Richenhagen Jerusalem

Elisabeth Richenhagen: Schon stehen wir in Deinen Toren, Jerusalem.
Pilgerwesen und Jerusalembild am Vorabend des Ersten Kreuzzuges.

(Orbis Mediaevalis: Vorstellungswelten des Mittelalters 18)

Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2023.
ISBN 978-3847110811

 

Pilger machen sich auf nach Jerusalem:
Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Ein wichtiges Forschungsprojekt für das Verständnis der Kreuzzüge stellen die Pilgerfahrten dar; nicht einfach als Vorstufe, sondern gerade in der Verschiedenheit zu den späteren Kreuzzügen stellt das Phänomen der Pilgerfahrten in großen organisierten Gruppen ein Thema dar, das zwar schon in einzelnen Ereignissen erforscht wurde, aber noch nicht systematisch für das ganze 11. Jahrhundert, bevor am Ende des Jahrhunderts 1095 Papst Urban II. den Aufruf zum Ersten Kreuzzug predigte. Elisabeth Richenhagen hat das Thema für ihre Dissertation erforscht.[1] Dafür erweitert sie die Quellenbasis enorm und umfassend. Zwar sind „aus dem 11. Jahrhundert keine klassischen Pilger- und Reiseberichte […] überliefert“ (30). ‚Klassisch‘ meint die Erzählung einer individuellen Pilgerschaft, etwa die der Egeria.[2] Dafür aber gibt es andere Quellen-Gattungen (Graphik VII 4, S. 389: prozentual aus den 260 Quellen): Historiographische, hagiographische Quellen, Urkunden, Briefe, Sonstige). Eine Leitfrage bildet: „Warum rückt angesichts der biblischen und liturgischen Allgegenwart des Himmlischen Jerusalems im 11. Jahrhundert die irdische Stadt wieder in den Fokus?“ (29).[3]

Die I. Einleitung (11-47) erläutert Forschungsstand, das Quellenkorpus,[4] Methoden und theoretische Herangehensweise, und die mittelalterlichen Vorstellungen von Jerusalem.

Der Teil II. Die Suche nach Jerusalem am Vorabend des Ersten Kreuzzugs (49-94) kontrastiert in tiefgehender Interpretation Briefe und Texte zur Gegenüberstellung des irdischen zum himmlischen Jerusalem. Dahinter steht eine soziale Differenz und deren Rechtfertigung: Im Prinzip dürfen Mönche gar nicht auf Pilgerreise, haben sie doch die stabilitas loci geschworen, dass sie ihr Kloster nicht mehr verlassen werden. So ergeben sich Argumente, warum ihr Leben im Kloster mehr wert sei, als sich auf die Reise nach Jerusalem einzulassen. Sie seien mit ihrer Askese auf der ‚Reise‘, die sie endgültig in das himmlische Jerusalem führt.[5] ER kann eine ganze Reihe von Beispielen von Mönchen auf Pilgerfahrt anführen, aber doch meist als gerade noch gut gegangenes eigenmächtiges Verhalten, das im Nachhinein verziehen wird, etwa Lambert von Hersfeld (83): die Autoren der Texte sind meist selbst Mönche. Deutlich wird aber schon eine neue Rolle: Äbte und Bischöfe als Organisatoren und Führer großer Pilgerfahrten (87-89: der byzantinische Mönch Symeon ‚von Trier‘). Für Laien dagegen wird die Pilgerfahrt in (oft von Äbten und Bischöfen) organisierten größeren Gruppen ein empfohlenes Ziel, das Heil zu erlangen.

III. Exil/Liminalität/Läuterung auf dem Weg nach Jerusalem (95-172): Warum doch das lebensbedrohliche Abenteuer der Reise nach Jerusalem? Peregrinus (und verwandte Begriffe) ist nicht einfach als ‚Pilgerschaft hin zu einem heiligen Ort‘ zu verstehen, obwohl das Wort dann zur meist gebrauchten Bezeichnung wurde.

