Olaf Blaschke: Die Kirchen und der Nationalsozialismus.
(Reclams Universal-Bibliothek 19211) Stuttgart: Reclam 2014.
[288 Seiten. ISBN: 978-3-15-019211-5.
Taschenbuch. 8.00 €]
Ein Historiker revidiert die Apologie der katholischen Kirche über ihr Verhalten im Nationalsozialismus
Zusammengefasst: Ein Meilenstein für die Bewertung der katholischen Kirche, für die protestantischen Kirchen mit Einschränkungen.
Ausführlich: Mit 50 Jahren bekommt Olaf Blaschke[1] seine Professur[2] und schreibt dieses bemerkenswerte Buch. Es wird ein Meilenstein in der Forschung, die zwischen Skylla und Charybdis hin und her geschleudert wird: Da sind auf der einen Seite die großen Vereinfacher, die der Kirche Komplizenschaft mit dem NS vorwerfen (wie Daniel Goldhagen), auf der anderen Seite das (soll man sagen: Kartell) der kirchennahen Kirchenhistoriker, die die katholische Kirche als Bollwerk des Widerstandes gegen den NS darstellen.[3] OB hat sich seit seiner sozialgeschichtlichen Dissertation[4] mit dem Katholizismus beschäftigt und (wie eine Reihe anderer[5]) die kirchennahen Thesen immer wieder widerlegt. Das ist die große Stärke des Buches, dass es nicht in Alternativen denkt, sondern Stufen des Widerständigen, aber auch (und das ist neu) Stufen der Annäherung und Zusammenarbeit differenziert. Da man in diesem gefährlichen Terrain sehr genau zitieren muss, ist es OB gelungen, seine Thesen jeweils zu belegen, obwohl für Anmerkungen nur wenig Platz ist. Nach einer Darstellung mit exemplarischen Beispielen und Zitaten in den im Folgenden genannten Kapiteln folgt jeweils ein Abschnitt zu einer Kontroverse in der Forschung. Eine immer interessante und erkenntnisreiche Lektüre.
Ein fulminantes erstes Kapitel stellt dar, wie in europäischem Rahmen der Dreißiger Jahre[6] des 20. Jahrhunderts in fast allen europäischen Ländern Diktaturen entstanden sind und wie sich die Kirchen zumeist hinter die autoritären, antirepublikanischen Bewegungen stellten. Die Kontroverse fragt, ob es eine Affinität von Christentum und Faschismus gab. Kapitel 2 konzentriert sich dann auf das Deutschland der Weimarer Republik. In der Kontroverse versucht OB eine Antwort auf das Problem: Ist der NS als eine Ersatzreligion zu bewerten? Wie sich die katholischen Bischöfe mit fliegenden Fahnen zu Befürwortern der NS-Regierung wandelten, beschreibt das dritte Kapitel. In der Frage, ob es einen Kuhhandel gab, zu Gunsten eines Vertrags zwischen Staat und Kirche, das „Konkordat“, die politische Interessenvertretung aufzugeben, neigt sich die Kontroverse – nach der Öffnung der Archive des Vatikans – der Lösung zu, dass die Initiative nicht von Rom, sondern von Hitler ausging. Freilich kam der Rückzug auf das Geistliche manchem Bischof recht. Hier ist ein Problem anzusprechen, dass die Perspektive zu oft das bischöflich-romtreue Handeln in den Blick nimmt. Die Zusicherung religiöser Freiheit wurde freilich mit Schikanen der NS-Größen vor Ort teils erheblich verletzt. Das wird in Kapitel 4 Orientierungsversuche und 5 Zurückdrängung der Kirchen in der Prominenzphase des Regimes dargestellt. Dabei wird das Problem verhandelt, ob man von einer Entkonfessionalisierung der Gesellschaft sprechen sollte, während die Bedeutung der Religion weiter hoch besetzt gewesen sei. Die daraus folgende These ist jedoch kaum ausgearbeitet : Die NS waren eher antiklerikal als antireligiös. Gut differenziert im folgenden Kapitel die vier Positionierungsmöglichkeiten. Hier verwendet OB (als vierte statt Widerstand) den offeneren Begriff der Resistenz. Kapitel 7 und 8 behandeln die Kirchen im Krieg, zunächst bis 1941, dann den Vernichtungskrieg. Hier thematisiert OB das Schweigen der Kirchen gegenüber dem Mord an den Juden, während gegen die Euthanasie (Ermordung der Behinderten) erfolgreich protestiert wurde. (Hier ist die öffentliche Predigt Graf Galens zu prominent herausgestellt, während die Denkschrift von Pastor Braune fehlt). Das letzte Kapitel bespricht das Vertuschen und Triumphieren der Kirchen nach der Selbstvernichtung des NS. Ein guter Index und eine Zeittafel (die man sich selbst unter http://www.reclam.de/blaschke_kirchen_zeittafel ausdrucken kann) lassen leicht Details wieder aufrufen.
