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Theologisieren mit Jugendlichen

Hallo Welt!

keine Ahnung, ob nach dem Ende von Openreli 2013 noch jemand mitliest – ich hab jedenfalls immer noch große Lust, ein wenig vor mich hin zu bloggen, und manchmal gibt´s ja Anlässe. Diesmal die Frage nach „Theologie im kompetenzorientierten Unterricht“ (Reinhard zuliebe ;-)).  Ich habe gerade ein paar sehr interessante Stunden erlebt, in denen meine Schülerinnen miteinander theologisch diskutiert haben. Ich hab ja das Glück, dass „Gespräche über religiöse Fragen führen“ im Erzieherinnenlehrplan eine der Fachkompetenzen ist – das ermöglicht einen sehr direkten Anschluss.

Den Anfang der Unterrichtssequenz hab ich früher im Blog schon mal erzählt, unter „Erinnerung an eine gelungene Stunde“ oder so ähnlich. Nun würde ich gern mit Euch ein bisschen über Methoden plaudern und dann ein Ergebnis eines Gespräches „abdrucken“, das mich ziemlich geflasht hat.

Zur Erinnerung: Fragen meiner SchülerInnen (in Auswahl)

  • Wenn Gott die Menschen liebt – wie kann es die Hölle geben?
  • Wenn es die Hölle nicht gibt – wie kann es „Gerechtigkeit“ geben?
  • Liebt Gott jeden? – was wird dann aus den Opfern von Verbrechern, hat er dazu keine Meinung?
  • Warum greift er nicht ein – oder greift er ein, und alles ist vorherbestimmt?
  • Wie kann er aber dann jemanden bestrafen, denn der hatte doch gar keine Wahl?
  • Komme ich in die Hölle, weil ich nicht religiös sozialisiert bin, und wenn, was soll daran „gerecht sein“?! usw.

 Fragen aufgreifen

Das Engagement der Schülerinnen steht und fällt damit, dass die Fragestellung ihr Interesse weckt. Deshalb werde ich, wann immer es möglich ist, echte Fragen aufgreifen, die aus der Gruppe selbst kommen. Ein Gespräch, das ich initiiere, weil ich die Fragestellung interessant finde (oder weil sie im Lehrplan steht, womöglich) kann zwar Fahrt aufnehmen – wenn jemand aus der Gruppe sich mit einer Frage herumplagt und die Gruppe um Beratung bittet, ist das aber etwas ganz anderes… Das lässt sich natürlich kaum vorbereiten – muss aber ja gar nicht sein. Wenn ich die „handwerklichen“ Grundlagen der theologischen Moderation beherrsche, bin ich doch für alles gewappnet…

Auf „Moderation“ lege ich deshalb Wert, weil „Gesprächsführung“ schon als Begriff ungünstige Weichen stellt. Ich führe das Gespräch nicht – ich ermögliche es, indem ich Zeit und Raum dafür gebe, ich setze Impulse, um zu schärfen (anzufeuern, sozusagen), aber mehr nicht. Ich erteile nicht das Wort (das regeln die Schülerinnen schon lange untereinander), ich bewerte Aussagen nicht, überhaupt halte ich meine Gesprächsanteile gering. Ich höre so intensiv zu, wie ich nur kann. Ich versuche weniger, mich verständlich zu machen, als die anderen zu verstehen.

Wenn ich mich beteilige, haben sich folgende Impulse als besonders günstig erwiesen, um das Gespräch lebendig zu halten und zu vertiefen:

  • Vor dem Einstieg in die Diskussion ausdrücklich die Frage klären, um die es geht: Welches (gedankliche) Problem soll gelöst werden?
  • Zurückfragen, d. h. verstehen wollen, was gemeint ist: „Verstehe ich Sie richtig, dass…?“
  • Begriffe klären: „Das heißt, Sie verstehen unter… folgendes: …-?“
  • Hinterfragen: „Sehen das alle so?“ – „Stimmt das wirklich?“
  • Weiterfragen: „Wer hat sonst noch eine Idee dazu?“
  • Nach Alternativen fragen: „Wie könnte man das auch noch sehen?“ – „Könnte es auch anders sein?“
  • Nach Begründungen fragen: „Wie kommen Sie darauf?“ – „Was spricht dafür?“
  • Nach Beispielen fragen: „Können Sie dafür ein Beispiel nennen?“ oder ein Beispiel einbringen: „Was bedeutet das für den Fall, dass…?“
  • Nach Gegenbeispielen fragen
  • Nach Annahmen fragen, die hinter einer Aussage stehen: „Sie setzen also voraus, dass… – ?“
  • Nach Folgen fragen: „Wenn das so ist, was bedeutet es für…?“
  • Antwortversuche in Beziehung zueinander bringen – Widersprüche ansprechen, Ähnlichkeiten benennen, zum Vergleichen anregen: „Wie kann X und Y gleichzeitig zutreffen?“ – „Ist dies überzeugender für Sie als jenes? Wie kommt das?“
  • Zusammenfassen, auf den Punkt bringen, ggf. schriftlich festhalten.
  • Dabei zurückfragen: „Habe ich das richtig verstanden?“ – „Passt die Zusammenfassung, trifft das Ihren Punkt?“
  • Strukturieren, auch visuell.
  • Dafür sorgen, dass nichts unter den Tisch fällt, auch wenn nicht alles gleich aufgegriffen werden kann.
  • Für eine Auswertung am Ende sorgen.

Die ein oder andere methodische Idee hab ich auch noch im Handgepäck – besonders das „Gedankenbuch“ empfehle ich wärmstens. Schaut mal:

Methode Denkanstöße

Methode Frageketten

Methode Gedankenbuch

Mehr zufällig habe ich in der letzten Woche entdeckt, dass es förderlich sein kann, im Anschluss an das Gespräch ein gut strukturiertes Ergebnis festzuhalten, mit dem die Schülerinnen und Schüler anschließend weiter arbeiten können. Während des laufenden Gespräches schreibe ich Thesen und die allerwichtigsten Stichworte dazu auf Metaplankarten und lege eine Argumentationsskizze. Aus diesen Überschriften und meinen Erinnerungen erstelle ich einen Text, der möglichst viele Aspekte des Gespräches aufnimmt. Diesen Text gebe ich in der nächsten Stunde in die Klasse und lasse prüfen, ob sich jeder „wiederfindet“.

Hier unser Beispiel zur Frage:

„Ist alles wahr, was in der Bibel steht?“

Die Frage wurde als „fundamental“ empfunden, also anderen Fragen vorgelagert, weil wir eine Haltung dazu benötigen, ob wir ein Bibelzitat für ein „schlagendes“ Argument halten, wenn es um theologische Meinungverschiedenheiten geht.

Zu dieser Frage gibt es mehrere mögliche grundsätzliche Antworten:

1.    Die Bibel ist ein Sachbuch, das objektive Wahrheiten über Gott, die Menschen, die Entstehung der Welt, das Leben von Jesus, die Hölle, das Ende der Welt und viele andere Themen enthält. Die Menschen, die die Bibel geschrieben haben, wissen diese Wahrheiten, weil Gott persönlich ihnen den Text diktiert hat. Fachbegriff dafür: Verbalinspiration.

Daraus folgt: Wenn biblische Aussagen mit der modernen Wissenschaft nicht vereinbar sind, hat die Bibel recht und die Wissenschaft nicht.

Unser Beispiel: Die Welt entstand buchstäblich in 7 Tagen.

Variante: Nimmt man den Satz aus Psalm 90 hinzu „1000 Jahre sind vor Dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache“, kann man die 7 Tage aus 1. Mose 1 als „7000 Jahre“ interpretieren (was die Aussage etwas realistischer macht).

Daraus folgt für theologische Gespräche: Wenn jemand ein Zitat nennen kann, das eine Frage beantwortet, ist die Frage beantwortet und das Gespräch beendet. Widersprüchliche Aussagen innerhalb der Bibel müssen irgendwie ausgeglichen werden.

 

2.   Die Bibel ist ein Sachbuch, das veraltete Informationen enthält. Menschen haben aufgeschrieben, was sie zu ihrer Zeit für objektiv richtig hielten. Wir haben uns in wissenschaftlicher Hinsicht weiterentwickelt und wissen mehr.

