Buch des Monats September 2015: Meister Eckhart und Nikolaus von Kues – Bilder verstehen und transzendieren

Rz-Schwaetzer-Eckhart-Cusanus-BildHarald Schwaetzer und Marie-Anne Vannier
in Verbindung mit Johanna Hueck,
Matthias Vollet und Kirstin Zeyer (Hg.):

Der Bildbegriff bei Meister Eckhart und Nikolaus von Kues.

Texte und Studien zur europäischen Geistesgeschichte, Reihe B, Band 9.
Münster: Aschendorff 2015, 268 S., 24 Abb. im Anhang — ISBN 978-3-402-15996-5 —

Das äußere Sehen ist nur der Zugang zu einem Teil von Realität, die „in Wirklichkeit“ viel umfassender ist. Für die Mystiker war darum das innere Sehen als Annäherungselement an das Göttliche entscheidend. Dies prägt dann menschliche Gottesbilder in all ihrer Vorläufigkeit und Hoffnungs-Vision. Mit dem Bild ist jedoch immer auch ein bestimmter Ausdruck, also Sprache verbunden. Dadurch gibt es die Möglichkeit, etwas zu benennen, also dem erahnt Gesehenen einen Namen zu geben.
Zwei Tagungen im März 2012 in Metz und in Trier sind der Hintergrund für diese Veröffentlichung. Die Herausgeber, ausgewiesene Mystik-Kenner, haben hier die Vorträge thematisch zusammengefasst.

Die Texte zeigen in unterschiedlicher Weise nicht nur die Bezüge zu Meister Eckhart, sondern auch zur neuplatonischen Tradition der Rheinischen Mystik. Ein Gesichtspunkt, der immer wieder thematisiert wurde, ist der Zusammenhang von Name und  Benennung, vereinfacht gesagt: Wie lässt sich das Namenlose benennen und das Unbegreifbare begreifen? Nikolaus von Kues hat gezeigt, dass man danach fragen darf, ja muss! Aber wie kann das angemessen geschehen? Dazu ist also eine besondere Wissensform nötig. Sie beschreibt der Cusaner in der docta ignorantia. Wahres Verstehen ist offenbar nur möglich durch den Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum).  Damit wird zugleich die Begrenztheit des kategorialen Denkens offenbar.

Dieses nicht leicht zu lesende Buch ist von großer Wichtigkeit. Denn hier wird von zwei zentralen Theologen des Mittelalters eine phänomenale Pluralität und Differenziertheit entwickelt. Sie dient dem Versuch, sich dem Geheimnis des Göttlichen anzunähern. Dies geschieht vorläufig und durchaus widersprüchlich, wenn es um Benennung des Göttlichen geht. Chancen und Anregungen mit Hilfe von Metapher, Bild und Symbolik geben Hinweise, dass das Göttliche bei aller Konzeptualisierung nur im Paradox annäherungsweise zugänglich und im Bild metaphorisch ausdrückbar ist. Herausgeber und Autoren manifestieren mit deiesme Buch zur rheinischen Mystik  einen wichtigen Abschnitt europäischer Geistesgeschichte – gerade auch im Blick auf gegenwärtige Debatten zur Gottesfrage.

Ausführliche Beschreibung: hier

 

Reinhard Kirste

Rz-Schwaetzer-Eckhart-Kues-Bild, 31.08.15

Buch des Monats August 2015: Diskussion um „das Heilige“

Rz-Gantke-Das HeiligeWolfgang Gantke, Vladislav Serikov (Hg.):
Das Heilige als Problem der gegenwärtigen Religionswissenschaft
Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2015. 143 S.
Reihe: Theion.
Studien zur Religionskultur – Studies in Religious Culture. Bd. XXX
— Print: ISBN 978-3-631-65400-2
— E-Book: ISBN 978-3-653-04429-4

Im Horizont des strittigen Begriffs „das Heilige“versuchen die Herausgeber sowie die anderen Beitragenden aus Religionswissenschaft, Philosophie, Pädagogik, Kulturwissenschaft und Theologie Schneisen des Verständnisses nicht nur für unterschiedlich denkende Religionswissenschaftler, sondern für alle Interessierten zu legen. Der Religionwissenschaftler Rudolf Otto und sein Verständnis des Heiligen spielt in dieser andauernden Dabatte weiterhin eine Schlüsselrolle.