Augustinus wird oft ungenau herangezogen: Er verwendet den Gegensatz civis/civitas – peregrinus mit der präzisen römischen Terminologie: Bürger, Bürgerschaft – Nichtbürger. D.h. das Wort enthält weniger eine Bewegungsdynamik, sondern einen Statusunterschied. Christen sind schon Bürger bei Gott („Gottesstaat“ für civitas Dei trifft nicht), dafür peregrini Nichtbürger gegenüber der civitas terrena der Bürgerschaft auf Erden.[6]

Die Pilgerfahrt als Exil wird teils als weltliche Strafe ausgesprochen, häufiger aber als satis­factio gegenüber Gott verstanden und freiwillig auf sich genommen. Die große ‚deutsche‘ Pilgerfahrt von 1064/65 interpretiert ER vorzüglich auf die Topoi hin, die sie biblischen Exempeln gleichstellt (145-151; 159). Dabei wird deutlich: Die Heilsgeschichte ist nicht mit den biblischen Ereignissen und Gottes wunderbarem Eingreifen damals abgeschlossen, sondern sie wird fortgeführt bis in die Gegenwart.[7] Auch sonst gelingt es der Autorin, die Traditionslinien der Pilgerfahrt zu skizzieren, dabei aber herauszuarbeiten, was im 11. Jahrhundert anders und neu ist.

  1. Erinnerung und Vergegenwärtigung in Jerusalem (173-252). An den verschiedenen Deutungen des Wortes „wo seine Füße standen“ (ubi steterunt pedes eius Psalm 132,7) entwickelt ER eine reizvolle Entfaltung von der Verkörperung und Materialisierung der Kontaktreliquie Jerusalem. Die heiligen Orte (loca sancta) berührt, emotional beweint, geküsst, einen Krümel davon mit nach Hause gebracht zu haben ist der Höhepunkt (und gleichzeitig der Wendepunkt für die Rückreise) der Pilgerfahrt. Die Grabeskirche steht in der Bedeutung vor allen anderen Orten: im gleichen Gebäude der Felsen von Golgata, die Höhle, wo das Kreuz gefunden wurde (wo an der Treppe unzählige Pilger ein Kreuz in die Wände geritzt haben) und das winzige Gebäude mit dem Grab, in das immer nur drei bis maximal fünf Menschen hineingelassen werden. Die Griechen nennen sie ‚Auferstehung‘, die Lateiner „Grab“. Das Grab des Lebenden, dieses Oxymoron („was sich beißt“) gibt die Gewissheit, dass der Erlöser als erster auferstanden ist und damit den Tod auch für alle Christen überwunden hat. Auffälligerweise wissen nur wenige im Westen, dass die Grabeskirche erst wenige Jahre zuvor, im Jahre 1009, zerstört worden war,[8] aber gerne behauptet man, dass die Juden und die Muslime die Christen behindern wollen in ihrem verkörperten Glauben, der in Reliquien materiell mächtig (ER verwendet und erklärt die Mächtigkeit virtus am Ort) und transportabel ist.[9]
  2. Eschatologie und Apokalypse in Jerusalem (253-305). Sehr wichtig ist schließlich die Diskussion, ob die Pilgerfahrten (und die Kreuzzüge) apokalyptisch motiviert waren. Die Vermutung, dass die Vollendung des Millenniums, also der tausend Jahre nach Christi Geburt bzw. seiner Kreuzigung und Auferstehung in Verbindung mit Apk. 20, die Christen in eine Ekstase versetzt habe, die sie an den Ort des jüngsten Gerichtes eilen ließ, erweist sich als falsch. Nicht das Weltende, sondern das individuelle Ende lässt Menschen die Pilgerfahrt nach Jerusalem als die heilsmächtigste Form auf sich nehmen, wohl wissend, dass sie auf dem Weg sterben könnten. Das zeigen u.a. Testamente, die die Pilger vor ihrem Aufbruch aufsetzen ließen.[10]

Die Lektüre setzt die Kenntnis des Lateinischen voraus. ER beherrscht die Sprache der Quellen wie auch der Begriffssprache. Fehler in den vielen Zitaten habe ich keine gesehen. ER übersetzt viele der Zitate erstmals auf Deutsch, es bleiben aber auch viele Quellen und Begriffe ohne Übersetzung. Ein Register zur Erschließung dieses gehaltvollen Buches fehlt leider.

