Deutscher Evangelischer Kirchentag. Wurzeln und Anfänge

Ellen Ueberschär (Hrsg.):
Deutscher Evangelischer Kirchentag. Wurzeln und Anfänge.

Gütersloh: GVH 2017. 297 S.

Demokratie von unten – aus evangelischer Verantwortung 1949

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Wichtiges Buch darüber, wie der Kirchentag die Öffentlichkeit schuf, um Wege aus der Diktatur in die Demokratie zu finden, indem die Evangelischen Verantwortung für den riskanten Weg in die Freiheit übernahmen.

Ausführlich: Auf solch ein Buch habe ich lange gewartet.[1] Der Deutsche Evangelische Kir­chentag (DEKT) ist ein Forum, auf dem all das diskutiert wurde und werden kann, was weder die Institution Kirche, aber auch nicht der Staat mir seinen Einrichtungen bieten kann. In Parla­ments­debatten geht es immer auch um Taktik, um die Gunst der Wähler in den nächsten vier Jahren, selten eine offene Debatte über Grundlagen und Grundsätze. All das ermög­lichte der DEKT. Nicht nur für Religion, schon gar nicht nur für Mitglieder. Ein Forum wurde geschaffen, in dem alle Meinungen geäußert werden können, zur Rede gestellt, im Widerspruch sich bewähren müssen. Und das liegt an seiner Gründung, seinen Wurzeln und den Erfahrungen der Anfänge. Das liegt an einer Vision, an der Gesprächsfähigkeit, an der Nachhaltigkeit seines Gründers, Reinold von Thadden-Trieglaff und seiner Mitstreiter.

Dieses Buch ist aber kein Jubiläumsbuch, kein Selbstlob, sondern von Historikern scharf beob­achtete Situation der ersten Jahre nach der Katastrophe und Untergang des Deutschen Rei­ches: Die evangelischen Kirchen waren nicht nur in Landeskirchen mit je ihrer Kirch­turm­politik getrennt. Die Kirchen waren durch den Nationalsozialismus tief verunsichert und gespalten. Viele der Pastoren und der Gemeinden hatten sich verrannt, wollten Vor­reiter sein des NS.[2] Andere hatten sich ent­schieden gegen diese politisierte Religion gestellt, die die Grundlage des Evangeliums aufgegeben hatte.[3] Und die Alliierten als Besatzer verlangten Demokratie. Das kannten die Evangelischen nicht, abgesehen von den wenigen Befürwor­tern der Weimarer Republik (wie Ernst Troeltsch, Martin Rade).

Die Einleitung von Ellen Ueberschär (langjährige Generalsekretärin des DEKT) zeichnet sehr differen­ziert einen Überblick: Auf der einen Seite die Landeskirchen, die um Seelsorge in Notzeiten nach­gefragt, ihr Personal neu sortierten, nicht auswechseln wollten, Männer in alte Positi­onen brachten, dabei Frauen, die im Krieg die Gemeinden versorgt und moralisch das Rückgrat gebildet hatten, wieder zurück stellten. Das von der Ökumene als Vorbeding­ung für Hilfe von außen geforderte ‚Schuldbekenntnis‘ leisteten sie widerwillig, Zusammen­schlüsse zu einer kirchlichen Dachorganisation nur aus äußerer Notwendigkeit. Auf diese Situation ohne Ziel und Zukunft traf ein erprobter Laie, der gerade seine Kirche verloren hatte. Sein Schloss (Triglaff) und seine frühere Landeskirche lagen jetzt in Polen. Mit der Vision einer Laienkirche, die nicht in den Institutionen der Kirchen sich aufrieb, sondern unter dem Wort Gottes den Aufbau des demokratischen Staates als evangelische Christen­heit bedachte und diskutierte, statt ihn als von außen aufgezwungen unter der Hand doch wieder als Kanzlerwahlverein zu organisieren. Neben den Müttern und Vätern des Grund­gesetzes erwies sich der DEKT als ein Vorbild an Umkehr und offener, demokratischer Meinungsbildung, eine „Institution in Permanenz“.[4]