Das Buch hat drei Schwerpunkte:

  1. Die Auseinandersetzung mit Rudolf Otto und seiner Erlebnistheorie des Heiligen
  2. Die Möglichkeiten angewandter Religionswissenschaft
    im Kontext kulturhistorischer, empirischer und religions-phänomenologischer Untersuchungen
  3. Begründungen, Entwürfe und Absicherungen
    von Theorien des Heiligen auf phänomenologischer Basis.

Die Autoren vermitteln wichtige Anstöße, um „das Heilige“ in verschiedenen Kontexten wahr-zunehmen und sich zu verdeutlichen: Objektivierbare Zugriffe auf Numinoses insgesamt führen offensichtlich in eine Sackgasse. Rudolf Ottos Position spielt für gegenwärtige Verstehens-Annäherungen darum eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Ausfürliche Besprechung: hier

Reinhard Kirste

Rz-Gantke-Das Heilige, 31.07.15     Creative Commons-Lizenz

Buch des Monats Mai 2013: Macht und Ohnmacht der Religionen

Rz-Boberski-WeltmachtHeiner Boberski / Josef Bruckmoser: Weltmacht oder Auslaufmodell.
Religionen im 21.Jahrhundert
.
Innsbruck-Wien: Tyrolia 2013, 222 S.
— ISBN 978-7022-3239-9 — auch als E-Book erhältlich

Ausführliche Beschreibung: hier

 Die beiden Journalisten und zugleich theologisch kompetenten Sachbuchautoren Heiner Boberski (Wiener Zeitung) und Josef Bruckmoser (Salzburger Nachrichten) nehmen sich in leicht lesbarer, aber keineswegs populistischer Form den Schwankungsfeldern von Religion an. Sie konstatieren für die Gegenwart Ablehnung von (organisierter) Religion einerseits und neue religiöse, oft seltsame Phänomene andererseits. Ihre Einschätzungen sichern sie immer wieder mit statistischen Belegen ab. Hinzu kommen medienwirksame Auftritte religiöser Persönlichkeiten wie die des Dalai Lama und der Päpste. Darum lohnt sich ein genaueres Nachschauen, denn: „Die religiöse Weltkarte ist … im Lauf der Geschichte nie über längere Zeit stabil geblieben … “ (S. 20).

Letztlich wirken Religionen am intensivsten und überzeugendsten mit ihrer dialogischen Friedensmacht, immer wieder geprägt durch Vorbilder des engagiert gelebten Glaubens. So gesehen sind sie keineswegs ein Auslaufmodell. Wichtig aber bleibt, dass nicht immer wieder religiös motivierte Brutalität, diese Versöhnungskräfte diskreditiert. Das vorliegende Buch stellt angenehmerweise nicht nur Fragen oder referiert Gesellschaftsanalysen, sondern zeigt, wie Religionen als Brücken einer gerechten und solidarischen Zukunft der Menschheit dienen können – eine schöne Verbindung und ein wichtiger Aufruf zu respektvoller Verbindlichkeit gegenüber allen Andersglaubenden. Es ist ein Buch, dem man viele Leser wünschen möchte.

Reinhard Kirste 

Rz-Boberski-Weltmacht, 27.04.13

 

 

Lieder der Gottesliebe – die Gitagovinda

Rz-GitagovindaJayadeva: Gitagovinda. Lieder zum Lob Govindas.
Aus dem Sanskrit übersetzt und herausgegeben von Erwin Steinbach.
Frankfurt/M. und Leipzig: Verlag der Weltreligionen (im Insel-verlag) 2008, 194 S., Glossar,
Kommentar und Register — ISBN 978-3-458-70012-8 — 

Ausführliche Beschreibung: hier

Kurzrezension
Es gibt zwar eine Faszination für indische Kulturen, dennoch bleiben wichtige literarische Werke aus dem indischen Subkontinent einem relativ kleinen Leserkreis in Deutschland vorbehalten. Darum erscheint es wichtig, auf poetisch geprägte heilige Texte aufmerksam zu machen, die durchaus der berühmten Bhagavad Gita nahekommen. Mit der Gitagovinda liegt vor uns gewissermaßen ein indisches „Hoheslied“, das Sinnlichkeit und mystische Gottesschau gleichermaßen verbindet.

Der Autor der Gita Govinda ist Jayadeva. Er lebte im 12. Jahrhundert in Orissa bzw. West-Bengalen und gehörte zu den Anhängen des Gottes Vishnu.  Jayadevas asketisches Leben, verbunden mit grenzenloser Liebe und Hingabe (Bhakti), seine Poesie und seine Qualitäten als Guru machen ihn bis heute in Indien zu einer spirituellen Berühmtheit.