Elisabeth Richenhagen ist ein wichtiges Buch gelungen, das die Kreuzzugsforschung bedeutend voranbringt; es stellt auch ein hervorragendes Beispiel dar für die in der Mediävistik gerade diskutierten kulturwissenschaftlichen Themen.  Ihre Fähigkeit zur Erschließung von Quellen, die von Historikern bisher gemieden wurden (wie der als notorisch in den Fakten und Datierungen ungenau geziehenen Rodulfus Glaber S. 362-373) oder hagiographische Legenden (beispielsweise die doppelte Legende von Erzbischof Ursus von Bari S. 165f, die in  Bari anders erzählt wird als im gegnerischen Montecassino). Wichtig die Zielsetzung von ER: „um zeitgenössische Vorstellungen nachvollziehen zu können und anachronistischen Fehlschlüssen vorzubeugen“ (95). Was Carl Erdmann vor bald 90 Jahren als Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens so eindrücklich auf verschiedenen Ebenen untersucht hat,[11] das hat ER für das Pilgerwesen als eine Wurzel hier weitergeführt, auf breitere Basis gestellt und eindrücklich präzisiert.

Was den Ausblick auf die Kreuzzüge, besonders den Ersten Kreuzzug angeht – das ist nicht der Gegenstand des Buches –, so ist die Formel von der „Bewaffneten Pilgerfahrt“ (zusam­menfassend ER 313) und die These vom Kreuzzug des Papstes falsch: Weder trugen die Pilger des 11. Jahrhunderts keine Waffen bei sich noch sind die Krieger der Kreuzzüge in erster Linie Pilger.[12] Vielmehr sind die Teilnehmer am Ersten Kreuzzug (und die des von Peter dem Eremiten angeführten Zuges) ganz unterschiedlich in ihrer sozialen Stellung wie in ihrer Motivation. Pilger ziehen zusammen mit Kriegern in einem joint venture. An der Situation um Antiochia, ein dreiviertel Jahr erst Belagerer, dann Belagerte, kommt es zur Krise: Die Pilger und ihre Geistlichen wollen weiter nach Jerusalem und von dort wieder nach Hause, die Krieger (mit ihren Geistlichen)[13] wollen Land erwerben und bleiben. Der päpstliche Leiter Ademar hatte schon vorher kaum Einfluss auf das Verhalten der Krieger, schon gar keine Herrschaft, aber nun war er gestorben. Gehen die Krieger weiter mit den Pilgern nach Jerusalem oder haben sie ihr Ziel erreicht? Da wird ein einfacher Mann zum Anführer, autorisiert durch Visionen des verstorbenen Ademar und durch die wahre oder falsche Reliquie der Heiligen Lanze.[14] – Wie gesagt, das ist nur ein Ausblick, nicht das Untersuchungsprojekt dieser Dissertation. Sie führt die Forschung wirklich weiter und ist eine sehr gute Monographie für die neuen Fragestellungen der Mediävistik.

 

Bremen/Wellerscheid, April 2024                                                             Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de 

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[1] Dr. Elisabeth M. Richenhagen studierte Geschichte, Philosophie und Politische Wissenschaft in Bonn und Paris, Frankreich. Während ihrer Promotion war sie am DHI Paris und als Visiting Scholar am Oxford Centre for Global History, Großbritannien, tätig und wurde 2017/18 an der Universität Bonn bei Prof. Matthias Becher promoviert. Vgl. (23) Elisabeth Richenhagen | LinkedIn (19.03.2024). Den Namen kürze ich ab mit den Initialen ER.

[2] Das Reisebuch Itinerarium (Ende des 4. Jahrhunderts) der wohlhabenden Dame (auch Aetheria) aus dem spätantiken Spanien wird immer wieder beachtet und liegt in zweisprachigen Ausgaben vor: von Georg Röwekamp (Fontes Christiani) Freiburg: Herder, 1995, ³2018 und von Kai Brodersen (Sammlung Tusculum) Berlin: de Gruyter 2017.

[3] Das war auch meine Leitfrage in meiner Dissertation an der theologischen Fakultät Groningen Mittelalterliche Eschatologie 1996, erweitert gedruckt als Irdische Wege und Himmlischer Lohn. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2002, von der ER wichtige Anregungen aufgenommen hat (15-17; 270 Anm. 1103 und öfter).

[4] Das am Lehrstuhl in Bonn erarbeitete Repertorium Saracenorum, hrsg. von Matthias Becher und Katharina Gahbler (ER 41 Anm. 116) präsentiert u.a. die Pilgerfahrt von 1045/46 mit lateinischem Text und deutscher Übersetzung der Annales Altahenses 0007 – Repertorium Saracenorum (uni-koeln.de) (8.4.2024).

[5] ER führt erst spät das grundlegende Argument der stabilitas loci ein (76-78; zu stark 80f: Das früh­mittelalterliche [irische und angelsächsische] Mönchtum als peregrinatio kann hier nicht angeführt werden). Der Papst schloss im Kreuzzugsaufruf von 1095 Mönche von der Teilnahme aus. – ER geht – sinnvollerweise – über den Zeitraum, den sie sich eigentlich gesteckt hat, das 11. Jahrhundert, hinaus.

