Handbuch schweizerische Reformation

Amy Nelson Burnett und Emidio Campi (Hrsg.):
Die schweizerische Reformation. Ein Hand­buch

Deutsche Ausgabe / im Auftrag des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes
bearbeitet und herausgegeben von Martin Ernst Hirzel und Frank Mathwig

Zürich: Theo­logischer Verlag Zürich [2017]
740 Seiten
ISBN 978-3-290-17887-1
Festeinband. 80 €

Eine alternative Reformation:
Ein Handbuch über die Schweizer Reformierten

Eine Rezension von Christoph Auffarth


Kurz
:
Herausragendes Handbuch zu einer weniger bekannten, aber neben der lutherischen und der Calvinistischen Reformation nicht minder wichtigen Reformation.

 

Ausführlich:
Die Schweizer Reformation, ausgehend von Zürich (mit Zwingli) und später Genf (mit Jean/Johannes Calvin) hat ‚die‘ Reformation mindestens so intensiv angestoßen und geformt in den Auseinandersetzungen wie die von Wittenberg (mit Luther) ausgehende Dynamik und nicht zu vergessen die Straßburger Reformation mit Martin Bucer[1]  – jedenfalls wenn man die Reformation als ein Europäisches, ein globales Ereignis begreift[2] und nicht nur als den Beitrag der neuen Bundesländer zur deutschen Identität. Fast am Ende des Reformati­onsjubiläumsjahres erscheint nun die deutsche Ausgabe des bereits auf Englisch veröffent­lichten Companion to the Swiss Reformation. Leiden: Brill 2016. Ein großartiges Buch!

Dass das Buch erst auf Englisch erschien, liegt daran, dass sich viele amerikanische Kirchen gerade von der Schweizer Reformation herleiten: die Puritaner, Calvinisten, Baptisten, Men­noniten, die Pfingstler. Was in den USA zum Thema geforscht wird, ist in dem Handbuch voll aufgenommen. Auch mit Beiträ­gen amerikanischer ForscherInnen, der Her­ausgeberin Amy Nelson Burnett.[3] Freilich ist auch die historische Frage nach der Herleitung, der Konti­nuität scharf gestellt.[4] So wendet sich Andrea Strübind in ihrem Beitrag Das Schwei­zer Täu­fertum (395-446) gegen solche Vereinnahmung, etwa mit dem Gründungsdatum der täuferi­schen Kirche im Schleitheimer Bekenntnis 1527. In der Auseinandersetzung mit, bald der Unter­drückung, der Verfolgung, der Ausrottung der Täufer entscheiden sich zwei grund­legende Entscheidungen der dann siegreichen Form der Reformation: Das Schrift­prinzip und die Utopie der evangelischen Kirche. Die Täufer halten sich an die Schrift, die keine Kinder­taufe kennt, die den Eid verbietet,[5] die den Kriegsdienst ablehnt. Das stellt die Funktion der staatlichen Ordnung in Frage. Eide waren die Grundlage jeden Vertrages in einer Gesell­schaft, die noch weitgehend ohne schriftliche Akten funktionierte. Kriegsdienst war die grundlegende Bürgerpflicht, wenn Kriege fast alljährlich waren. Die Kindertaufe aber betrifft die Religion als verbindende Grundlage der gesamten Gesellschaft. Entschieden sich die Reformatoren in Zürich und Wittenberg dazu, dass jeder und jede mit der Säuglingstaufe Christin und Christ wird, so zeigte sich für die Täufer das Christsein im aktiven Kampf für eine ent­schiedene christ­lich-politische Gemeinde (Das ist mehr als Strübinds ‚separierte Kirche‘). Die unerbittliche Verfolgung der Täufer durchzieht die Reformationen an allen Orten als er­schreckend blutiger Faden. Das Handbuch ist kein Jubiläumsbuch, das, sich selbst bestäti­gend, fragt, was hat die Moderne gewonnen durch die Reformation? Diese Fragestellung rückt das Kapitel über Gescheiterte Reformationen zurecht. Sundar Elenny zeigt, wie Refor­mation meist als Aufbruch in die Neue Zeit gewertet wird, wo die Ideen ausge­sprochen und in praktisches Verhalten kanalisiert wurden, die grundlegend wurden für die Verfasstheit der modernen demokratischen Gesellschaft. Nein, Reformation hat auch ihre Schattenseiten, die besonders an der Verfolgung der Täuferbewegung sichtbar wird. Sich ihr anzu­schließen war auch in der Gemengelage der Interessen eine riskante Entscheidung. Zürich sieht sich eine Zeit lang weitgehend isoliert, weil sie eine der wichtigsten Einnahmequellen der Schweizer in Frage stellt: das Kriegshandwerk, für dessen Fertigkeiten Schweizer überall gesucht war, etwa die Schweizer Garde im Vatikan.