Für den nicht indologisch kundigen Leser ist es nicht ganz leicht, diese Krishna-Lieder in sich aufzunehmen, zumal uns Heutigen die Sprache oft extrem blumig und damit fremd vorkommt. Und dennoch eröffnet sich in dem Überschwang solch mystisch-poetischen Erzählens ein Geheimnis, das die Menschlichkeit des Göttlichen zum Ausdruck zu bringen versucht und damit spirituell-interreligiöse und nicht nur religionswissenschaftliche oder literarische Beachtung verdient. Denn trotz der anders kulturell eingefärbten Bilder scheint eine Nähe zu den Mystikern der Nachbarreligionen Islam und Christentum durch. Manche Textpassagen erinnern an Worte berühmter Sufi-Poeten wie Attar, Rumi und Ibn Arabi oder schlagen gar die Brücke zur christlichen Mystik in Europa (des Mittelalters) mit ihren Themen von Liebe, Leiden und Gottversenkung. Der relativ kurze Text der Gita Govinda wird damit zu einer poetisch-ästhetischen Erweiterung eigenen spirituellen Selbstverständnisses.

Reinhard Kirste

15.02.2013

 

Ibn al-Farid: Reisewege der Seele

Rz-Ibn al-FaridIbn al-Farid: Der Diwan. Mystische Poesie aus dem 13. Jahrhundert.
Aus dem Arabischen übersetzt und herausgegeben von Renate Jacobi.

Berlin: Verlag der Weltreligionen im Insel-Verlag Berlin 2012, 407 S.,
mehrere Register — ISBN 978-3-458-70037-1

Ausführliche Bescheibung: hier

Kurzrezension
Der Diwan des Ibn al-Farid lenkt den Blick auf einen der herausragenden Vertreter des späteren Sufismus und der arabischen Poesie. Ibn al-Farid wurde 1181 in Kairo geboren und starb auch dort im Jahre 1235. Er wurde wegen seiner herausragenden Persönlichkeit und verinnerlichten Sprache geradezu als Heiliger verehrt. Er lässt sich in seiner gelebten Spiritualität und sprachlichen Ausdruckskraft durchaus mit Meister Eckhart, Johannes vom Kreuz und Angelus Silesius vergleichen.

Erfahrungen der Gottesliebe brechen poetisch  in den Sprachformen arbischer Poesie, den Kassiden durch, der Wein wird zum Symbol göttlichen genießens. In der Stufenreise der Seele bewegen den spirituellen Pilger Manifestationen der Schöpfung und des des Kosmos durch, in Bildern von Gefährdung und von Gnade, ver-dichtet im Erleben von Liebe und Leiden. Dies geschieht in einer sprachlichen Ästhetik, der es gelingt, sich dem Geheimnis der Überwindung von Dualität anzunähern.

Den Lesenden eröffnet sich mit dieser bildreichen Sprache eine Welt, die aus dem Alltäglichen heraus in die Tiefe wahren Seins führt. Die innere Nähe zu christlichen MystikerInnen macht Ibn al-Farid zugleich zu einem Brückenbauer zwischen Orient und Okzident, und zwar in glaubwürdiger Authentizität über Religionsgrenzen hinweg. Ich wünschte mir, dass Ibn al-Farid mit seiner interreligiösen Perspektive stärker im christlich-islamischen Gespräch wirksam wird.

Reinhard Kirste
Rz-Ibn al-Farid, 17.01.13

Creative Commons-Lizenz

Meister Eckhart – Philosophische Perspektiven und mystische Erkenntnis

Rz-Meister-Eckhart-Jahrbuch-11Meister-Eckhart-Jahrbuch 5 / 2011. (Rolf Schönberger und Stephan Grotz, Hg.):
Wie denkt der Meister? Philosophische Zugänge zu Meister Eckhart.

Stuttgart: Kohlhammer 2012, 198 S., mehrere ausführliche Register
— ISBN 978-3-17-022016-4 —

Mit dem Meister-Eckhart-Jahrbuch präsentiert die Meister-Eckhart-Gesellschaft die Ergebnisse ihrer Tagungen und wissenschaftlichen Forschungen nicht nur ihren Mitgliedern, sondern insgesamt einer an mittelalterlicher Mystik interessierten Öffentlichkeit. In diesem Jahrbuch werden besonders die philosophisch-interdisziplinären Grenzgängen Meister Eckharts Jahrbuch 5/2011 vorgestellt: Wie denkt der Meister?