[6] „Augustinus sieht entsprechend im gesamten Leben eine Pilgerfahrt in die himmlische Heimat“ (103 mit Anm. 350; die als Beleg angeführte Stelle serm 346B 1 Vitam nostram […] peregrinationem quandam esse a patria sagt gerade nicht „ad patriam“ Pilgerfahrt zur Heimat, sondern spricht vom Fremd-Sein fern der Heimat. Mit dieser Fehldeutung steht ER in Übereinstimmung mit vielen Forscher:innen. Dagegen der Befund Notker Baumann: peregrinatio/peregrinus. Augustinus-Lexikon 4(2012-2018), 668-674.

[7] Hans-Henning Kortüm hat die Bedeutung dieser Pilgerfahrt herausgestellt: Der Pilgerzug von 1064/65 ins Heilige Land. Eine Studie über Orientalismuskonstruktionen im 11. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 277 (2003), 561-592.

[8] Die muslimische Seite fehlt. Dazu etwa Josef van Ess: Chiliastische Erwartungen und die Versuchung der Göttlichkeit: der Kalif al-Ḥākim (386 – 411 H.). Heidelberg: Winter, 1977

[9] Vgl. CA: Jerusalem in den Niederlanden: Die Heilsgeschichte und -gegenwart im Haus nebenan. Nadine Mai: Die Brügger Jerusalemkapelle und die monumentale Nachbildung der Heiligen Stätten um 1500 2022. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/03/02/jerusalem-transformationen/ (2. März 2023).

[10] Grundlegend dazu eine Untersuchung von Nikolas Jaspert zu Testamenten aus Katalonien (2015).

[11] S. Auffarth: Das kurze Leben des Mittelalterhistorikers Carl Erdmann, der sich dem Nationalsozialismus nicht anpasste. Folker Reichert: Fackel in der Finsternis. Der Historiker Carl Erdmann und das „Dritte Reich“ 2022. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/03/23/carl-erdmann/ (23.3.2022).

[12] ER führt 148 Anm. 548 die Thesen der Forscher auf, die teils hier schon ‚die bewaffnete Pilgerfahrt‘ sehen wollen. Meine Differenzierung der unterschiedlichen Motive der Teilnehmer der Kreuzzüge, s. Christoph Auffarth: Nonnen auf den Kreuzzügen: ein drittes Geschlecht? In: Das Mittelalter. Zeitschrift des deutschen Mediävistenverbandes Band 21, Themenheft 1: Kreuzzüge und Gender, hrsg. von Ingrid Baumgärtner und Melanie Panse. Berlin: de Gruyter 2016, 159-176.

[13] Diese Unterscheidung fehlt bei Thomas Haas: Geistliche als Kreuzfahrer. Heidelberg 2012. Dazu meine Rezension Zeitschrift für Religionswissenschaft 22(2014), 414f.

[14] Unter den Dissertationen zum Thema Kreuzzug, die ich rezensiert habe, gehört diese zu den besten deutschsprachigen Arbeiten, vergleichbar mit (1) Kulturkontakt – Kulturkonstrukte: In den Chroniken gedeutete Erfahrung auf den Kreuzzügen. [Rezension zu] Kristin Skottki: Christen, Muslime und der Erste Kreuzzug. Die Macht der Beschreibung in der mittelalterlichen und modernen Historiographie 2015, in: http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2016/09/17/christen-muslime-und-der-erste-kreuzzug/ (17. September 2016). – (2) Ohne Vorurteile ins Land der Muslime – in der Kreuzfahrerzeit: Christiane M. Thomsen: Burchards Bericht über den Orient. Reiseerfahrungen eines staufischen Gesandten im Reich Saladins 1175/1176. 2018. In:https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2018/08/03/burchard-ueber-den-orient/ (3.8.2018).

Carl Erdmann

Folker Reichert: Fackel in der Finsternis.
Der Historiker Carl Erdmann und das »Dritte Reich«.

 

2 Bände, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft wbg academic 2022.

ISBN 978-3-534-27403-1

[I] Die Biographie. 423 Seiten.

[II] Briefe 1933-1945. 504 Seiten.

 

Das kurze Leben des Mittelalterhistorikers Carl Erdmann,
der sich dem Nationalsozialismus nicht anpasste.

