Udo Bermbach: Houston Stewart Chamberlain. Wagners Schwiegersohn – Hitlers Vordenker.
Stuttgart, Weimar: Metzler 2015. [636 Seiten]. [1]
ISBN: 978-3-476-02565-4
Wagner, Protestantismus und Nationalsozialismus
Eine Rezension von Christoph Auffarth
Kurz: Der Titel fasst die schnellen Urteile über Chamberlain zusammen, im Buch ist das aber sehr differenziert dargestellt. Ein wichtiges Buch über die Traditionen, deren sich der NS bediente, aber die keineswegs direkt zu ihm führen.
Ausführlich: In England geboren, in einer Hugenotten-Familie in Frankreich (also einer protestantischen Minderheit in einer katholisch geprägten, aber laizistischen Umgebung) aufgewachsen, wurde Chamberlain einer der wichtigsten deutschsprachigen Schriftsteller um die Jahrhundertwende 1900. Er war der Vermittler des Rassegedankens in das Bildungsbürgertum. So bereitete er – eine Generation vorher – für die, die angewidert waren von den Radau-Nationalsozialisten, einen Weg der Akzeptanz insbesondere durch sein drei- bzw. zweibändiges Werk Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts,[2] das 1899 zugleich ein Rückblick auf das „deutsche“ Jahrhundert wie ein Vorausblick, eine Vergewisserung über das kommende Jahrhundert darstellen sollte.[3] Dadurch, dass er Richard Wagners Musik, Bühnen-Weihfestspiele und Antisemitismus verstärkte[4] und die jüngste Tochter des Komponisten heiratete, wurde er zum „Evangelisten der Rasse“.[5] Die Nationalsozialisten sahen ihn als Vorbereiter und genialen Verkünder ihrer Ideen. Aber die Unterschiede sind erheblich. Wagners Antisemitismus und die Bühnenfestspiele germanischer Mythen sind bei HSC protestantisch gebrochen. Hitler musste Chamberlain so einseitig rezipieren, um ihn als Vordenker des Nationalsozialismus benutzen zu können (Zur NS-Rezeption Chamberlains 553-613).
Das gilt insbesondere für die Konzeption der „Rasse“. Chamberlain war studierter und promovierter Biologe. Aber sein Verständnis ist gerade nicht biologistisch! Der Politikwissenschaftler Udo Bermbach[6] erklärt den Unterschied, indem er seine Konzeption vergleicht mit den Rassetheorien seiner Zeit (219-266): HSC gibt keine eindeutige Definition, sondern zwei: Zum einen sei – und hier folgt er eher der Sprachwissenschaft als der Naturwissenschaft seiner Zeit[7] (in HSCs vollständig erhaltener Bibliothek fehlen die einschlägigen Werke der biologischen Forschung, 244) – gebe es äußere biologische Kennzeichen, die vererbt sind wie Nasen, Hautfarbe, Augenabstand. „Chamberlain war bei der Gewichtung äußerer Merkmale für die Rassenzugehörigkeit sehr viel vorsichtiger. Er nahm sie mal mehr, mal weniger als definitionsentscheidend.“ (245) Wichtiger war für ihn das Bewusstsein: „Gewiss liegt das Germanentum im Gemüte.“ Germanen, soweit man das etwa im englischen Adel nachverfolgen kann, habe nicht alle blaue Augen, blondes Haar, lange Schädel, hochgewachsen. (Der Keller des Überseemuseums in Bremen ist voller menschlicher Schädel aus der ganzen Welt, aber die Suche nach eindeutigen äußeren Merkmalen zur Feststellung der Rassen hat nie zu einem Ergebnis geführt). So findet sich bei HSC immer wieder das Schwanken: Einerseits sei Germane, wer von einer Germanin abstammt, oder: Germane ist, wer das Bewusstsein des Germanen charakterlich zeige. Die Konzeption von Rasse ist nicht ein Urphänomen der reinen Rasse, sondern sie wird erzeugt durch charakteristische Blutmischung, durch die Umwelt und Inzucht. Rassen seien immer „gezüchtete Rassen“ (248).[8] Jede Rasse bringt auch eine eigene Religion hervor. Und hier findet sich nun ein wichtiger Schlüssel für HSCs Erfolg: Er bediente den ‚kulturellen Code‘ des Kaiserreichs: Antisemitismus,[9] Antikatholizismus[10] und das Lob des germanischen Protestantismus. Interessant, wie der berühmteste zeitgenössische Theologe, Adolf Harnack, darauf reagierte. Auf HSCs Goethe-Buch schrieb er begeisterte Zustimmung. Aber in einem Punkt äußert er schroffe Ablehnung: „Ihre antijüdische Polemik vom Standpunkt der Rasse. Sie sind wirklich von einem antijüdischen Dämon besessen, der ihnen den Blick trübt und ihr herrliches Buch mit einem Flecken entstellt. … Ich glaube nicht, dass die Vorsehung ein Schandvolk heraufgeführt hat.“ (Ausführliches Zitat des Briefes vom November 1912 S. 385).[11] Dass HSC die Legende von der Abstammung Jesu von Indogermanen vertritt, den arischen Jesus, hielten sogar Theologen für möglich, war aber eine kaum ernsthaft zu vertretende Meinung.[12] Die Antithesen der Bergpredigt („den Alten ist gesagt, … Ich aber sage euch …“) hielt man aber breit für eine Absage an die jüdische Gesetzes- und Ritual-Religion.