Im Vorwort gehen die Herausgeber auf Desiderate der Eckhart-Forschung ein: „Noch unzulänglich sind … diejenigen Fragen gestellt und bewältigt, die seine [Meister Eckharts] Denkweise betreffen und die für sie kennzeichnende Form ins Auge fassen … Wie verlaufen die Denkoperationen, die für ihn typisch sind, die ihn einerseits zu einer bedeutenden Gestalt des Neuplatonismus machen und ihm doch ein ganz eigenes Gepräge geben?“ (S. X). as vorliegende Jahrbuch versucht, diese Lücke zu füllen.

Eine Reihe kompetenter Fachleute Meister Eckhart als eigenständigen Denker des christlichen Selbstbewusstseins vor. Das gilt besonders für seine ungewöhnlichen Auslegungswege gerade biblischer Texte hin auf die Erkenntnis der wahren Quelle: Christus.  In der „Sohnwerdung“ des Menschen wird dieser mit Christus „eins“.

Es ist nicht ganz leicht, das „wahre Selbst“ und sein nicht-dualistisches, d.h. sein All-Einheits-Denken bei Meister Eckhart zu erfassen. Wirkungsgeschichtlich und interreligiös grenzüberschreitend steht „der Meister“ in der arabisch-philosophischen Aristoteles-Rezeption, die übrigens der jüdische Philosoph Maimonides herausragend repräsentiert.

Wer sich intensiver mit dem philosophischen und theologischen Denkens Meister Eckharts, seiner geistig-verwandten Vorläufer, Zeitgenossen und Nachfolger befassen will, wird mit diesem Jahrbuch bestens weitergeführt.

Reinhard Kirste

Creative Commons-Lizenz

Rz-Meister-Eckhart-Jahrbuch-11, 09.01.13

Ein-Sichten – die INTR°A-Rezensionsseite mit weiterer Adresse

Die Rezensionsseite der Interreligiösen Arbeitsstelle (INTR°A) hat eine weitere Adresse: Buchbesprechungen, Literaturhinweise, Filmkritiken usw. zu (inter-)religiösen Themen  können jetzt hier ausführlich abgerufen werden.

Rezensionsseite “Ein-Sichten” jetzt unter: http://buchvorstellungen.blogspot.de/

Alle bisherigen Eintragungen bis März 2012 sind weiter erreichbar und auch unter einer Adresse zusammengefasst,
und zwar als Archiv der Rezensionen:
http://buchvorstellungen.blogspot.de/2012/03/archiv-alterer-rezensionen.html

Das auf aktuelle religiöse Ereignisse eingehende INTR°A-Tagebuch hat ebenfalls eine
zweite Adresse: http://intra-tagebuch.blogspot.de/

Eine ausführliche Übersicht über alle veröffentlichten Materialien im Zusammenhang mit der Interreligiösen Arbeitsstelle (INTR°A) bietet die Seite: http://religiositaet.blogspot.de/

Buch des Monats Mai 2012: Zeiten übergreifende mystische Begegnungen

Hildegard Elisabeth Keller: Trilogie des Zeitlosen
Verlag der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH):
  • Band 1: Die Stunde des Hundes.
    Nach Heinrich Seuses „Exemplar“.
    2011, 2. Aufl., 2011, 160 S., Abb. – 3 Audio-CDs mit Min. 205 Min. Laufzeit
    ISBN 978-3-7281-3139-3
  •  Band 2: Das Kamel und das Nadelöhr. Eine Begegnung zwischen Zhuangzi und Meister Eckhart. 2011, 192 S., Abb.
     – Audio-CD mit 78 Min. Laufzeit
    ISBN 978-3-7281-3436-3
  • Band 3: Der Ozean im Fingerhut. Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg, Hadewijch und Etty Hillesum im Gespräch. 2011, 224 S., Abb.
    – 2 Audio-CDs mit 140 Min. Laufzeit  –
    ISBN 978-3-7281-3437-0