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Eine herausragende Biographie und Edition seiner Briefe, die den Wissenschaftler in der NS-Zeit als einen zeigt, der nicht vorauseilend der Verkehrung des Geschichtsbildes diente, sondern widersprach und seinen Prinzipien treu blieb.

Ausführlich:
Carl Erdmann war ein herausragender Wissenschaftler auf dem Gebiet der mittelalterlichen Geschichtswissenschaft, dem aber eine Professur, ja jede Forschungs-Beamtenstelle verwehrt wurde, weil er sich nicht ‚anpasste‘ und deshalb von den nationalsozialistischen Universi­täts-„Führern“ bekämpft wurde. Trotz seines frühen Todes ist sein Name bis in die Gegen­wart berühmt, sein Buch Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens 1935 bis heute ein grund­legendes und befruchtendes Werk.[1] Gerd Tellenbach hat ihn in seiner Autobiographie als leuchtendes Beispiel politischer Gradlinigkeit hervorgehoben.[2] Folker Reichert wählt den Titel Fackel in der Finsternis, denn nur wenige Wissenschaftler haben so viel Nachteile in Kauf genommen, um sich nicht anzupassen oder gar mit dem Parteibuch Karriere zu machen. FR hat nun eine herausragende Biographie erforscht, die es nicht bei den relativ wenigen direkten Zeugnissen einer ‚Biographie‘ belässt, sondern eine Wissenschaftsgeschichte der Mediävistik besonders der NS-Zeit mit Fokus auf diesen außerordentlichen Gelehrten erarbeitet.[3] Arbeit steckt in dieser Geschichte enorm viel: Dafür hat FR nicht nur die Stätten seiner Jugend und seinen Grabstein aufgesucht, sondern alle in unterschiedlichen Archiven erreichbaren Nach­lässe der damaligen Historiker nach Zeugnissen durchforstet, die Akten der Universitäts­archive durchgelesen und eine stattliche Anzahl (218 Nummern) von Briefen von CE (Briefe an diesen fehlen, denn es gibt es so gut wie keinen Nachlass), von denen die meisten (also in Auswahl) ab dem Jahre 1933 im zweiten Band ediert und sehr gut kommentiert sind. Zum Kriegsdienst im Zweiten Weltkrieg eingezogen als Dolmetscher mit den (nach Mussolinis Sturz von den Deutschen gefangen genommenen)[4] Italienern erreichte er im überstürzten Rückzug der deutschen Truppen aus dem Balkan noch Zagreb/Agram, infizierte sich aber und starb dort am 7. März 1945, 46-jährig.

Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens 1935. Ursprünglich sollte das Buch Militia S. Petri [Kriegsdienst für St. Petrus] heißen. FR führt den deutschen Titel darauf zurück, dass man in der NS-Zeit besser keine lateinischen Buchtitel verwenden wollte. Das trifft aber nicht zu. In der Reihe, herausgegeben von Erich Seeberg, gemeinsam mit Erich Caspar und Wilhelm Weber, enthält der folgende Band 7 den Obertitel Libertas, eben das Buch von CEs Freund Tellenbach mit einer historischen Stellungnahme zu den Eingriffen des Staates in die Freiheit der Kirchen.[5] Der ursprüngliche Titel traf nicht die These des Buches, denn die Bedeutung des Papstes für die Kreuzzüge umfasste ja nicht die ganze Bewegung.[6] Im Schlusskapitel diskutiert CE die Frage nach der „grundlegenden Unterscheidung zwischen der hierarchi­schen und der populären Kreuzzugsidee, die einige Zeit nebeneinander herliefen, um sich unter Urban II. zu weltgeschichtlicher Vereinigung zu finden“, wie schon im Vorwort (ix) die Fragestellung formuliert wird. Und im Resüme beantwortet er: „Das scheidet ihn (Urban II.) grundsätzlich von Gregor, für den das Schillern zwischen Frömmigkeit und Vasallität, zwischen Sacerdotium und Militärmacht charakteristisch geblieben war. Urban II. „begnügte sich damit, sich an die Spitze der populären Bewegung seiner Zeit zu stellen, auch ohne dass sie ihm unmittelbaren Vorteil brachte.“ Das heißt, „Urban hat es verschmäht, diesen Gewinn (an moralischer Autorität) in direkte staatliche Macht umzuwechseln.“ (alles S. 325). Milita s. Petri umfasste aber nicht diesen populären und religiösen Aspekt des Kreuzzugsgedankens. Die religionswissenschaftliche Perspektive hat zum einen die religiöse Motivation der Laienfrömmigkeit herausgestellt, u.a. mit der Wahl der (jüdischen!) Makkabäer als Vorbild und Heilige der Ritter (neben den von CE untersuchten Erzengel Michael, Hl. Georg).[7] Weiter ist die Pilgerfahrt eine eigene Motivation von Laien mit viel älterer Tradition, die sich zwar gemeinsam mit dem militärischen Zug auf den Weg machte, aber eigene Ziele verfolgte. Die Rede von der „bewaffneten Wallfahrt“ vermischt, was getrennt zu betrachten ist.[8] In der Tat hat CE mit seinem Buch die Mediävistik weit geöffnet von der Verengung auf Kaiser- und Papstgeschichte hin zu einer Kulturgeschichte und Religionsgeschichte.[9] FR macht deutlich, dass das Buch zwar bis heute grundlegend ist, CE sich aber nicht als Kreuzzugshistoriker verstand.

