Abgrenzungen: Die Aufspaltung des Judäo-Christentums. Von Daniel Boyarin

 

Daniel Boyarin

Abgrenzungen. Die Aufspaltung des Judäo‐Christentums

Aus dem Amerikanischen von Gesine Palmer (ANTZ 10)
Berlin; Dortmund 2009 

ISBN 978-3-923095-70-4

Antike Juden und Christen streiten in Hörweite:
Daniel Boyarins Borderlines auf deutsch

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Das Berliner Institut  Kirche und Judentum hat (gemeinsam mit dem Dortmunder Lehrhaus) – wieder zu einem außerordentlich niedrigen Preis – die Übersetzung eines heiß diskutierten Buches herausgebracht: Der amerikanische Talmudprofessor Daniel Boyarin, geboren 1946, beschreibt in Borderlines (University of Pennsylvania 2004) seine Grenzgänge zwischen jüdischem und christlichem Denken. Wenn er bei Jacques Derrida die Methode der Dekonstruktion gelernt hat, ein radikal subjekti­visti­sches Interpretieren, dann entspricht das dem, wie Juden ihre Texte lesen dürfen: Der Text hat keine eindeutige Wahrheit.[1] Gegen Grenzziehungen kämpft Boyarin auch in der Gegenwart, wenn er sich politisch gegen die Besatzungspolitik des Staa­tes Israel und die Siedler einsetzt und damit Anfeindungen auf sich zieht (s. S. xv).

Seine These: Ein orthodoxes Judentum als eine Religion mit festen Regeln für das alltägliche Leben (Halacha) und einem abgeschlossenen Kanon der Tora ist erst mit der Zusammenstellung der aufregenden Diskussionen in den rabbinischen Akademien abgeschlossen, als sie verschriftlicht wurde im Talmud. Das ist das fünfte Jahrhundert; da war das Christentum schon drei, vier Generationen die privilegierte Religion. Vor dieser ‚Redaktion’ waren die Dinge noch im Fluss. Fragen wurden noch so unterschiedlich bewertet, dass man schwer sagen konnte, ob das eine ‚jüdische’ oder eine ‚christliche’ Position sei.

Den Prozess der Abgrenzungen, besser gesagt aber der Grenzgänge, ja der Unsicher­heit über die eigene Identität, fast also Borderline-Störungen, beschreibt Boyarin in einem ebenso gelehrten, wie ungewöhnlich subjektiven Darstellung der Auseinan­der­setzungen der Antike. Das setzt ein mit dem ‚Apologeten’ der Mitte des 2. Jahr­hunderts, als Justin einen ‚Dialog’ mit dem Juden Tryphon erfindet. Die Legende, dass „die Juden“ in einem Konzil aller Rabbis in Javne schon kurz vor dem Ende des ersten Jahrhunderts die Juden ausgeschlossen hätten, die in dem Jesus von Nazareth den Messias gekommen sahen und mit einem täglich gebeteten Fluch das bekräftigten (dem sog. Ketzer-Segen birkat ha-minim), erklärt B., wie es im Rückblick der dann getrennten Religionen zu der Legende kam (220-288). Dann greift B. eine These auf, dass das  Modell der apostolischen Sukzession in der christlichen Kirche ein Vorbild bei den Rabbinen hat (Apostolische Sukzession bedeutet, dass jedes lokale Christen­tum von sich behauptet, es sei gegründet und trage von Generation zu Generation weiter, was ein Apostel = Jünger Jesu vom Meister gelernt hat: Andre­as in Antio­chi­a, Johannes auf Patmos, Sankt Jakob in Santiago, Thomas in Indien; erst spät behaupten die Römer, dass Jesus Petrus zu seinem alleinigen Nachfolger in Rom eingesetzt habe und folglich die Päpste das Monopol innehätten).
Sehr wichtig sind die folgenden Kapitel über den Logos. Logos, das Wort und die Ver­nunft, das die Christen später für ihren Christus reklamieren. Schon im Schöp­fungs“bericht“ arbeitet Gott ja nicht aktiv, sondern er entlässt aus sich ein „Wort“ und das bewirkt die Schöpfung. Da gibt es also außerhalb des einen Gottes ein zwei­tes Wesen, das sich sowohl eigenständig als auch als Teil Gottes verstehen lässt. So lässt sich der Johannes-Prolog (Joh. 1 „Im Anfang war das Wort. Und das Wort ward Fleisch“) als jüdische Auslegung und Weiterschreibung (Midrasch) verstehen. Lange geht es – jüdisch wie christlich – um einen Binitarismus; der dritte in der Trinität, der Heilige Geist, kommt erst spät hinzu.