Wer die Titel dieser auch optisch schon ungewöhnlich daherkommenden Bücher liest, wird zuerst irritiert sein, dann aber werden die sorgsam Lesenden auf die entscheidende Fährte gebracht: Mystische Begegnungen der besonderen Art. So wird Spiritualität und verinnerlicht geprägte Geschichte für die Augen und Ohren gleichermaßen lebendig.
Die Autorin Hildegard Elisabeth Keller, aus St. Gallen stammend, hat deutsche und spanischen Literaturwissenschaft und Linguistik sowie Soziologie in Basel und Zürich studiert. Sie hat 2008 einen Lehrstuhl für deutsche Literatur an der Indiana University in Bloomington USA, und lehrt in regelmäßigen Abständen an der Universität Zürich.
Webseite von Hildegard Elisabeth Keller mit Vorstellung ihrer Publikationen, Videos und mit ausgewählten Hörbeispielen: http://www.hildegardkeller.ch/
Mit dieser durchaus historischen, aber dann doch wieder fiktiven Trilogie macht sie Begegnungen von Mystikerinnen und Mystikern möglich, von denen sich einige nie getroffen hätten. Denn die Zeitachse reicht vom 4. Jahrhundert v. Chr. bis ins 20. Jahrhundert n. Chr. Im 1. Band bleibt die Autorin noch weitgehend auf der „realistischen“ Ebene, besonders geprägt durch die Beziehungen von Heinrich Seuse zu Elsbeth Stagel und umgekehrt. Im 2. Band überspringt sie die Jahrhunderte im Zusammentreffen von Meister Eckhart mit dem chinesischen Philosophen Zhuangzi, im 3. Band schließlich schlägt sie den Bogen von der Nonne Hildegard von Bingen und den Beginen Mechthild von Magdeburg und Hadewijch aus Brabant bis zur (jüdischen) Lehrerin Etty Hillesum aus Deventer.
Diese reichhaltige Trilogie, ein innerer „Verbund“ von drei Sach-Bilder-Büchern, mit Lesetexten und vielen Möglichkeiten zur Bild-und Hörbetrachtung setzt ein besonders intensives Hineinlesen und Hineinhören voraus. Durch die von Schauspieler/innen gesprochenen Texte (hochdeutsch und mittelhochdeutsch) und für dieses Projekt arrangierte meditative Musik mit vielen Anklängen an mittelalterlichen Gesang und Tonklang entsteht ein kleines Gesamtkunstwerk. Es bildete zugleich eine Art Begleitrahmen für die große Mystik-Ausstellung im Museum Rietberg (Zürich) vom 23.09.2011 bis 15.01.2012: „Mystik: Die Sehnsucht nach dem Absoluten“
Hildegard Elisabeth Keller hat mit diesen Zeitsprüngen einen Rahmen, sozusagen ein Gefäß hergestellt, „Fingerhüte“ mit denen das scheinbar sinnlose Unterfangen, den Ozean auszuschöpfen, zwar weiterhin unmöglich bleibt, aber dennoch erstaunlicherweise für Seele und Geist vertiefende Elemente erkennen lässt (vgl. Band 3: Der Ozean im Fingerhut). So können die Nach-Lesenden und Nach-Hörenden im Umgang mit dem zugänglichen äußerlich-realen Minimum ein Optimum umfassender, innerer-transzendenter Realität erahnen. Interreligiös-mystische Begegnungen über Zeiten und Räume hinweg werden zu Zeiterfahrungen jenseits der Zeit.

Ausführliche Besprechung der einzelnen Trilogie-Bücher: hier

Hildegard Elisabeth Keller: 
— Video: Im fliessenden Licht der GottheitPortal Katholische Kirche Schweiz – kath.ch

— Im Literaturclub des Schweizer Fernsehens: SF kultur am 29.05.2012

Reinhard Kirste

Buch des Monats April 2012: Anfänge der jüdischen Mystik

Peter Schäfer: Die Ursprünge der jüdischen Mystik. Aus dem Amerikanischen von Claus Jürgen Thornton. Berlin: Verlag der Weltreligionen im Insel-Verlag 2011, 671 S. Register — ISBN 978-3-458-71037-0
Originaltitel: The Origins of Jewish Mysticism. 
Princeton University Press 2011
    Peter Schäfer arbeitete von 1974-1983 als Professor für Judaistik am Martin Buber-Institut der Universität zu Köln, 1983 wechselte er an die Freie Universität Berlin. Seit 1998 hat er zugleich die Ronald-O.-Perelman-Professur für Jüdische Studien an der Princeton University inne. Er gehört zu den international renommiertesten Judaistik-Forschern und erhielt 2007 den hoch dotierten Preis der “Andrew W. Mellon Foundation”.
Seine breit gefächerte Veröffentlichungsliste enthält u.a.:

— Geschichte der Juden in der Antike.
     Die Juden Palästinas von Alexander dem Großen bis zur  arabischen Eroberung (
1983)
— Mirror of His Beauty: Feminine Images of God from the Bible to the Early Kabbalah(2004)
— Wege mystischer Gotteserfahrung : Judentum, Christentum und Islam (
2006)
Jesus im Talmud (2007)
—-
The Jewish Jesus. How Judaism and Christianity Shaped Each Other (2012)


Die Geschichte der jüdischen Mystik vor der Kabbala ist erstaunlicherweise bislang noch nicht geschrieben worden. Peter Schäfer greift mit seinem Werk hier gezielt ein. Trotz seiner gut verständlichen Sprache werden diejenigen, die nicht mit der Materie vertraut sind, den Spannungsbogen und die facettenreichen exegetischen Details zwischen jüdischer Apokalyptik, Auslegung der nachbiblischen Traditionen und Mystik nicht immer leicht durchschauen. Denn der weite Weg beginnt mit einer ungewohnten Sicht auf die apokalyptisch geprägte Thronwagenvision des Propheten Ezechiel (Kap. 1) hin zu den sog. apokryphen Henoch-Schriften. Weiterhin stellt Schäfer Qumran, Philo von Alexandrien vor und endet bei der der vorkabbalistischen Merkava(Merkaba)-Mystik. Die vielen Zitate, die die Intentionen von Verfassern und Redaktoren verdeutlichen, belegen auch die Intentionen der einzelnen Schriften.      
Ausgesprochen hilfreich zur Orientierung sind die zusammenfassenden Ergebnisse
(S. 447-482). Die historisch-exegetischen und literarkritischen Details sind in einem ausführlichen Anmerkungsteil untergebracht (S. 483-598).
Die schwierige Einschätzung von den Anfängen der Kabbala im Europa des 12. Jahrhunderts geschieht dabei unter Bezug auf frühere Entwicklungslinien. Das ernüchternde Fazit: 
Es lässt sich kein präzises Ergebnis ausmachen: Die Ursprünge der jüdischen Mystik bleiben letztlich im Dunkel. So überlegt Schäfer auch im Diskurs und teilweiser deutlicher Abgrenzung von anderen Forschern, seit wann man überhaupt von jüdischer Mystik sprechen kann. Die Geschichte von der jüdischen Apokalyptik über die Qumran-Rollen bis hin zur sog. mystischen Hekhalot-Literatur der Spätantike stellt sich durchaus als Konglomerat verschiedener Strömungen dar.
Über die historische Aufarbeitung hinaus zeigt die Lektüre der herangezogenen Texte etwas Grundsätzliches: Menschen treiben immer wieder fragend die Sehnsucht weiter, wie man Gott nahe kommen oder in sich aufnehmen kann. Das führt auch dazu, dass Schäfer nicht „definiert“, sondern „jüdische Mystik“ durch entsprechende Annäherungen umschreibt und sich gegen eine allgemeine Kategorie „Mystik“ wehrt. Das hängt schließlich damit zusammen, dass mystische Formen sich aus unterschiedlichen „cultural, religious and historical settings“ entwickelt haben. „Wir sollten auch nicht vergessen, daß das, was wir Mystik nennen, kein Äquivalent in irgendeiner der Sprachen hat, in denen unsere Quellen erhalten sind“ (S. 481).
Dieser Erkenntnis folgend, ergibt sich für die von Schäfer vorgestellten und kommentierten Texte immerhin eine systematische Entwicklungslinie in acht Abschnitten mit einer Bilanz im 9. Abschnitt.
1.  Der alttestamentliche Prophet Ezechiel  (6. Jh. v. Chr.) erlebt eine intensive Berufungsvision (Ezechiel [Hesekiel] 1), gewissermaßen unter kosmischen Bedingungen. Das Aufscheinen der Herrlichkeit Gottes in diesem von himmlischen Wesen gezogenen Thronwagen ist zugleich eine Annäherung an Gott:   
„Der Gott, der Ezechiel erscheint, ist der Gott der Erzväter, der Gott des Universums, der (noch) nicht auf den Tempel beschränkt ist“ (S. 81).
