Nico ter Linden
König auf einem Esel
Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament für die
ganze Familie
384 Seiten, gebunden.
Übersetzt von Wolfgang Rescheleit
Mit vielen vierfarbigen Bildern illustriert von Cesili Josephus
Jitta
Format 21 x 29,7 cm
Lutherisches Verlagshaus Hannover 2011
ISBN 978-3-7859-1063-4
45.- Euro
Dies ist eine Erzählbibel ganz eigener Prägung. Nico ter Linden hat nach seinem umfangreichen Werk „Es wird erzählt“ (6 Bände, vgl. Anm. 2) nun eine besondere Bibel für die jüngere Generation geschrieben. Im Vorwort berichtet er von eigenen Erlebnissen der Kindheit und Jugendzeit, die prägend waren für die spätere intensive Beschäftigung mit der Bibel. Ohne Verschnörkelung wird dargelegt, dass ein bedingungsloser Wunderglaube nicht als Voraussetzung für die heutige Bibellektüre gelten sollte. Der Grund: Die biblischen Erzähler schrieben ja nicht „in Zeitungssprache, sondern in Geschichtensprache“ (4)!
Um das Sammeln, Erzählen, Erleben und Hören von Geschichten geht es auf jeder Seite dieser imponierenden Erzählbibel. Der Autor lässt Onkel Ben programmatisch verkünden: „Wir sammeln die Geschichten unseres Volkes und schreiben sie auf … Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, man braucht auch Geschichten. Wenn wir die alten Geschichten vergessen, verlieren wir alles. Dann wissen wir nicht mehr, woher wir kommen und wohin wir gehen“ (15). Weitere zentrale Personen im Erzählarrangement sind die Kinder Judith und Tobias, die gemeinsam mit ihren Eltern und dem ehemaligen Tempelpriester Onkel Ben Jerusalem verlassen müssen und in die Verbannung nach Babylon geführt werden. Onkel Ben hat sich mit anderen Schreibkundigen die große Aufgabe gestellt, Israels Erzählungen und Glaubensgeschichten so zu Pergament zu bringen, dass sie den Verschleppten in ihrer schwierigen Situation Stärkung und Zuversicht bieten. Judith und Tobias sind in dieses geschehen eng involviert und können gar nicht genug an diesen Erzählungen haben. Gut dass Onkel Ben auch so vieles erklären kann. Das hilft ihnen, die vielen fremden Dinge in Babylon besser zu verstehen und in Relation zu ihrem Glauben zu bringen.
Auf diese Weise erhält der heutige Leser die Chance, ähnlich wie Judith und Tobias die Inhalte des Alten Testaments im Zusammenhang und in kundiger Deutung zu erfahren. Immer wieder bringt Nico ter Linden – bzw. „Onkel Ben“ – die beiden könnte man fast verwechseln – fachliches Wissen hinein, das für junge Leser eine gute Brücke zu den alten Texten darstellt. Eine Erzählbibel kann nicht alle exegetischen Untersuchungen zu einem Text berücksichtigen bzw. wiedergeben; der Autor muss Entscheidungen treffen, welcher hermeneutischen Anschauung er den Vorzug geben möchte.
Ein Beispiel sei hier dazu genannt. Bei der Erzählung von Isaaks Bindung ( Gen 22) greift Nico ter Linden zu der Methode, die Erzählung von der Fast-Opferung Isaaks als einen Traum Abrahams zu deuten. Diese Interpretation mindert die Wirkung der Erzählung nicht, wie der Schlusssatz zeigt: „Abraham hat seinen Traum nie mehr vergessen, es war, als ob er seinen Isaak aus seinem Tod zurückbekommen hätte“ (42).
Die alttestamentlichen Erzählungen sind in zwei große Blöcke geteilt. Der erste Teil steht unter dem Motto „das Land unter dem Regenbogen“ und enthält die Erzählungen der 5 Bücher Mose. Der zweite Teil heißt „Der Prophet im Fisch“. Ein Schüler namens Amos übernimmt die Rolle des verstorbenen Onkel Ben und begleitet die inzwischen erwachsen gewordenen Judith und Tobias, die nun ein Paar sind. Nico ter Linden folgt mit diesem Aufbau dem jüdischen Verständnis , welches auch die Bücher Josua, Richter und Könige u.a. m. den Propheten zuordnet. Als Schriftprophet kommt besonders Jeremia in diesen Erzählungen viel Raum. Dem Entstehungsprozess der biblischen Bücher folgend, stehen die Geschichten von Esther und Daniel am Ende der alttestamentlichen Reihe. Das letzte Wort hat hier überraschender Weise der König Nebukadnezar. Nico ter Linden lässt ihn von Gott und den Göttern sprechen, von Befreiung und Rettung und von der Sympathie für die Schwachen (260). Damit wird die prophetische Rede mit dem messianischen Gedanken – in einem „Heiden“ ! – verknüpft – eine gute Überleitung zum nun folgenden Neuen Testament!