Für die katholische Seite ist das Buch exzellent. Es wird den kirchenfreundlichen Kirchenhistorikern eine harte Nuss sein, ihre Position zu halten.
Zwei Perspektiven sind OB nicht gelungen. So gut er das katholische Milieu versteht, die protestantische Position bleibt ihm fremd.[7] Nach der Schilderung der Verschiedenheit der Landeskirchen und der den NS sich andienenden Deutschen Christen[8] und des Wahlerfolgs der NsDAP in protestantischen Gebieten sagt er, das katholische Milieu sei „wohltuend übersichtlich“ (101), „das Bild heillos protestantischer Zersplitterung“ (146) usf. 223 findet er generös: „Trotzdem ließ sich nicht alle Verantwortung dem Protestantismus zuschreiben.“ Während er die päpstliche Enzyklika „Mit brennender Sorge“ 1937 als erste klare Absage an den NS lobt, findet er, die Barmer Erklärung 1934 wollte nicht politisch sein (140; stärker noch 241). Die päpstliche Position richtete sich gegen eine bestimmte Gruppe innerhalb des NS (Rosenberg und Himmler), nicht aber gegen den NS als Ganzen. Denn der Haupt-Verfasser des Textes, der Münchner Kardinal Faulhaber, hatte wenige Wochen zuvor nach einem mehrstündigen Gespräch mit Hitler befunden, dass Hitler ein echt gläubiger Staatsmann sei. Demgegenüber ist die Barmer Erklärung deshalb so politisch, weil sich – gegenüber der lutherischen Anerkennung des jeweiligen Landesvaters als von Gott eingesetzt, aber durchaus weltlichen Regeln folge (Zwei-Reiche-Lehre) – in der Erklärung das reformierte Gebot durchsetzte, dass Politik sich nach christlichen Regeln richten müsse („Königsherrschaft Jesu Christi“). Nicht zutreffend ist auch „der als Sachverhalt unbestritten protestantische Antisemitismus“ (175).
Mit der letztlich katholischen Vorstellung von Religion hängt auch mein zweiter Einwand zusammen. Wenn man sich zum Thema nimmt ‚Die Kirchen und der NS‘, dann kommt man schnurstracks zur institutionalisierten Religion, zu Hierarchien, Bischöfen, den professionell Religiösen. Kampferprobt im Kulturkampf hat die katholische Kirche in Deutschland sich aufgestellt. Obwohl eine Institution haben die evangelischen Kirchen gerne diesen Anspruch von sich gewiesen und die Möglichkeiten unterschätzt. Auf der Ebene der institutionalisierten Religion aber werden sich die Fragen immer wieder um ähnliche Probleme drehen. Was nötig wäre, ist eine Religionsgeschichte des Dritten Reiches, die die gemeinsamen Fragen und Bewertungen untersucht nach Autorität, Erlösung und Messias, Nationalreligion und nationaler Eschatologie in einem Tausendjährigen Reich, Blut und Reinheit, Judenfeindschaft, Heilige Schriften oder Gottes Handeln in der Geschichte, Antisemitismus.[9] Einige Beispiele auch in OBs Buch führen schon in diese Richtung, wie die Jesuiten in Hitlers Krieg (218f), Himmlers Austritt aus der Kirche als einzigem aus Hitlers Elite (56), der Kirchenkampf in einer Berliner Kirche mit Orgel gegen Posaunenchor (142-145).