Die Not der ‚Zusammenbruchsgesellschaft‘ ist in dem Kapitel von Martin Greschat (19-50) umfassend beschrieben. Die weiteren Kapitel fragen nach den Vorläufern für diese Beweg­ung, die kirchlichen Wochen in der NS-Zeit, die früheren Kirchentage (ganz anderer Ziel­setzung während der Weimarer Zeit; Martin Cordes 59-82). Wichtig aber der erste Kirchen­tag 1949 im ersten Aufbruch zu einer demokratischen Nationenbildung parallel zum Bundestag. Mit der Gründung der Inneren Mission entstand damals eine Institution an den Landeskirchen vorbei, die nicht der kirchlichen Hierarchie der jeweiligen Regionalkirche unterstand und in der gestandene Laien die Führung übernahmen. Jochen-Christian Kaiser zeichnet die – oft durch die Kirchengeschichte übersehene – Form der Selbstorganisation evangelischer Christen in Verbänden (83-103) als das, was wir heute Zivilgesellschaft nennen. Claudio Kullmann stellt den Katholischen Kirchentag daneben (104-131). Ob der allerdings ‚Vorbild‘ für den DEKT war, ist zu bezweifeln: Bei der ganz anderen Kirchen-Struktur, der Bischofs- und Klerikerkirche, stand die Laienbewegung noch in der Tradition der „Katholischen Aktion“,[5] erst die Revolution von oben, das Zweite Vatikanische Konzil 1962-1965, änderte daran etwas Grundlegendes. – Katharina Kunter berichtet (132-146) von der Hoffnung auf die erneuerte Laienkirche nach dem Krieg mit der Gründung der Ökume­ne, zu deren Exekutive in Genf dann Thadden von der EKD entsandt wurde. Andreas Busch beschreibt als Politikwissenschaftler, wie der Kirchentag zum forum politicum der jungen BRD wurde (147-168). Busch macht das an drei Personen fest: Gustav Heinemann, Hermann Ehlers und Heinrich Albertz. Wie sich einige wenige Universitäts-Theologen an den ersten drei Kirchentagen beteiligten, die doch in den Laien die Kirche verkörpert sahen, berichtet Thomas Kaufmann (169-182) mit einigen scharfen Zitaten. Ellen Ueberschär stellt die Rolle Martin Niemöllers in den Vordergrund, der fordert, dass Kirche eine politische Aufgabe zu erfüllen habe. Der Theologe Niemöller hatte als U-Boot-Kommandant im Ersten Weltkrieg das Befehlen, schnelle Entscheiden und Durchsetzen verinnerlicht, aufbrausend, kompro­miss­los, war das Gegenteil vom diplomatisch, möglichst alle ins Boot holenden Juristen v.Thadden. Niemöller war mit Dietrich Bonhoeffer der prominenteste evangelische Gegner Hitlers. Auf den Kirchentagen trat Niemöller, jetzt auch ‚Bischof‘ der Hessen-Nassau­ischen Kirche, aber „nicht als Kirchenkommandant“ auf (194). Gegen die Wiederbewaffnung der BRD (und damit Adenauers einseitige „Westbindung“) und für die Wiedervereinigung waren zwei starke Aussagen der Kirchentage. Heinemann zog die Konsequenz und trat von seinem Ministeramt in Adenauers Kabinett zurück. – Das Thema der sog. Vertriebenen und ihre Integration, war eines der großen Probleme, für die auf den Kirchentagen Lösungen diskutiert wurden. Claudia Lepp benennt führende Wortführer: Neben v.Thadden Hans Joachim Iwand, Heinrich Albertz [kein Verweis auf die Vorstellung desselben auf S. 162-166, kein Index] und Klaus von Bismarck. Müsste sich nicht unter den geänderten Verhältnissen die Kirche ändern, statt dass die Flüchtlinge ihre Identität aufgeben müssten? Müssten nicht die Alteingesessenen die Lasten der besitzlos Gewordenen mit tragen? Die lautstarke Forde­rung nach Rückgabe der ‚Ostgebiete‘ war Symbolpolitik, um eine notwendige Sozialpolitik zu verhin­dern.  Großartig die Rede v.Bismarcks auf dem Kirchentag 1954, lieber auf seine Güter in Pommern zu verzichten als zum Preis eines neuen Krieges, S. 216 zitiert. Die Mobi­lisierung von Öffentlichkeit bezeichnet Harald Schroeter-Wittke als ‚events‘ (220-253). Kirchentage als nicht-perma­nen­te, nicht-lokale Großereignisse sind eine andere Form von Vergemeinschaftung als die Kirch­turm­kirche, die Bürokratie der Oberkirchenräte, die abge­schlossenen Freikirchen, die Zeltmissionen à la Billy Graham (davon keine Rede!). Aber sind sie schon das, was dann in Köln der katholische Weltjugendtag 2005 mit dem über das Was­ser schwebenden Papst inszenierte? Für die frühen Kirchentage treffen die Kriterien kaum zu. Wertvoll ist der Beitrag, indem dort die Programme und Abläufe der Kirchentage von 1949 an dokumentiert sind. Den Abschluss bilden acht Kurzbiographien, darunter eine Frau.