Dieses beginnt bei Nico ter Linden mit einer Ostererzählung, nämlich mit den beiden Jüngern die nach Emmaus unterwegs sind (263 ff). Sie heißen hier Lukas und Matthäus, und diese Evangelisten werden kurzerhand zu ehemaligen Jüngern Jesu gemacht.1 Sie sind nicht nur Randfiguren in der Erzählung, sondern aktive Bindeglieder in der Konstruktion der Jesuserzählungen. Besonderes Kennzeichen der beiden ist ein fortwährender intensiver Dialog. Dem Leser wird so deutlich, dass die Erzählungen der Evangelisten auch Produkt intensiven Nachdenkens, Forschens und zielgerichteter Verstehensbemühungen waren.
Lukas und Matthäus tauschen sich über ihre Jesuserinnerungen aus: „Das ist das, was ich heute Nacht aufgeschrieben habe“, sagte Lukas. Matthäus war ganz still geworden. „Du hast daraus wirklich etwas Besonderes gemacht“, sagte er nach einer Weile. „Witzig, dass du Jesus nach seinem Begräbnis wieder so herumspazieren lässt. Aber du hast Recht: In einem Grab darf man Jesus wirklich nicht suchen. Dort wird man ihn nicht finden“ (268).
Die bekannten Geschichten von Jesus sind hier in neue Kontexte eingeordnet. Der hermeneutische Ansatz Nico ter Lindens, in die Erzählungen und Dialoge auch Deutungen und Wissensvermittlung einzubringen, kommt hier stark zum Tragen.2 Das Vertraute wird so neu erschlossen und kann anders zur Wirkung kommen. Ganz nebenbei erfährt der Leser durch die Einlassungen von Matthäus und Lukas, welche Fülle an gedanklichen Verbindungen zu alttestamentlichen Themen und Personen in den Jesuserzählungen zu finden sind; beispielsweise bei der Geschichte der Totenerweckung des Jünglings von Nain (278 ff).
Auch der Evangelist Johannes wird in das Geschehen eingebunden: Lukas und Matthäus stehen mit ihm in Korrespondenz und tauschen Geschichten aus. Die Anordnung der Erzählungen entspricht nicht dem bekannten Duktus. Sie ist jedoch nicht willkürlich. Jeder der beiden Protagonisten steuert am Schluss noch etwas Entscheidendes bei. Lukas schreibt von dem Pfingsterlebnis und dessen prophetischer Ausstrahlung (374 f); Matthäus überlegt sich, mit welchen Worten die Jesusbotschaft in Kurzform – fast „twittermäßig“ würde man heute sagen – weitergesagt werden könnte. „Er schrieb es in acht Versen auf. Eine Art Lied wurde das, ein Lied von der Sehnsucht nach dem Reich Gottes: „Glücklich, die einfachen Herzens sind, denn ihnen gehört das Reich Gottes…“ (376 f).
Fazit: Diese besondere Erzählbibel ist ein „großer Wurf“. Nico ter Linden sprengt damit die Grenzen üblicher Kinder- und Jugendbibeln. Auf ganz eigenständige Weise wird die biblische Botschaft aufgegriffen und verarbeitet. Zwar sind die heutigen Leser unverkennbar das Ziel dieses Unternehmens, jedoch wird dabei der biblische Grund nicht hermeneutisch einfach übersprungen. Der jugendliche und erwachsene Leser kann sehr viel Neues entdecken. Man wird immer wieder neu zu dieser Bibelerzählung greifen, weil der erzählerische Spannungsbogen den Leser fesselt. Diese Erzählbibel ist eigenständig und mutig, weil sie auch theologische Erkenntnisse und Weltanschauungsgrenzen über die alten Texte berücksichtigt. Die Leser werden nicht bevormundet und ihnen wird auch nicht zugemutet, sich das Weltbild der Antike zu eigen zu machen, zum Beispiel einige Wundererzählungen betreffend. Dass damit auch manche „dogmatische Korrektheit“ kippt, woran sicher der eine oder andere Anstoß nehmen wird, ist dem Autor klar. Der Gewinn an inhaltlicher Kenntnis ist jedoch so groß, dass man Letzteres ruhig in Kauf nehmen kann.
Diese Erzählbibel kann in religionspädagogischer Hinsicht viele gute Dienste leisten. Im Unterricht kann sie helfen, schwierige Bibeltexte zu verstehen und vertraute Geschichten mal ganz anders zu deuten. Besonders die Erzählungen zum Alten Testament weisen eine gelungene Spannung auf, die einfach Lust zum Weiterlesen macht, Jugendlichen und Erwachsenen!
Dr. Manfred Spieß
Universität Bremen
Religionspädagogik
20.02.2012
1 Erst am Ende des Buches schenkt Nico ter Linden den Lesern ‚reinen Wein‘ ein, indem er bekennt, dass er diesen Sachverhalt aus schriftstellerischen Gründen „erfunden“ hat (vgl. 378)
2 Bereits die früheren Bände „Es wird erzählt“ waren von dieser anspruchsvollen, aber ertragreichen Hermeneutik geprägt.