Daraus folgt: Wenn sich Bibel und Wissenschaft widersprechen, hat die Wissenschaft recht und die Bibel nicht.

Unser Beispiel: Die Aussage über die Schöpfung in 7 Tagen hat sich durch die Theorie vom Urknall erledigt, der Schöpfungstext aus 1. Mose 1 ist falsch und kann vergessen werden.

Daraus folgt für theologische Gespräche: Wenn es eine wissenschaftliche Antwort auf eine Frage gibt, ist das Gespräch beendet.

 

3. Die Bibel ist eine bewusste Fälschung. Menschen haben eine Geschichte erfunden und andere Menschen dazu verführt, diese für wahr zu halten.

Daraus folgt: Die Bibel hat Unrecht, egal was die Wissenschaft sagt.

Unser Beispiel: Hinter der Schöpfungsgeschichte steckt eine Täuschungsabsicht.

Daraus folgt für theologische Gespräche: Schön blöd, wer die Bibel dabei heranzieht. Jeder von uns kann eine genauso „wahre“ Geschichte erfinden… Widersprüche in der Bibel sind Zeichen für eine schlecht konstruierte Lüge.

 

4.  Die Bibel enthält verschiedene Arten von Texten: Erzählungen, Sachtexte, Lieder, Gebete, Briefe, Visionen, Prophetenworte, Predigten… Aus der Form des Textes kann man darauf schließen, welche Texte als Sachtexte über objektive Wahrheiten geschrieben wurden und welche nicht. Außerdem kann man sich fragen, wer zu welcher Zeit mit welcher Absicht den Text geschrieben hat, auf welche aktuelle Situation er evtl. reagiert, wer die Zuhörer gewesen sein könnten usw. Man kann biblische Texte mit wissenschaftlichen Methoden (vor allem aus der Literaturwissenschaft und der historischen Wissenschaft, aber eher nicht aus den Naturwissenschaften) untersuchen. Fachbegriff dafür: Historisch-kritische Methode.

Daraus folgt: Wenn biblische Aussagen mit der modernen Wissenschaft nicht übereinstimmen, schaut man erst einmal, ob der Bibeltext überhaupt als wissenschaftliche Aussage gemeint war oder ob wir eine Frage an den Text herantragen, die dieser nie beantworten wollte. Falls der Text keine objektive Wahrheit über die gleiche Fragestellung verkünden wollte, stellt sich das Problem nicht, weil beide Aussagen „wahr“ sein können.

Unser Beispiel: Ist der (so genannte!) „Schöpfungsbericht“ in 1. Mose 1 wirklich ein Sachtext? Will er die Frage beantworten „Wie lange hat Gott gebraucht, um die Welt zu schaffen?“ Oder steckt eine andere Absicht dahinter, die in dafür passende Form gebracht wurde? In welcher Zeit, mit welcher Absicht entstand der Text, welche Frage beantwortet er, wenn es nicht die „erdgeschichtliche“ ist? Im Zweifelsfall eine theologische Frage, aber welche? Kommt Ihr drauf? Oder braucht ihr weitere Informationen?

Daraus folgt für theologische Gespräche: Wenn ich die Bibel als „Beweis“ für angebliche objektive Wahrheiten heranziehen will, brauche ich sehr viele Hintergrundinformationen… Die Texte erschließen sich mir nicht durch das bloße Lesen, ich brauche Begleitmaterial, um sie zu interpretieren. Wenn ich weiß, was drinnen steht, weiß ich, was jemand zu einer anderen Zeit für aufschreibenswert hielt – das sagt noch nichts über die „Wahrheit“ (es kann aber sehr sinnvoll sein).

Wenn es zu einer Fragestellung einen biblischen Bezug gibt, geht das Gespräch weiter, denn ich kann mir eine Meinung zu der Meinung bilden, nach Vergleichspunkten zwischen damals und heute fragen, verschiedene Ansichten durchdenken… und werde vermutlich nicht zu einer „objektiv wahren“ Lösung für die Frage kommen, aber erheblich schlauer sein als vorher.