Baumbach hat ein gründliches Buch erarbeitet, das den ganzen Chamberlain vorstellt. Alle seine Bücher, seine Tagebücher, das Archiv, die zeitgenössische Kritik und Rezeption und eine Menge Forschungsliteratur sind verarbeitet. So wird deutlich, dass HSC nicht nur aufgrund seiner Rezeption durch die Nationalsozialisten interpretiert werden darf, sondern er als ein führender Vertreter des Kulturprotestantismus des Kaiserreichs verstanden werden muss. Ein wichtiges Buch, das die Unterschiede zu beachten verlangt: Nicht alles, was nationalsozialistisch klingt und von diesen vereinnahmt wurde, ist auch das Konzept, das ihre Politik und ihre Verbrechen vorbereitet oder vordenkt.[13]
Bremen, 21. Mai 2016 Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen
E-Mail: auffarth@uni-bremen.de
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[1] Rezension in Die Zeit vom Politikwissenschaftler Herfried Münkler http://www.zeit.de/2015/38/herfried-muenkler-houston-stewart-chamberlain (9.5.2016).
[2] In der zweibändigen Ausgabe umfasst das Werk xxxii, 1148 Seiten. Sehr gute Analyse bei Bermbach 89-218. 1944 erschien die 29. Auflage, einer der größten Bucherfolge vor dem Zweiten Weltkrieg! (172).
[3] Barbara Liedtke: Völkisches Denken und Verkündigung des Evangeliums. Die Rezeption Houston Stewart Chamberlains in evangelischer Theologie und Kirche in der Zeit des „Dritten Reichs“. Leipzig: Evangelische Verlags-Anstalt 2012.
[4] Wichtig die religionswissenschaftliche Analyse des “Mitleids“-Gedankens in Wagners Parsifal bei Ulrich Berner: Wagner und Bayreuth. Religion auf der Opernbühne? In: Adrian Hermann, Jürgen Mohn (Hrsg.): Orte der europäischen Religionsgeschichte. Würzburg: Ergon 2015, 185-207.
[5] So der reißerische Titel von Geoffrey G. Field: Evangelist of race: the Germanic vision of Houston Stewart Chamberlain. New York: Columbia UP 1981.
[6] Im Folgenden abgekürzt mit den Initialen UB. Er war 30 Jahre lang Professor für Politikwissenschaft in Hamburg, s. seine Homepage http://www.bermbach.de/main.html#home (10.5.2016).
Ebenso kürze ich mit den Initialen ab den Namen Houston Stuart Chamberlain mit HSC
[7] Die führende Rolle der Sprachwissenschaft für den Nationalismus der entstehenden Nationalstaaten hat Ruth Römer herausgearbeitet: Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland. München: Fink 1985, ²1989.
[8] Dass Race im Englischen, etwa auch bei Darwin, ungleich weniger grundsätzlich ist als der französische (über Gobineau und Ernest Renan vermittelt) und dann der deutsche Begriff, wäre zu beachten. Chamberlain denkt hier englisch.
[9] Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays. München: Beck 1990; ²2000.
[10] Manuel Borutta: Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. Ari Joskowicz: The modernity of others : Jewish anti-catholicism in Germany and France. Stanford, Calif.: Stanford UP 2014.
[11] Dass Harnack 1921 sein Buch über Marcion veröffentlichte, der doch die Hebräische Bibel aus dem Kanon der Heiligen Schrift der Bibel streichen zu müssen glaubte, ist nicht behandelt. Aber das wichtige Buch von Wolfram Kinzig mit dem Briefwechsel Harnack-HSC ist rezipiert.
[12] UB 125-128; 453-498. Das Thema ist umfassender im zeitgenössischen Kontext behandelt bei Oliver Arnhold, Kirche im Abgrund (Rezension auf dieser Seite: http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2011/08/04/entjudung-kirche-im-abgrund-von-oliver-arnhold/ [4.8.2011]) und Susannah Heschel: The Aryan Jesus. Christian theologians and the Bible in Nazi Germany. Princeton, NJ: Princeton UP 2008 – Die Legende beruht auf einer Unterstellung des heidnischen Philosophen Kelsos gegenüber Origenes (contra Celsum 1, 32); Wenn sie behauptet, Maria sei von einem römischen (also arischen) Soldaten Panthera schwanger geworden, so spielt mit dem Wort Parthenos Jungfrau: Wie anders konnte Maria schwanger werden, doch nicht als Jungfrau!
[13] Ein Versuch, die Religion des Dritten Reiches als Ganze zu beschreiben, jetzt Christoph Auffarth: Drittes Reich. In: Handbuch Religionsgeschichte des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, hrsg. von Lucian Hölscher, Volkhard Krech. (Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, hrsg. von Peter Dinzelbacher, Band 6/1) Paderborn: Schöningh 2015, 113-134; 435-449; Farbtafel I nach S. 320; Literaturverzeichnis 542-553