozialpolitik, gegen Krankenversicherung für alle votiert. Ja, in der Tat waren die Evangelikalen für die zweite Amtszeit von Bush die ausschlaggebende Wählergruppe. Aber nach der Wahl machten Konflikte um Wahlversprechen und eine wachsende Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit amerikanischer Werte, wie etwa die falsche Begründung, dass die USA im Irak eingreifen müsse, etwas deutlich: Wer christliche Werte vertreten will, darf sich nicht einseitig an eine Partei binden. Amerikanische Evangelikale umfassen ein weites Spektrum. Nach 2004 lösten sich fast die Hälfte von den Republikanern, weil sie erkannten, dass die Bindung an die konservative Partei verhindert, eigenständige evangelische Ziele zu setzen. Man kann schwerlich gleichzeitig etwa gegen die Tötung von Leben im Mutterleib sein und für die Tötung von Kriminellen, also die Todesstrafe. Deshalb haben sich die neuen Evangelikalen entschieden von den alten Bindungen getrennt, um unabhängig eine evangelische Agenda zu betreiben: für die Bewahrung der Schöpfung, gegen Krieg und Lügen. Selbst unter den Katholiken gibt es solche ‚Evangelikale‘ (S. 70). Das „Reich Gottes“ verstehen sie als Kontrastgesellschaft, God’s chosen people ist eine Pflicht, bedeutet nicht, sie könnten an Gottes Stelle urteilen (S. 133).
Diese Gruppe beschreibt Marcia Pally und weiß, das für eine deutsche Leserschaft zu übersetzen. Dass die USA nach der Verfassung ein Staat ist, in dem Kirche (religiöse Denominationen und Institutionen) und Staat getrennt sind, finden die neuen Evangelikalen, ist eine wichtige und gute Voraussetzung. Die Grundlage war, dass in der Geschichte die evangelischen Christen, die in Europa verfolgt wurden und fliehen mussten, in Amerika Freiheit fanden. Diese Freiheit darf nicht aufgegeben werden, indem sich die evangelischen Christen an eine bestimmte Partei binden. Wie schon der Name sagt, beruft sich das Bündnis der Tea-Party [ref] Mit der Tea-Party in Boston als Verweigerung der Steuer- bzw. Zollzahlung an die englischen Kolonialherren 1773 beginnt die amerikanische Revolution und die Eigenständigkeit als USA. [/ref] (seit 2009) auf die gleiche Freiheitstradition wie die Demokraten. Aber evangelikal im amerikanischen Sinne geht auch ohne Kriegsbefürwortung oder Kreationismus (S. 85). Sehr spannend der Abschnitt über die Haltung zur Homosexualität (S. 178)! Wie diese Diskrepanz denkbar ist, kann Pally verständlich machen.
In Deutschland ist das Wort Evangelikale für eine bestimmte Gruppe gemünzt und mit Intoleranz, einseitiger und enger Auslegung der Bibel und daraus abgeleiteten Regeln Gottes verbunden, die jeder Mensch auszuführen habe. Das Buch von Marcia Pally zeigt andere amerikanische Christen, die auch fromm leben und ihr Leben an evangelischen Grundsätzen ausrichten, aber weit mehr dem evangelischen Flügel entsprechen, aus dem die „Grünen“ in Deutschland hervorgegangen sind. Die ließen sich damals von den Ideen genau jener inspirieren, deren Namen hier wieder prominent erscheinen, etwa Jim Wallis. So neu sind diese neuen Evangelikalen also nicht. Das Buch enthält dazu Interviews (Teil III, S. 185–295), in denen man die Meinung einzelner erfährt, die an ‚neuen evangelikalen‘ Projekten arbeiten. Wer Amerika verstehen will, und das müssen alle, lernt hier eine wichtige andere Seite kennen. Unbedingt lesen! Es lohnt sich.
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Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen