Peter Schäfer: Zwei Götter im Himmel: Gottesvorstellungen in der jüdischen Antike.
München: Beck 2017.
ISBN 978-3-406-70412-3
gebunden 25 €
Daniel Boyarin: Die jüdischen Evangelien. Die Geschichte des jüdischen Christus.
Mit einem Geleitwort für die deutsche Ausgabe von Johann Ev. Hafner und einem Vorwort von Jack Miles.
Übersetzung von Armin Wolf. (Judentum – Christentum – Islam 12) Würzburg: Ergon 2015.
ISBN 978-3-95650-098-5; gebunden 25.00 €
Gottes Sohn – auch in einer jüdischen Tradition
Eine Rezension von Christoph Auffarth
Kurz: Zwei Bücher einer Debatte: Nicht nur dass Jesus ein geborener Jude sei, sondern die christliche Lehre vom Gott Vater und Gott Sohn hat ihre Wurzel in der jüdischen Tradition.
Ausführlich: Das Buch von Daniel Boyarin begründet eine aufregende These, die seine früher geäußerte Idee noch weiter an der Wurzel beschreibt. Boyarin ist ein Rabbi und Professor in den USA.[1] In dem Buch Borderlines machte er deutlich, dass die Vorstellung von den zwei Religionen Judentum und Christentum, deren Wege sich früh schon trennten, offenbar so nicht zutrifft.[2] Noch lange gab es, so seine These, fließende Übergänge zwischen den Gemeinden; ein eigenständiges Judentum, das sich auch als eine einheitliche Religion verstand, gehört im Wesentlichen in die Zeit, in der das Christentum sich ein gemeinsames Glaubensbekenntnis gab,[3] das dann auch durchgesetzt wurde. Also erst gab es das Christentum, erst danach verfestigte sich ‚das‘ Judentum. Diese These nun weiter verfolgend will DB in den neuen Buch nachweisen: Nicht nur Jesus war ein Jude und ist ganz im Judentum beheimatet. „Verwurzelt“ würden heute wohl alle zustimmen, aber „beheimatet“ ist schon umstritten. Boyarin geht aber viel weiter: Auch die Christologie, also dass Jesus Gottes Sohn und in seinem Menschsein auch Gott sei, das schien bisher die Scheidelinie. So hat es etwa Gerd Theißen in seinem Buch Die Religion der ersten Christen 2000 bestimmt.[4] Jüdisch sei undenkbar, dass ein Mensch ‚heilig‘ und Gott sein könne. Das stehe im Widerspruch zum jüdischen Monotheismus. Boyarin widerspricht mit der Auslegung von Daniel 7: Dort ist von dem ‚Hochbetagten‘ (Gott) die Rede, der (einen zweiten) Thron aufstellen lässt und einen Jungen darauf beruft, den er den „Sohn des Menschen“ nennt.[5] Boyarin sieht den Text einerseits als in der Tradition eines altorientalischen Mythos stehend, andererseits als Vorweiser auf den Christus als einen zweiten Gott. Im Mythos von Ugarit gibt gerade der alte Gott ͗El seine Macht ab zugunsten des jungen Gottes Ba̔al: ͗El sei im südlichen Juda gleich Jhwh, der junge Gott noch namenlos, später der messianische Menschensohn im ersten Henochbuch, zum Jesus des NT und zum Metaron in der Hekhalot-Literatur. Schäfer korrigiert und differenziert Boyarins Deutung (25-30): Erstens ist nicht von einem zweiten Thron die Rede, sondern von Thronen die Rede, auf der (eher) Richter Platz nehmen für das folgende Gericht über die vier Tiere und den schrecklichen Drachen mit den zehn Hörnern. Dann identifiziert er den alten ͗El mit Jhwh, während der, „wie ein Sohn des Menschen mit den Wolken kommt“, einen Engel darstelle, wahrscheinlich der Erzengel Michael (als Personifizierung bzw. Schutzengel Israels Exodus 23), dort auch die „Heiligen des Höchsten“ oder „der höchste Heilige“ genannt werden. Nach dem Danielkapitel analysiert DB Menschensohn-Aussagen bei 1. Henoch und 4. Esra, während er die Kapitel über den leidenden Menschsohn in den Evangelien Markus 8,28; Markus 9, 11-13 gegenüber den in Matthäus auf Jesus angewendeten Versen aus Jesaja 53 vom ‚leidenden Gottesknecht‘ als Midrasch (Kommentierung und Übertragung auf aktuelle Geschehnisse) versteht. Ein kühnes und provozierendes Buch.
Das Buch ist äußerst sorgfältig aus dem Amerikanischen übersetzt, kompetent in den Begriffen, die der Übersetzer Armin Wolf zudem oft noch im Original dahinter setzt, in allen Zitaten noch einmal überprüft und mit dem Verfasser besprochen. Ein sehr differenzierter Index erschließt das Buch.
In Auseinandersetzung mit Boyarins Thesen und in Fortführung seiner eigenen[6] hat Peter Schäfer sein Buch Zwei Götter im Himmel geschrieben. Er beginnt mit der gleichen Vision im Danielbuch und vergleicht sie mit den Texten aus Qumran (dort werden die Engel als Elim, Götter, bezeichnet), Henoch, 4. Esra und Philo (23-71). Durchaus anders interpretiert, wie schon gesehen. (In beiden Büchern ist nicht Ezechiels ‚Menschensohn‘ behandelt, der etwa in Ez 37, 9 die Auferstehung der Toten durchführt). Diese zwei Götter nennt er auch binitarische Gottesvorstellung (im Unterschied zu der viel späteren Trinitarischen Lehre im Christentum einerseits, dem Dualismus zweier antagonistischer Götter andererseits). In einer Überleitung begründet er, warum er weiter geht „vom vorchristlichen zum nachchristlichen Judentum“ 73-75.[7] Während viele Judaisten denken, mit der Vereinnahmung der binitarischen Gottesvorstellung durch die Christen sei diese Idee im rabbinischen Judentum verworfen worden, will PS jedoch in der zweiten Hälfte des Buches zeigen, dass dies zwar zweifellos für die Mehrheit zutrifft, aber einige Rabbinen doch die zwei Götter im Himmel weiter dachten.[8] Dabei sieht er den Unterschied zwischen den palästinischen Auseinandersetzungen (die sich im Jerusalemer Talmud zeigen) und denen in Babel (wie sie der babylonische Talmud bezeugt), der sich in einer ganz anderen Konstellation von Juden und Christen darstellt. Etwa bei der Interpretation des jungen Kriegsgottes, der im Exodus die Truppen des Pharao besiegt (Miriam-Lied Exodus 15) und dem alten Gott, der Moses die Zehn Gebote übergibt (78-88). Im babylonischen Talmud dagegen wird David (gemeint ist der künftige Messias) als der ‚junge Gott‘ von Daniel 7 erwogen und dann abgelehnt. Bestätigung der Auslegung findet PS in der Interpretation der Stelle bei Ephrem dem Syrer und Johannes Chrysostomos. Dann zeichnet PS die nachbiblische Henoch-Tradition nach mit ihrem kleinen Gott Metatron 109-149. Henoch war ein Patriarch vor der Sintflut, der ‚mit Gott wandelte‘ und ohne zu sterben in den Himmel aufgenommen wurde; so weiß er alle Geheimnisse der Welt. Eine große Zahl von Büchern beruft sich auf Henoch, wenn sie die Geheimnisse der Welt und ihrer Zukunft enthüllen (Das Wächterbuch, erster bis vierter Henoch, Jubiläen), alle sind sie nicht in die Bibel aufgenommen worden, also apokryphe Apokalypsen. Im dritten Henoch wird Henoch zum höchsten Engel Metatron und damit zu Gottes Stellvertreter eingesetzt. Die Rabbinen verwerfen Henoch als Frevler, Christen hingegen beginnend mit dem Hebräerbrief 11,5 setzen ihn mit Christus gleich. Die Rabbinen diskutieren die zwei Throne im Himmel von Daniel 7:[9] Was kann damit gemeint sein, wenn nicht zwei Götter? Ein Rabbi setzt Gottes Barmherzigkeit und Gerechtigkeit darauf, also Eigenschaften des einen Gottes.
Bleibt die Frage: Was ist der Unterschied zwischen dieser spät-alttestamentlichen Vorstellung von zwei Göttern im Himmel und der Christologie? PS hebt hervor, dass es gravierende Unterschied gibt, v.a. in der grundlegenden christologischen Idee, dass der jüngere Gott auf die Erde kommen muss, also nicht nur die Erhöhung in Daniel 7, sondern auch die Erniedrigung (etwa im Philipper-Hymnus 2, 6-11) Damit ist Peter Schäfer ein ganzes Stück über die aufregende Interpretation von Daniel Boyarin hinausgekommen. Das binitarische Gotteskonzept ist nicht eine durchgängige jüdische Tradition seit der Sesshaftigkeit bis in die Spätantike. Vielmehr eine Vorstellung einer Minderheit, beginnend im Hellenismus (Daniel 7), die heftigen Widerspruch vor allem der babylonischen Rabbinen hervorrief. Dennoch: beide Bücher sind lesenswert. Wie auch weiterhin Martin Hengels Sohn Gottes.[10]
Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen 19.9.2017
E-Mail: auffarth@uni-bremen.de
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[1] Im Folgenden mit den Initialen abgekürzt DB. – Peter Schäfer dann als PS.
[2] Daniel Boyarin: Borderlines [2004] in Übersetzung: Abgrenzungen. Die Aufspaltung des Judäo-Christentums. Berlin 2009. CA: [Rezension] Antike Juden und Christen streiten in Hörweite: Daniel Boyarins Borderlines auf Deutsch: Abgrenzungen. Die Aufspaltung des Judäo-Christentums 2009. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2010/10/20/abgrenzungen-die-aufspaltung-des-judao-christentums-von-daniel-boyarin/ (20.10.2010).
[3] Also im Wesentlichen auf dem Konzil von Nikaia/Nizäa AD 325. Zu den „Christentümern“ davor, also der Vielfalt von lokal aufgestellten Gemeinden, siehe CA: Die frühen Christentümer als lokale Religion. Zeitschrift für Antikes Christentum 7(2003), 14-26. Dringlich ist eine Klärung, wie es zu dem unter Christen geradezu zwanghaften Streit um „Wahrheit“ vs. „Häresie“ kam. Dazu (demnächst) meine Rez. zu Rottenwöhrer mit dem Hinweis auf Yve-Michel Perrin’s Buch zu diesem Thema.
[4] Gerd Theißen: A Theory of Primitive Christian Religion. London: SCM 1999; dt. Fassung Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums. Gütersloh: GVH 2000; 42008. Zur Diskussion Peter Lampe; Helmut Schwier (Hrsg.): Neutestamentliche Grenzgänge: Symposium zur kritischen Rezeption der Arbeiten Gerd Theißens. (NTOA 75) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010.
[5] Ein wichtiger Meilenstein in der Erforschung dieses durchaus nicht eindeutig zu bestimmenden Titels war Carsten Colpe: υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου. ThWNT 1969. Zum Titel „der höchste Gott“ hypsistos Theos, eine ordentliche Zusammenstellung https://de.wikipedia.org/wiki/Theos_Hypsistos.
[6] Besonders Peter Schäfer: Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums. 2010. Meine Rezension Geburten und Geschwister. In: https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2010/08/19/die-geburt-des-judentums-aus-dem-geist-des-christentums-von-peter-schafer/ (19.8.2010; weitere Bücher des Autors sind auf der gleichen rpi-Seite besprochen). Dort auch zum Autor, den ich im Folgenden mit den Initialen PS abkürze.
[7] Die Formulierung ist wenig gelungen: nachchristliches Judentum will ja nicht sagen „nach dem Ende des Christentums“, sondern will sagen, nachdem im Neuen Testament christliche Autoren die Rede vom Menschensohn exklusiv auf Christus bezogen haben. Also nach der Entstehung der christlichen Lehre. Ansonsten ist das Buch sehr gut lektoriert und mit Indices für Stellen, Personen und Sachen ausgestattet.
[8] Der zweite mit dem sich PS besonders intensiv auseinandersetzt (und umgekehrt), Menachem Kister, lehnt es ab, dass die Rabbinen theologisch denken; sie arbeiteten ausschließlich an der Auslegung des Bibeltextes (S. 107) und nähmen deshalb keinerlei Bezug auf die christliche Theologie.
[9] Babylonischer Talmud, Hagiga 14a (übersetzt PS, Zwei Götter 89f)
[10] Tübingen: Mohr 1975, ²1977.