2./3.  Henoch und sein Kreis, der Aufstieg zum Himmel und Henochs geistige Gefährten in der Bibel und in der nachbiblischen Wirkungsgeschichte: Es geht um die Prägung der Henoch-Vision durch diejenige Ezechiels. Im sog. Wächterbuch erfolgt eine strahlende Vision des „Großen“ (S. 93) mit seinen Engeln. Im Testament Levis, dem Jakobssohn, wird u.a. seiner Weihe zum Priester nachgegangen. Er verweist auf den eschatologischen Priester angesichts korrumpierter irdischer Priester. Schließlich beschäftigt sich Schäfer noch mit den Bilderreden Henochs, um dann das slawische Henochbuchvorzustellen. Die Apokalypse Abrahamszeigt die  Verwandlung des Erzvaters in einen Engel im Gegensatz zum götzendienerischen Verhalten des Volkes Israel. So wurde der Tempel zerstört, aber eine schwache Hoffnung bleibt. In den Apokalypsen der Propheten Jesaja und Zephanja wird das künftige Schicksal des Einzelnen betont. Auch Jesaja wird in seiner Schau engelgleich bei seinem Aufstieg bis zum 7. Himmel, aber es bleibt bei ihm ein Erdenbezug. Hier zieht Schäfer im Sinne der geistigen Gefährten Henochs noch die neutestamentliche Johannesapokalypse heran, die für die spätere Merkava-Mystik eine große Rolle spielt.
4.  Der vierte große Block wird durch die Qumran-Literatur geprägt. Hier hebt Schäfer nach der geschichtlichen Einleitung hervor: Qumran als Gemeinschaft von wahren Priestern, als eine Gemeinschaft mit den Engeln. Diese werden die Gemeinde auch in der (zu erwartenden) eschatologischen Schlacht begleiten. Qumran ist jedoch zugleich auch eine liturgische Gemeinschaft mit Engeln. Angesichts der vielen Spekulationen um die Gemeinschaft von Qumran ist dies ein spannender, aber auch ernüchternder Zugang im Blick auf die wirkungsgeschichtliche Bedeutung derjenigen Texte, die die Qumaran-Gemeinschaft prägten: Damaskusschrift, Gemeinderegel, Hymnenrolle, Kriegsrolle
Der Autor hebt zur Verdeutlichung besonders die Sabbatopferlieder, und den Selbstverherrlichungshymnus (vermutlich vom wieder erstandenen „Lehrer der Gerechtigkeit“) hervor. Auch hier das ernüchternde Fazit: „Nichts in den Texten von Qumran erlaubt uns, die Vorstellung einer unio mystica, einer mystischen Vereinigung mit Gott, in sie hineinzulesen, eine Kategorie, die von Religionshistorikern (besonders solchen mit christlichen Hintergrund) hochgehalten wird“ (S. 215).
5.  Mit dem Zeitgenossen Jesu, dem Philosophen Philo von Alexandria, verlässt Schäfer die apokalyptische Szenerie und geht auf die absolute Transzendenz von Philos Gott und seiner Vielgestaltigkeit ein, die sich im Logos manifestiert. Im Blick auf den Menschen unterscheidet der Philosoph zwischen Leib, Seele, Sinne und Geist. Mystisches klingt bei der Gotteserkenntnis sowie in der Bildsprache Philos an, und zwar durch die Verwandlung der Seele in ein göttliches Wesen.
6./7. Ausführlich kommt Schäfer in diesen beiden Kapiteln auf die Exegese der Rabbinen zu sprechen: Bearbeitung, Auslegung und Ergänzungen zum biblischen Kanon von der Spätantike bis ins frühe Mittelalter. Es geht um Gottesannäherung durch Exegese ohne Himmelsreise, und zwar durch Auslegung der Tora und mit Hilfe der Fixierung mündlicher Traditionen in der Mischna. Sie bilden die Grundlage für den Babylonischen und Jerusalemer Talmud. Hinzu kommen die Ergänzungen in der Tosefta. Man darf sie sicher auch als Reaktion auf die Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. sehen. Natürlich blickt Schäfer wiederum auf die Vision von Ezechiel 1 und den Fortgang dieser Auslegungsgeschichte, die sich nun zu einer Auslegungskette verfestigt. Damit hat sich der Autor die Basis für die sog. Merkava-Literatur gelegt, in der es letztlich darum geht, die verdichtende „Anschauung“ auf Gottes Thron zu entschärfen, vielleicht darf man sogar sagen zu rationalisieren. Die beiden Talmude mit ihren aufschlussreichen redaktionellen Bearbeitungen und erweiterten Geschichten machen eine anti-apokalyptische und anti-ekstatische Tendenz deutlich.