Zur Mediävistik in der Geschichtswissenschaft der NS-Zeit:[10] Die zwölf Jahre der Zeit des Nationalsozialismus waren für ein so kompetitives Verfahren wie eine Wissenschaftskarriere entlarvend. Zum einen wurden viele Professuren unerwartbar frei, weil ihre Inhaber entlas­sen wurden, zumeist Juden. Der Fall Ernst H. Kantorowicz in Frankfurt ist der bekannteste.[11] Finanziell unabhängig, konnte er in der Vorlesung offen den NS anprangern, dann ohne Lehrverpflichtung an seinen Projekten arbeiten. EC wäre für die Vertretung und wohl auch die Nachfolge gefragt worden, aber machte zur Bedingung, dass er den Skandal anprangern würde (133-163).[12] Das konnte der Vertreter der Universität nicht annehmen. Bei der Vergabe eines (schlecht bezahlten) Lehrauftrags an der Berliner Universität schaltete sich der NS-Dozentenbund ein, der das politische Engagement beurteilte. Das erwies sich als vernichtend für den – nach bis dahin üblichen Kriterien – Star unter den Wissenschaftlern, die als nächste auf eine Professur berufen würden. Statt um Qualität des wissenschaftlichen Könnens und didaktischer Fähigkeiten wurde jetzt nach dem Datum des Eintritts in die NSDAP gefragt.[13] CE weigerte sich. Eine Chance zur Öffentlichkeitsarbeit bot sich für die Mediävistik und CE trieb das Projekt voran: Eine Fraktion in der NSDAP beschimpfte Karl den Großen als den „Sachsenschlächter“, als er die Sachsen seiner Herrschaft unterwarf und 4500 aus deren Elite entweder zur Annahme des Christentums zwang oder sie würden enthauptet. CE gewann Kollegen zu einem Büchlein, das den antifranzösischen Titel trug Karl der Große oder Charle­magne? Die acht Kapitel hatten zweierlei zum Ziel: Karl den Großen als den ersten Kaiser des Abendlandes bzw. des Deutschen Reiches zu feiern und das Recht auf Wissenschaft, ohne einer Ideologie zu dienen. Hitler bekannte sich in seiner Grundsatzrede auf dem Reichs­parteitag 1935 zu Karl dem Großen als seinem Vorbild der Einigung des Abendlandes, auch unter Gewalt (sprich der Eroberung ganz Europas dann im Zweiten Weltkrieg). Ob er das tat nach (und wegen) des Eindrucks der Historiker oder weil er das Germanenbild der Rosen­bergs und Himmlers ablehnte, aber auch weil er das Christentum für eine unverzichtbare Macht hielt, lässt sich so nicht entscheiden. Ich neige anders als FR dem letzteren zu.[14] Spannend CEs Widerspruch gegen die Weihestätte, die Heinrich (Himmler) seinem Namensvetter König Heinrich I. einrichtete und mit einem ‚sensationeller Weise entdeckten‘ Skelett authentifizierte, das sich aber als plumpe Fälschung erwies (254-264).