Das allein ist aber zu wenig, denn was Menschen vor 2000 Jahren mal gedacht haben, könnte mir ja ganz egal sein. Ein rein (theologisch-)wissenschaftlicher Umgang mit der Bibel wird ihr auch nicht gerecht. Aspekte aus Lösung 5 sollten dazukommen (siehe unten).

5.   Die Bibel enthält eine andere Art der „Wahrheit“: Was darüber über Gott und die Menschen gesagt wird, kann sich auch in meinem Leben als „wahr“ erweisen. Ob es für mich wahr, hilfreich, tragend… ist, erweist sich in konkreten Lebenssituationen. „Objektiv“ ist diese Art der Wahrheit deshalb nicht, weil man jede Situation auch anders deuten könnte. Genauso wenig ist diese Art der Wahrheit aber objektiv widerlegbar. Letztlich ist es eine Sache der eigenen Entscheidung, ob ich für die Deutung meines Lebens annehme, dass es Gott gibt und er mit mir eine Geschichte hat, so wie er mit den biblischen Menschen (und den Schriftstellern, die über sie schrieben) eine Geschichte hat – oder ob ich annehme, dass das nicht so ist. Beides kann man nicht beweisen.

Daraus folgt: Wenn ich biblische Texte lese, frage ich: Was ist darin für mich „wahr“ – was spricht mich an, was ist relevant für mein Leben? Die meisten Texte der  Bibel wurden geschrieben, um solche Denkprozesse auszulösen, nicht um objektiv zu informieren.

Unser Beispiel: Welche Relevanz hat es für Dein Leben denn, ob es 7 Tage, 7000 Jahre oder länger gedauert hat, bis die Welt fertig geschaffen war? Ist es nicht viel wichtiger, ob…

  • … Du selber ein Produkt eines blinden Zufalls bist oder ob es jemanden gibt, der will, dass es dich gibt und dass Du individuell bist?
  • … alle Menschen mit gleicher Würde geschaffen sind – und nicht die Herrschenden als „Abbild Gottes“ persönlich gelten, während die Mehrheit der Menschen zum pausenlosen Dienen gemacht sind (so wie es die Menschen damals dachten, als der Text entstand)?
  • …  Menschen „als Mann und Frau“ geschaffen wurden, also ebenfalls gleich an Würde, wenn auch als zwei Varianten des Wesens „Mensch“?
  • … Mond, Sonne, Sterne usw. keine Götter sind, die man bei Laune halten muss (wie man damals glaubte), sondern nur so etwas wie „Lampen am Himmel“, also Gegenstände im weitesten Sinne? Wir kämen schon gar nicht mehr drauf… was auch dem Einfluss dieses Textes zu verdanken ist.

Für theologische Gespräche folgt: Wir tauschen uns über die Bedeutung von biblischen Impulsen für uns persönlich aus. Wir fragen nach dem, was uns anspricht und für unser Leben etwas bedeuten könnte. Manche Geschichten sprechen die eine an und die andere nicht, manche Texte sagen mir jetzt nicht so viel, aber das kommt vielleicht noch, und andere bleiben mir ganz fremd. Das ist ganz normal so. Jedenfalls geht es darum, dass ich in einen gedanklichen Austausch mit dem jeweiligen Text komme. Dafür muss ich nicht unbedingt alle Hintergrundinformationen haben – es hilft aber, wenn ich Deutungen ausschließen kann, die nur aufgrund von Denkgewohnheiten zustande kommen und mit der ursprünglichen Absicht nicht vereinbar sind.

Auf dieser Basis ist übrigens eine Verständigung zwischen denen möglich, die jeden Satz wörtlich nehmen und denen, die eher nach der ursprünglichen Aussageabsicht fragen: Beide können darüber nachdenken, was  ein Textausschnitt für sie persönlich bedeuten kann. Es ist aber nicht das Ziel eines Gespräches, dass wir am Ende eine Aussage treffen, die „objektiv“ für jeden wahr ist – schon weil jeder von uns in einer anderen Lebenssituation ist, andere Prägungen mitbringt usw., ist dies sehr unwahrscheinlich und eher die Ausnahme.  Dennoch ist der Austausch sinnvoll, weil er deine und meine Perspektiven erweitert.