Ein wertvoller Band umreißt eine Aufgabe, die wissenschaftlich m.W. noch nicht geleistet ist. Hier beschreiben und beurteilen Erfahrene die Kirchentage der frühen Fünfziger Jahre und die Schaffung einer Öffentlichkeit, die Meinung bilden konnte, ohne von der Kirchenleitung oder der Politik abhängig zu sein. Evangelisch traute sich endlich eine Stimme zu und fand zu freier Rede. Leider auch zu Pressemitteilungen, die Kontroversen und Eindeutiges wieder relativieren. Das macht die Kritik des Juristen Hans Dombois deutlich, die Lorenz Völker im letzten Kapitel (254—272) vorstellt. „Im Kirchentag fanden Menschen wie Hans Dombois ein Forum, ihre persönlichen Lernerfahrungen aus der Diktatur in eine wirkungsvolle, politische Öffentlichkeit zu tragen, die weit über die Möglichkeiten innerhalb der Kirche und der Uni­versität hinausgingen. Die selbst gesetzte Aufgabe des Kirchentages, den Protestantismus demokratiefähig zu machen, war attraktiv für Menschen wie Hans Dombois.“ (272). Ich gehe noch einen Schritt weiter: Der Kirchentag schuf erst eine Öffentlichkeit, die Demokratie praktizierte, und somit ein Forum schuf, die drängenden und grundstürzenden Fragen offen zu diskutieren. Damit machte der DEKT die Demokratie zu einem nicht von den Alliierten aufgezwungenen, sondern zu einem selbst gewollten Wert und Gelegenheit, sie zu erproben. Christentum als gelebter und erprobter Prozess, nicht mehr als festgelegte Wahrheit, die noch kurz zuvor mit dem Unrechtsstaat paktiert hatte.

Christoph Auffarth

Religionswissenschaft

Universität Bremen

 

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Vgl. meine Rezension Religionsgeschichte Deutschlands seit 1945:  Religion hat ihren Ort nicht mehr im Himmel. Rezension zu  Thomas Großbölting, Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945, 2013.  http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2013/11/28/der-verlorene-himmel/ (28.11.2013).

[2] Die Deutschen Christen hatten eine aktive, aber zahlenmäßig eher schmale Bewegung gebildet, in der Pfarrer eine kleine Minderheit bildeten. Aber umgekehrt: Unter den rund 18 000 evangelischen Pfarrern waren etwa ein Drittel bei den DC. – Die Zahlen begründet bei Doris L. Bergen: Die Deutschen Christen 1933-1945: ganz normale Gläubige und eifrige Komplizen? In: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), 542-574.

[3] Christoph Strom: Die Kirchen im Dritten Reich. München: Beck 2011; ²2017.  Christoph Auffarth: Drittes Reich. In: Handbuch Religionsgeschichte des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, hrsg. von Lucian Hölscher, Volkhard Krech. (Handbuch der Religionsgeschichte im deutsch­sprachigen Raum, hrsg. von Peter Dinzelbacher, Band 6/1) Paderborn: Schöningh 2015, 113-134; 435-449; Farbtafel I nach S. 320; Literaturverzeichnis 542-553.

[4] So Gustav Heinemann 1949, zitiert S. 156.               

[5] So sagt der Autor S. 114 m.E. richtig: „Ihr Selbstverständnis entsprach ganz der ‚Katholischen Aktion‘. Dieser Begriff beschreibt eine, vor allem durch das Wirken Papst Pius XI. seit seinem Amtsantritt 1922 vorangetriebene Sammlung der katholischen Laien zum Zweck der Mitgestaltung der Welt – unter Aufsicht der Bischöfe versteht sich.“ Wie diese in Italien zur Stütze des Faschismus wurde, beschreibt David Kertzer: Der erste Stellvertreter Gottes. Darmstadt: Theiss 2016. Das war in Deutschland in der NS-Diktatur anders, vgl. Kullmann S. 126.

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