CE konnte mit seinem schon in jungen Jahre staunenswert umfangreichen Werk eine Forscherstelle, ja die Direktorenstelle in den Monumenta Germaniae Historica erwarten. Statt seiner wurden Emporkömmlinge auf die Stelle gesetzt, „Herr und Knecht“ nennt FR das Kapitel, wie CE das Institut eigentlich leitete und im Krieg vor der Ausbombung rettete. Sein Chef, Theodor Mayer, überließ CE die sorgfältige Evakuierung (die auch viele der von FR gefundenen Akten rettete). Mayer war mit seiner NS-Vergangenheit nach der Kata­strophe nicht mehr auf eine Professur zu befördern, aber wie vielen der Kollaborateure richtete man ihm ein eigenes außeruniversitäres Institut ein.[15] Die sich gegen den NS stemmten, wurden nach 1945 nicht etwa gelobt und gefördert, sondern meist wie Geächtete behandelt. Wie es CE ergangen wäre?

Die Wissenschaftsgeschichte der Mediävistik hat mit Reicherts Buch einen großen Fortschritt gemacht. Weit über Carl Erdmann hinaus treten andere Wissenschaftler auf und auf diesem Hintergrund wird die außergewöhnliche Persönlichkeit Erdmanns deutlich. Seine Gradlinig­keit und Mut, die Ablehnung des Nationalsozialismus auch auszusprechen, wo andere geschwiegen hätten, hat Folker Reichert mit all seiner Kenntnis der Forschung und einer umfassenden Arbeit in unterschiedlichsten Archiven erforscht und erzählt. Eine hervor­ragende Edition der Briefe und eine Biographie, die die ‚Spielräume‘ von Wissenschaftlern im ‚Dritten Reich‘ erkennen lassen, die die meisten mit Blick auf ihre Karriere, auch die schon etablierten, vorauseilend nicht nutzten. Diese Biographie zeigt, dass es auch solch eine „die Fackel in der Finsternis“ gab.

 

Bremen/Wellerscheid, März 2022                                                              Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,

Universität Bremen

E-Mail:
auffarth@uni-bremen.de 

 

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[1] Carl Erdmann: Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens. (Forschungen zur Kirchen- und Geistesge­schichte 6) Stuttgart: Kohlhammer 1935. (Nachdrucke 1955, 1965, 1972, 1980. Englische Übersetzung erst Princeton: Princeton University Press 1977 von Marshall Baldwin The Origin of the Idea of Crusade) – Das umfangreiche Werk dokumentiert sehr präzise FR im Anhang zu Band 2, 423-438. Erdmanns Namen kürze ich ab mit den Initialen CE. Zum Nachleben: 334-345.

[2] GT: Aus erinnerter Zeitgeschichte. Freiburg: Wagner 1981, 82-94.

[3] Folker Reichert (* 1949) ist Prof. emeritus der Universität Stuttgart. Er hat die Mediävistik bereichert unter anderem durch die Geschichte des Reisens, also in globalgeschichtliche Richtung. Wissen­schaftsgeschichtlich ist er mit der Erschließung des Tagebuchs im Ersten Weltkrieg des Heidelberger Mittelalterhistorikers Karl Hampe hervorgetreten. – Seinen Namen kürze ich ab mit den Initialen FR.

[4] Zu den italienischen ehemaligen Waffenbrüdern, aber nach Mussolinis Sturz Kriegsgefangenen Christoph Schminck-Gustavus: Kephalloniá 1943 – 2003. Auf den Spuren eines Kriegsverbrechens. Bremen: Donat 2004.

[5] Gerd Tellenbach: Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Inverstiturstreits. [Habil. Heidelberg 1932] Stuttgart: Kohlhammer 1936. Die Titel der übrigen 21 Bände vor dem Ende des NS enthalten viele theologische Fachbegriffe. Im gleichen Verlag, aber aus mir nicht bekannten Gründen außerhalb der Reihe – Die Reihe wurde herausgegeben von Benz‘ Mentor Erich Seeberg und war mit  Benz‘ Willensmetaphysik  eröffnet worden – war  im Jahr davor Ernst Benz: Ecclesia spiritualis. Kirchenidee und Geschichtstheologie der Franziskanischen Reformation. Kohlhammer: Stuttgart 1934. erschienen. Gewidmet ist der Band „Der kommenden Kirche“, ein Motto, das den Verfasser als Deutschen Christen kenntlich macht, wie auch die Einleitung (1-3) zeigt. Zu Benz Christoph Auffarth: Frömmigkeit im protestanti­schen Milieu: Marburg während des Nationalsozialismus. In: Olaf Blaschke; Thomas Großbölting (Hrsg.): Was glaubten die Deutschen 1933-1945? Religion und Politik im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main: Campus 2020, 415-442.