Olaf Blaschke ist ein Buch gelungen, das (viel mehr als nur Zusammenfassung des Forschungsstandes) eine Grundlage für jede weitere Beschäftigung mit dem komplexen Thema bildet mit differenzierten Urteilen und gut gewählten Beispielen. Die Grenzen liegen in dem Religionsverständnis, das geprägt ist von dem Modell der Institution katholische Kirche. Der Reclam-Verlag hat wieder einmal einen Autor begeistert zu einem grundlegenden Fachbuch, das dank des Preises jedem Interessierten empfohlen sei und in die Hand passt.
- Oktober 2014 Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen
[1] Im Folgenden meist mit den Initialen abgekürzt OB. NS steht für Nationalsozialismus.
[2] In Münster, wo im Zusammenhang mit dem Exzellenzcluster „Religion und Politik“ ein weiterer Historiker forscht zur Religionsgeschichte Deutschlands seit 1945: Religion hat ihren Ort nicht mehr im Himmel. [Dazu meine] Rezension zu Thomas Großbölting, Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945, 2013. http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2013/11/28/der-verlorene-himmel/
[3] Verknüpft über die Kommission für [kirchliche] Zeitgeschichte, s. Blaschke 343f. Etwa die Dokumentation Priester unter Hitlers Terror. Der Titel suggeriert, als seien alle katholischen Geistlichen Opfer des NS-Terrors geworden. Vgl. auch meine Rezension von Joachim Kuropka (Hrsg.): Grenzen des katholischen Milieus. Stabilität und Gefährdung katholischer Milieus in der Endphase der Weimarer Republik und in der NS-Zeit 2013. In: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 111 (2013), 311-312.
[4] OB: Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997.
[5] Ich nenne nur die Namen von Richard Faber; Lucia Scherzberg, Antonia Leugers; Wim Damberg; Thomas Ruster; Marcel Albert; und den Schwerdter Arbeitskreis zur Katholizismusforschung.
[6] OB stellt die Jahreszahlen 1917-1945 dar. Wenn aber die Franco-Diktatur in Spanien (beispielsweise) bis 1975 herrschte, warum endet die Epoche nicht später? Erst die Achtundsechziger haben die durchgreifende Sinnesänderung durchgesetzt – trotz der schon 1945/49 von außen eingeführten amerikanischen Form von Demokratie
[7] In dem etwas älteren Beck-Wissen Band von Christoph Strohm: Die Kirchen im Dritten Reich. München: Beck 2011 sind die protestantischen Positionen gut abgebildet, während gegenüber den katholischen das Urteil eher im Sinne der kirchenfreundlichen wiedergegeben ist.
[8] Die gründliche Studie von Oliver Arnhold ʺEntjudung” ‐ Kirche im Abgrund. Die Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen 1928 ‐ 1939 und “Entjudung” – Kirche im Abgrund. Das ʺInstitut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Lebenʺ 1939 – 1945. Berlin: Institut für Kirche und Judentum 2010 ist OB entgangen, s. meine Rezension http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/?s=Arnhold
[9] Der Rezensent hat ein Kapitel für ein Handbuch abgeschlossen, das sich in der Redaktion befindet und 2015 erscheinen soll. Bei der Ausarbeitung hätte ich gerne schon OBs Werk zur Hand gehabt.