(FSS 12 A, 15. 11. 13)

 

Diese Impulse kamen sämtlich aus der Gruppe, jeder hat mindestens eine/n Vertreter/in, ich habe von mir aus nur bei 5. ein paar Formulierungen beigesteuert und für die Struktur gesorgt. Die Thesen wurden intensiv hin und her bewegt, von allen Seiten beleuchtet und abgewogen. Die zahlreichen biografischen Bezüge und lebenspraktischen Beispiele habe ich weggelassen – der Gruppe sind sie aber deutlich im Ohr. Und in folgenden Gesprächen beziehen sich die Schülerinnen nun oft von sich aus (oder auf einen Tipp hin) auf die 5 grundsätzlichen Möglichkeiten zurück und ziehen ihre Schlüsse daraus.

Ich bin von der Ernsthaftigkeit und dem Tiefgang der Auseinandersetzung sehr beeindruckt (Kompliment an die Klasse, falls jemand mitliest!). Und stark im Zweifel, ob dies möglich gewesen wäre, wenn ich Ähnliches als „Fremdtext“ eingereicht hätte. Eine Schülerin hat es auf den Punkt gebracht: „Wir könnten unsere Schulbücher selber schreiben!“ Wohl wahr…

Ich würde gern weiter nach Impulsen suchen, die dabei helfen, in so einen gedanklichen Flow hineinzufinden. Wenn die eigenen echten Fragen erst mal auf dem Tisch liegen, läuft es fast von selber weiter… aber dass sie wahrgenommen und ausgesprochen werden, ist sicher nicht selbstverständlich.

Für die Gruppe wird es demnächst weiterführend darum gehen, einen Schritt zurückzutreten – zu reflektieren, warum uns die Gespräche so spannend erscheinen (tun sie wirklich) und wie man sie lebendig halten kann – und dann selber zu lernen, wie Moderation geht, denn das ist ja die Fachkompetenz… sehr spannend!

Die Lernsituation dazu (Beispiel aus der letzten Abschlussprüfung):

„Du sitzt mit einigen Jugendlichen im Aufenthaltsraum des Heims, in dem Du Dein Berufspraktikum absolvierst, in der gemütlichen Sofaecke. Ihr plaudert über dies und das. Im Lauf des Gespräches kommt Ihr ungeplant auch auf religiöse Themen, und zwar auf Fragen, die Jugendliche sich in der Pubertät häufig stellen.“

(Kompetenz: Religiöse Fragen und Äußerungen von Kindern/Jugendlichen verstehen, anregen und begleiten)

Wochenaufgabe: Den Blick schärfen – Rückgriff auf vorhandene Erfahrungen

Diese Wochenaufgabe werde ich vermutlich nicht in einem Rutsch lösen… aber es wird Zeit, einfach mal anzufangen.

Erster Kommentar zum Online-Modul: Herzlichen Dank! Schon die Aufmachung bietet mir Anreize, hier „dranzubleiben“ – toll, wie die Visualisierung und technische Aufbereitung einen Beitrag aufwertet. Beneidenswert, das zu können…

Zu den Aufgaben

1. Meine letzte „Sternstunde“

Eine Stunde in einer ErzieherInnenklasse zur religiösen Entwicklung im Kindesalter, kurz vor den Herbstferien (letzte Stunde vor dem Praktikum). Mein „Arbeitsplan“  sah eigentlich vor, gemeinsam zwei sehr unterschiedliche Kinderzeichnungen mit „Gottesbildern“ zu betrachten und dann theoriegeleitet die Kompetenzen

Religiöse Entwicklung begleiten – „Kinder, Jugendliche und zu betreuende Erwachsene als entscheidungs- und handlungsfähige Subjekte wahrnehmen und in ihrer Entwicklung fördern“ und „Kinder und Jugendliche dabei unterstützen, Ich-Stärke und Vertrauen zu entwickeln.“   (FSS – Lehrplan Rheinland-Pfalz, Modul 9 a)

weiterzuentwickeln.