Die Übersetzung war schwierig, da Boyarin nicht einfach eine historische oder philologische Argu­mentation durchführt. Gesine Palmer hat das Problem glänzend gelöst und an wenigen Stellen noch Doppeldeutigkeiten erklärt. Die auch Leser mit guten Kenntnissen des Amerikanischen nicht leicht er­kennen. Großes Lob! Großartig auch, dass die Indices der Stellen, Personen, Sachen das Buch erschließen.

Für die Frage nach der Abhängigkeit zwischen Judentum und Christentum kann man folgende Modelle unterscheiden:

  • Mutter- und Tochter-Religion oder das Stammbaum-Modell. In der Regel gilt das Judentum die Mutter, aus der die Tochter allmählich immer selbständiger wird und sich schließlich entschieden lossagt. Dieses Modell, oft auch mit der phytomorphen Metapher „(jüdische) Wurzel – (christliche) Äste“ beschrieben, ist das heute gebräuchlichste. Das Bild vom Ölbaums aus Römer 11, 16-24 ist freilich kompliziert: Die aufgepropften Äste der (fremden) Völker sind keine fruchttragenden Äste.
  • Zu diesem Familienmodell gibt es die Variante, die das auf den Kopf stellt: Das Christentum vertritt die gute Tradition des Alten Israel und der Prophe­ten, während die Juden sich davon absetzen und eine eigene Religion schaffen.
  • Das Modell aus Einheit/Orthodoxie wird Vielfalt/Häresie. Dieses Modell der Kirchengeschichte (und Judentumsgeschichte)[2] beruht auf der Behauptung, das höchste Gut sei die „Einheit“, das durch Entfernen der Abweichler als Häretiker mit institutioneller Gewalt hergestellt werden muss.
  • Dieses Modell hat Walter Bauer 1934 Rechtgläubigkeit und Ketzerei im frühen Christentum umgedreht:  Vielfalt/Häresie steht am Anfang der frühen Christen­­­heit und erst ab dem dritten Jahrhundert bilden sich die Institutionen heraus, die Rechtgläubigkeit entscheiden: der monarchische Monepiskopat = ein Aufseher ohne kontrollierenden Kollegen kann souverän entscheiden, ob eine Meinung dem rechten Glauben entspricht und ob, der sie geäußert hat, Mitglied in der Gemeinde bleibt. Unglücklicherweise hat er noch den Begriff der Ketzerei verwendet, der erst aus späterer Sicht den lokalen Christen­tümern aufgedrückt wurde.[3]
  • Die verschiedenen Geschichtsmodelle äußern sich auch in der Verwirrung der Begriffe: Seit Julius Wellhausen (gest. 1918) war es üblich, die Zeit, als ‚Israel’ aus dem Exil nach Jerusalem zurückkehren konnte, als die Erfindung des Judentums zu bezeichnen, indem an die Stelle des lebendigen Gotteswortes, das die Propheten übermitteln, das geschrieben Gesetz, die Überfülle der Gesetze tritt: das Frühjudentum;[4] das Judentum der Zeit Jesu und besonders nach der Zerstörung des Tempels heißt dann Spätjudentum. Das heutige Judentum blieb ohne lebendige Entwicklung, eine Mumie des Zustandes von damals, abgestorbene Äste, während das Christentum sich lebendig und fruchttragend weiter entwickelte. Heute spricht man für die Zeit Jesu vom Frühjudentum, das sich noch unterscheidet von dem rabbinischen Judentum nach der Zerstörung des Tempels.
  • In jüngerer Zeit ist man abgekommen von der Einheit und dem einen gemein­samen „Glauben“ suggerierenden Begriff des ##-tums. Das neue Wort heißt „the parting of the ways“ – „das Auseinandergehen der Wege“. Gab es einen Knall, an dem das passierte? Oder ist die Variante richtig „The ways that never parted“ oder im Familienmodell, die Zwillinge oder gar die siamesischen Zwillinge?[5] Wichtig auch die Variante The beginnings of Jewishness.[6]
  • Ein wichtiges Argument führt Boyarin ein: Erst durch die Gesetzgebung der Kaiser in der Spätantike komme es zu dem Begriff der religiones, Religion im Plural, der dann einen Singular-Begriff erzeugt.