[6] Schon CEs nicht gedruckte Dissertation phil. 1925 in Würzburg trug den Titel Der Kreuzzugsgedanke in Portugal.

[7] Christoph Auffarth, Irdische Wege und Himmlischer Lohn. Kreuzzug, Jerusalem, Fegefeuer in religionswis­senschaftlicher Perspektive. (MPIG 144) Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2002. In der Fragestellung treffend (Kein ‚Krieg des Papstes‘), in der Ausführung nur teilweise gelungen: Tim Weitzel: Kreuzzug als charismatische Bewegung. Päpste, Priester und Propheten 1095-1149. (Mittelalter-Forschungen 62) Ostfildern: Thorbecke 2019. Zum Kult des Erzengels Michael CE, Kreuzzugsgedanken S. 17; St. Georg 257.

[8] Schon Auffarth: „Ritter” und ”Arme” auf dem Ersten Kreuzzug. Zum Problem Herrschaft und Religion ausgehend von Raymond von Aguilers. in: Saeculum 40(1989), 39-55. Auffarth: Nonnen auf den Kreuzzügen: ein drittes Geschlecht? In: Das Mittelalter. Zeitschrift des deutschen Mediävisten­verbandes Band 21, Themenheft 1: Kreuzzüge und Gender, hrsg. von Ingrid Baumgärtner und Melanie Panse. Berlin: de Gruyter 2016, 159-176. mit der Unterscheidung der Teilnehmer und ihrer Interessen.

[9] Otto Gerhard Oexle: Staat – Kultur – Volk. In: Deutsche Mittelalterhistoriker auf der Suche nach der historischen Wirklichkeit 1918-1945. In: Peter Moraw; Rudolf Schieffer (Hrsg.): Die deutsche Medi­ävistik im 20. Jahrhundert. Ostfildern: Thorbecke 2005, 63-101. Auch von FR 128f zitiert, aber mit einem Vorbehalt gegenüber ‚Kulturgeschichte‘.

[10] Gleichzeitig erschien der Band (mit einen Beitrag von FR zu CE) Arno Mentzel-Reuters, Martina Hartmann, Martin Baumeister (Hrsg.): Das Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde 1935 bis 1945 – ein „Kriegsbeitrag der Geisteswissenschaften?“ (Monumenta Germaniae Historica. Studien zur Geschichte der Mittelalterforschung 1) Wiesbaden: Harassowitz 2021.

[11] Die lesenswerte Biographie von Robert E. Lerner, Princeton 2017 ist auch übersetzt Stuttgart: Klett-Cotta 2020. Eine Sammlung seiner Aufsätze mit einer vorzüglichen Einleitung von Johannes Fried: EHK: Götter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendländischen Königtums. Stuttgart: Klett-Cotta 1998.

[12] Dazu 154f, II 39 (Brief 8).

[13] Da das oft unbekannt ist bei der Beurteilung der Nähe zum Nationalsozialismus: Angewidert von der gewaltigen Nachfrage nach einen Parteieintritt verbot Goebbels vom Mai 1933 an den Eintritt in die NSDAP. Erst ab 20. April 1937 wurde das Verbot aufgehoben. Dafür schrieben sich die, die eine Stelle im Staatsdienst haben wollten (nicht nur die Karrieristen), in anderen Organisationen der NSDAP ein wie Dozentenbund, Lehrerbund, Automobilisten,…

[14] Auffarth: Drittes Reich. In: 20. Jahrhundert. Hrsg. von Lucian Hölscher, Volkhard Krech. (Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, Band 6/1) Paderborn: Schöningh 2015, 113-134; 435-449, bes. 121f.

[15] FR 331. Anne C. Nagel hat das Zuschieben von Posten nach 1945 beschrieben: Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1970. (Formen der Erinnerung 24) Göttingen 2005, meine Rezension in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 104(2006 [2007]), 391-394. Zu Theodor Mayer die Biographie von Reto Heinzel, Paderborn: Schöningh 2016. Sehr gut die Wissenschaftsbiographie zu Percy Ernst Schramm von David Thimme: Percy Ernst Schramm und das Mittelalter. Göttingen: V&R 2006. Meine Rezension in: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 106(2008), 255-257. Zu dem von Schramm unfair angegriffenen großen französischen Mediävisten hat großartig Ulrich Raulff geforscht und dargestellt: Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Marc Bloch. Frankfurt am Main: S. Fischer 1995.