Allerdings hatten einige Schülerinnen am Vorabend eine Dokumentation über eine religiöse Gemeinschaft (die „12 Stämme“)  im Fernsehen gesehen, die die Gemüter sehr erregt hat, weil dort Kinder unter religiösen Vorwänden so misshandelt wurden, dass sie vom Jugendamt „gerettet“ werden mussten. Dies erwies sich als ausgesprochen lohnender Anschluss an die angestrebten Kompetenzen, denn im Gespräch kristallisierte sich mehrere komplexe mögliche Praxissituationen heraus:

„Es kann jedem von uns auch passieren, dass wir beruflich mit Kindern zu tun bekommen, die eine lebensfeindliche, angstmachende religiöse Sozialisation erfahren haben – wie begleiten wir solche Kinder angemessen?“

… abgelöst von „Ich möchte eigentlich selber erst mal vermeiden lernen, Kindern von mir aus versehentlich Angst zu machen, ein negatives Gottesbild zu verbreiten, durch Unkenntnis oder Ungeschick religionspädagogischen Schaden anzurichten – wie rede ich angemessen von Gott, wenn ein Kind mich fragt?“

Wir haben dann gemeinsam versucht herauszufinden, welche Fragen da denn gestellt werden könnten, an welchen Stellen es also schwierig wird – und im Lauf des Zusammentragens  haben die Schülerinnen ihre eigenen Fragen auf den Tisch gebracht. Zum Teil solche, die sie „immer schon“ mit sich herumgetragen haben, zum Teil solche, die sich aus dem Gespräch ergaben – und zwar (für mich absolut spannend zu beobachten) vor allem an Stellen, wo zwei Annahmen „richtig“ zu sein schienen, die aber nicht zusammenpassten: Wenn Gott die Menschen liebt – wie kann es die Hölle geben? Wenn es die Hölle nicht gibt – wie kann es „Gerechtigkeit“ geben? Liebt Gott jeden? – was wird dann aus den Opfern, z. B. den Kindern aus der Dokumentation, hat er dazu keine Meinung? Warum greift er nicht ein – oder greift er ein, und alles ist vorherbetimmt? Wie kann er aber dann jemanden bestrafen, denn der hatte doch gar keine Wahl? Komme ich in die Hölle, weil ich nciht religiös sozialisiert bin, und wenn, was soll daran „gerecht sein“?! usw.

Theorien wurden mit höchstem Engagement aufgestellt, diskutiert, verworfen, neu kombiniert – unglaublich lebendig.   Die Vielfalt in der Klasse (diverse Religionen und Untergruppen + etliche dezidiert religiös distanzierte Schülerinnen) wurde wunderbar fruchtbar gemacht. Dafür liebe ich die Gruppe sowieso – wie sie damit zurechtkommen, neugierig aufeinander sind und einander schätzen ist eine ganz große Stärke … Kurzum: Jede (mit 3 Ausnahmen)  hat ihre Konstruktionen zur Debatte gestellt – die 3 hatten gute Gründe, das war völlig okay für uns alle. Und dann haben meine an „Selbststeuerung“ gewöhnten Schülerinnen von sich aus gemeinsam überlegt, wie wir denn mit diesem Wust an Fragestellungen weiterarbeiten können, zumal sich die Stunde dem Ende neigte. Zunächst haben sie dafür gesorgt, dass alle Fragen pointiert schriftlich festgehalten wurden und auch wirklich jede ihr Anliegen in der Sammlung wiederfinden konnte. Dann haben sich mich beauftragt, den Fragenkatalog auf jeden Fall noch am nächsten Tag schriftlich in die Klasse zu geben, damit nichts verloren geht.  Und anschließend hat sich jede selber einen Auftrag erteilt (Wen könnte ich fragen, wo könnte ich nachlesen, wie kann ich meine Gedanken in Worte fassen, wie kann ich während des Praktikums Beobachtungen sammeln…?).

Ich hab eigentlich nur moderiert, dann und wann zusammengefasst und zugespitzt, positiv verstärkt, später mitgeschrieben und mich ansonsten sehr zurückgehalten.