Ein Buch, das sich zu lesen lohnt. Die neuen Darstellungen, wie jüdische und christ­liche Intellektuelle noch lange in Hörweite stritten, wie ein ‚zweiter Gott’, eine zweite Erscheinungsweise des einen Gottes zu verstehen sei, verändern das Bild von der Religion in der römischen Kaiserzeit grundlegend. Neben den Intellektuellen-Debatten (für die das Buch von Peter Schäfer, Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums, 2010[7] ein anderes hervorragendes Beispiel gibt) sind andere Elemente der Religionsge­schichte zu beachten, wie das „Das Ende des Opfers“ und seine liturgische Meta­mor­phose, die Mysterisierung der Religionen und der Philo­sophie, die Verwendung von Bildern (wobei die jüdischen Bilder den christlichen vorausgehen). Die Identitäts­probleme sind früh da und gehen weiter über bestimmt vierhundert Jahre. Sie finden immer neue Lösungen und andere Grenzziehungen während dieser Zeit. Nicht abgeschlossen, aber doch ständig da. Zu Recht sieht B. eine hohe Bedeutung für die Abgrenzung in externen Faktoren;[8] er berichtet aber vor allem die internen intellek­tu­ellen Grenzgänge.

Boyarins Ideen sind kühn, doch gut argumentert. Es lohnt sich, sie zu prüfen. Und Religionswissenschaftler haben ihre Freude, Erfahrungen und Verstehen der Globali­sierung für die Spätantike angewendet zu sehen. Die Frage stellt sich: Wo kippt Pluralismus, das fröhliche oder streitbare Nebeneinander in hasserfüllten Ausschluss und Denk­verbote? Oder gibt es Phasen der Offenheit und der Abschottung nach innen wie nach außen. Jedenfalls kann man das Problem nicht lösen, indem man Häretiker einfach ausgelagert in die andere Religion.

Christoph Auffarth,
Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

 

Noch ein paar Hinweise zu der Debatte:

Judith Lieu: Christian identity in the Jewish and Graeco-Roman world. Oxford: Oxford Univ. Press 2004.

Judith Lieu: Neither Jew nor Greek? Constructing early christianity. London: T & T Clark 2005.

Judith Lieu (ed.): The Jews among pagans and Christians in the Roman Empire. London: Routledge 1994; 2002.

Einar Thomassen: „The reception of Greco-Roman Religious and Cultic Terminology in Judaism and Christianity.“ in: David Brakke … (eds.): Beyond reception. mutual influences between antique religion, Judaism, and early Christianity. Frankfurt am Main: Lang, 2006, 137-153.

Marius Heemstra: How Rome’s Administration of the Fiscus Judaicus Accelerated the Parting of the Ways Between Judaism and Christianity. Diss. Groningen 2009. Als Buch Tübingen: Mohr Siebeck 2010.

Daniel Stökl Ben Ezra: Weighing the parts. A papyrological perspective on the parting of the ways. In: Novum Testamentum 51 (2009), 168-186.

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[1] Eine sehr gute Einführung Jan Gühne: „Kreuz und quer verlaufende Linien der Geschichte“ Ein kritischer Blick auf Daniel Boyarins Thesen zur Entstehung von Judentum und Christentum. (Pontes 31) Berlin 2006. 95 S.

[2] Für das Judentum hat das am Beispiel der Karäer gerade Hannelore Müller dargestellt: Religion­s­wissenschaftliche Minoritätenforschung. Zur religionshistorischen Dynamik der Karäer im Osten Europas. (Studies in oriental religions 60) Wiesbaden: Harrassowitz, 2010.

[3] Christoph Auffarth: Die frühen Christentümer als Lokale Religion. Zeitschrift für Antikes Christentum 7(2003), 14-26. Eine Geschichte der Theologien hat Klaus Berger geschrieben: Eine Religionsgeschichte fordert Räisänen.

[4] Bei Wellhausen noch das „Spätjudentum“ (weil er das ‚Alte Israel’ als Judentum wertete). So hat das protestantische Geschichtsbild noch nach der Vernichtung der Europäischen Juden Rudolf Bultmann dargestellt in seinem Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionsgeschichte (1949).

[5] Dem neigt B. zu (s. 6): „Das Judentum ist nicht die Mutter des Christentums; die beiden sind siamesische Zwillinge, die an der Hüfte zusammengewachsen sind.“

[6] Shaye Cohen: The Beginnings of Jewishness. 1999.

[7] Siehe meine Rezension dazu.

[8] Dabei spielt die Judensteuer, der Fiscus Judaicus, um 100 n.Chr. eine wichtige Rolle; vgl. Heemstra 2010

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20.10.2010
Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen

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