8. Durch diese Kritik der vor-kabbalistischen Strömungen im Judentum lohnt es nun diese Merkava-Mystiker genauer zu untersuchen, deren letzte Formen bis ins 9. Jahrhundert reichen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den sog. Gedulla- und Quedusha-Hymnen, die diese Aufstiege (in einer Reihe von Aufstiegsberichten) zur Gottesschau beschreiben und den Mystiker an die Seite Gottes rücken. Märtyrer-Erzählungen bekommen angesichts messianischer Heilserwartung verstärktes Gewicht. Auf dem Weg zum „Aufstieg in die Thronwelt“, müssen diverse Schwellen überschritten und Gefahrensituationen ausgestanden werden. Und vieles erinnert an ähnliche Vorstellungen aus der weit gefächerten Gnosis und dem Neuplatonismus. Nicht der Exeget steht mehr im Mittelpunkt des Verstehenwollens, sondern der Adept. Es kann hier nicht auf diese umfassende Darstellung der Merkava-Mystiker und der Hekhalot-Literatur bis hin zum 3. Henoch eingegangen werden. Schäfer zieht das Fazit: Angesichts der Unterscheidung von Körper und Seele (was sowohl für den Mystiker wie die Gottesvorstellung gilt) in der Hekhalot-Literatur bis hin zum magischen Gebrauch des Gottesnamens führen diese (spekulativen) Auslegungstendenzen letztlich wieder zurück in die Apokalyptik.
9.  Ergebnisse:  
Insgesamt stellt sich eine differenzierte Vielfalt von Verständnisweisen der sog. Thronwagenmystik dar, ohne dass der Rezensent sagen kann, alle Verästelungen früher jüdischer Mystik-Vorstellungen wirklich nachvollziehen zu können. Die Visionen des Aufstiegs zu Gott treiben menschliche Sehnsüchte dazu, Gott oder dem Göttlichen apokalyptisch, ekstatisch oder eher rationalistisch-exegetisch nahe zu kommen. Damit bleiben solche Suchbewegungen letztlich offen. Es werden nicht einmal ansatzweise endgültige Antworten gegeben. Peter Schäfer ist diesen durchweg zu hinterfragenden Antworten der Gottes-Annäherungen im spätantiken-frühmittelalterlichen Judentum mit ausführlicher und präzis bohrender Schärfe nachgegangen. Er hat mit dieser umfassenden und detailgenauen Abhandlung eine bisher bestehende Lücke im Klärungsprozess mystischer Literatur des spätantiken und mittelalterlichen Judentums geschlossen.
Wer sich durch das wahrhaftig nicht leicht zu lesende Werk von Peter Schäfer durchgearbeitet hat, besonders wenn er oder sie kein Spezialist jüdischer religiöser Literatur für Apokalyptik, Rabbinen-Exegese und vor-kabbalistischer Mystik ist, wird als aufmerksame/r Bibelleser/in die symbolträchtige Apokalyptik des Alten und Neuen Testaments in einem neuen, oft ungewohnten Lichte sehen. Gott bleibt das große Geheimnis und alle erklärende Begrifflichkeit gerät vor diesem Geheimnis an eine nicht zu überwindende Grenze.
Reinhard Kirste
Buch des Monats April 2012

Buch des Monats Februar 2012 – Mystik oder die Sehnsucht nach dem Unbedingten

Mystik hat Konjunktur, was auch immer man im einzelnen darunter verstehen mag. Die an der Universität Graz beheimateten Herausgeber des Bandes „Sehnsucht Mystik“ haben sich auf eine Art Orientierungsreise begeben, um der offensichtlich unstillbare Sehnsucht willen, die eigenen menschlichen Grenzen  hin zu einer umfassenden Wirklichkeit zu überschreiten. Sie beziehen sich dabei auf die vielfältige mystische Tradition des Christentums in Vergangenheit und Gegenwart bis hin in die Rituale des Alltags. Es geht weniger um tiefe Erleuchtungserfaghrungen, sondern mit einer „geerdeten“ Spiritualität dem Geheimnis des Göttlichen näher zu kommen, auch mit Hilfe reformierter liturgischer Rituale.

Elisabeth Pernkopf / Walter Schaupp (Hg.):
Sehnsucht Mystik
Theologie im kulturellen Dialog 22
Innsbruck-Wien: Tyrolia 2011
— Rezension hier —