Leider ist die Stimmung schwer zu beschreiben. Meine hospitierende Praktikantin fasste sie zusammen mit dem Stichwort „Zauberei!“.  Die Schülerinnen haben den Gong bedauert und hätten gern so weitermachen können. Den vorbereiteten Aufsatz mit den differenzierenden Aufgabenstellungen hab ich übrigens in der Tasche behalten, dafür wird später noch Gelegenheit sein… und die Kurve zu den beruflichen Anforderungen kriegen wir auch locker wieder.

Auf den ersten Blick scheint die Stunde vielleicht eher wenig zur Förderung der angestrebten Kompetenzen beigetragen zu haben. Aber nach meinem Verständnis beginnt die Kompetenzorientierung mit der realitätsnahen, problemhaltigen, aktivierenden Lernsituation – wenn diese von den Schülerinnen selbst formuliert wird, um so besser. Und der nächste Schritt ist die „Anschlussbildung“, also die Klärung der eigenen Haltung zum Problem – und mehr „Anschluss“ als in dieser Stunde kann ich mir kaum vorstellen. Zum „Informieren“ kommen wir schon noch, denn die Frage („Wie unterstütze ich Kinder?“) geht uns auf keinen Fall verloren – wir sind gerade bei „Wie vermeide ich, ihnen „falsch“ zu antworten, wenn sich mich etwas Religiöses fragen?“. Das passt, finde ich.

Hilbert Meyers Grundstrukturen:

Demokratischer geht es eigentlich kaum, denke ich, das Gesprächsklima war völlig angemessen, meine Rolle auf Augenhöhe (oder darunter).

Die Schülerinnen haben eigene Fragen und ihr eigenes Interesse an Professionalisierung eingebracht und schon damit Verantwortung für ihren Lernprozess übernommen.  Durch die individuelle Planung der nächsten Schritte wird dies ebenfalls verwirklicht.

Zusammenarbeit? In der Bereitschaft, jede Frage eines Mitschülerin intensiv mit zu bedenken – in der Bereitschaft, jede Antwort ernst zu nehmen und zu prüfen – in der Bereitschaft, eigene Positionen ins Spiel zu bringen – in zahlreichen kleinen Gesten und Ermutigungen untereinander. In meiner Haltung. Eindeutig: Ja.

Sinnstiftende Orientierung? Aber ja! In der Stunde davor hatten die Schülerinnen einander ausführlich von der je eigenen religiösen Biografie erzählt – das war der Nährboden für zahlreiche Überlegungen: „Wie war das eigentlich bei mir? wie komme ich zu meiner heutigen Überzeugung, wer/was hat mich geprägt, und was bewegt sich gerade noch einmal ganz neu?“ … und die inhaltlichen Aspekte: wie viel in meinem Leben ist vorherbestimmt? Welche Konsequenzen haben meine Entscheidungen? Wie vel Angst habe ich eigentlich, und was macht mich zuversichtlich? Wie sehe ich meine Rolle in der Weitergabe religiöser Tradition, wie sinnstiftend ist das etc. pp.

Struktur hat das Ganze eher langfristig, im großen Bogen der „vollständigen Handlung“ und in der Struktur der Ausbildung an sich, die wir mithilfe eines Referenzrahmens, eines Advance Organizers und der Portfolios bei Bedarf jederzeit vor Augen haben (können). In der Stunde selbst ging es zeitweise hoch her – aber das halten wir gut aus, und wir waren immer beim Problem. Die Kunst wird sein, in den nächsten Stunden eine Struktur in die Fülle der Fragen zu bringen – das ist primär meine Aufgabe, denke ich, zumindest will das gut moderiert und methodisch unterstützt sein.

Der Unterricht tut uns gut – ja, unbedingt! Das Feedback ist eindeutig, und mein Gefühl dabei ebenfalls.

… und jetzt soll ich noch die 10 Merkmale kommentieren, um Aufgabe 1 abschließen zu können? Liebe Leute… Könnt Ihr das irgenwie kürzer als ich, und trotzdem für Menschen verständlich, die nicht dabei waren? Respekt!

Den Drübecker Ansatz würde ich auch noch gern kommentieren, da sehe ich spannende Knackpunkte – aber das alles heute nicht mehr! Schluss für heute.