Etwas die Erwartungen durchkreuzend ist die Entscheidung, die Genfer Reformation nicht eigens darzustellen. Begründet ist der Ausschluss damit, dass Genf eine eigenständige Stadt war, die zu der Zeit nicht zur Eidgenossenschaft gehörte. Also müsste der Titel des Hand­buchs Reformation in der Eigenossenschaft heißen. Aber die Genfer Reformation ist, wenn auch nicht in einem eigenen historischen Kapitel dargestellt, in den meisten Kapiteln mit einbezogen. Vor allem ist sie Thema des Kapitels XI. Das theologische Profil, wo der Nestor der schweizerischen Reformationsforschung Emidio Campi (449-493) das Gemeinsame der refor­ma­torischen Bewegungen ebenso herausarbeitet wie die Differenzen. Das ist eine meister­hafte Zusammenfassung, die aus einer langjährigen ins Detail gehenden Forschung heraus treffende Zitate und Bewertungen gibt. So genau und im Überblick liest man das in deut­schen Reformationsgeschichten nicht. Zwingli erweist sich als der Humanist, der die Texte im Original auswendig kennt, besser als Luther und Melanchthon ebenbürtig. Die Frage, wie Menschen das Heil erlangen – ohne Vorleistung, vereint die Reformationen. Aber Zwingli aus seiner Erfahrung als Bürger der Stadt Zürich verlangt: „Die christliche Stadt ist nichts anderes als die christliche Kirche“ und umgekehrt. Die sichtbare Kirche als communio sanc­torum („Ge­mein­schaft der Heiligen“ ist nicht mehr im katholische Sinne Gemeinschaft mit den – uner­reich­baren – Heiligen, die für die normalen Menschen den Überschuss an Heil erworben haben)[6] ist Teil der geglaubten Kirche, der Gemeinschaft mit Gott, nicht erst im Himmel­reich, d.h. nach dem Tod und im Jenseits. Ganz anders als Luthers Zweireiche-Lehre und die Fürsten als ‚Not-Bischöfe‘. Kernstück ist die Theologie des Bundes Gottes mit den Menschen, unaufgekündigt der Alte Bund. Dazu gehört auch die berüchtigte Differenz im Verständnis des Abendmahls.[7] Das Kapitel ist ein Muss für jeden, der sich mit Reformation beschäftigt.

Etwas aus den gründlichen und umfassenden Kapiteln sei angefügt – im Rahmen einer Rezension kann ich vieles nur erwähnen, was ich des Lesens, Erkennens und Merkens wert fand. Ich kann das Handbuch nur empfehlen; es durchzuarbeiten ist der Mühe wert. Wie die Eidgenossenschaft sich als selbstbestimmte Herrschaft vom Reich emanzipierte, bevor es zur Reformation kommt, erklärt Regula Schmid (27-68). Die Reformation in Zürich, nachahmens­wertes oder abschreckendes Vorbild für die anderen Städte und ländlichen Eidgenossen, beschreibt Emidio Campi (71-34), die andere große Stadt Bern Martin Sallmann (135-178); dazu deren Ausgreifen auf die benachbarten ländlichen Gebiete im französisch-sprachigen Teil, wo Bern in den Einflussbereich von Genf eingreift (Michael Bruening (367-394). Neben Schaffhausen, (Erich Bryner, 225-244) St. Gallen mit seinem katholischen Kloster und Appen­zell (Bryner, 245-270)[8] und dem ländlichen Graubünden (Jan-Andrea Bernhard, 301-366) spielt eine besondere Rolle die Reformation in dem als Humanistenhauptstadt bekannten Basel. Die teils besonders heftige soziale Bewegung dort und die unter strenger wissen­schaftlicher Beobachtung stehende Theologie beschreibt eingehend Amy Nelson Burnett (179-224). Den historischen Kapiteln schließen sich Querschnittsthemen an: Neben dem schon genannten zum theologischen Profil von Emidio Campi eines über das Gemein­wesen und Gottesdienst (Bruce Gordon, 495-526), über das Schulwesen (Karin Maag, 527-548), die Familie, die Geschlechterrollen und die Armen (Kaspar Greyerz, 549-572). Irma Backus ver­sucht ein Kapitel über „Reformationskultur“, wo es um Prophetie,[9] Zauberei und das fromme Leben geht (573-594). Den Abschluss bildet ein historischer Überblick über die Eid­genossenschaft als ‚Republik‘ unter den Monarchien der Reformationszeit bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieg von Thomas Maissen (595-623). Gute Verzeichnisse der Forschungs­­literatur, der Personen, Orte und sehr differenziert der Sachindex erschließen den Band. Ein besonderes Lob verdienen die farbigen Abbildungen im Text in großem Format mit zeitgenössischen Dokumenten. Der Band ist für den häufigen Gebrauch ausgezeichnet gebunden in Faden­heftung, so dass man die Seiten ganz aufschlagen kann.

Das Buch verlangt einige Anstrengung, es mit seinen Fachbegriffen durchzuarbeiten. Aber wer es getan hat, weiß nicht nur über die Reformationen in der Eidgenossenschaft (auf der Grundlage der Ausgabe der Werke und Briefwechsel einiger Theologen) viel mehr, sondern versteht auch die Reformation besser. Reformation ist hier nicht mehr verstanden als ein kognitiver Prozess, sondern mit Blick auf die Veränderung in allen Lebensbereichen. Denn ohne die Auseinandersetzung mit den Schweizern, ihren eigenen Weg, theologisch und politisch, hätten Reformationen in deutschen Gebieten und Städten nicht deren Alternativen vor Augen gehabt. Für jeden an der Geschichte (nicht nur der Kirchengeschichte) Interessier­ten ein großer Gewinn.

 

  1. März 2018

    Christoph Auffarth
    Religionswissenschaft
    Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

———————————————————————————————————————–

[1] Die „Polyzentrik“ der Reformation oder das gemeinsame Ziel der Reformationen hat Irene Dingel: Die Geschichte der Reformation. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2017 herausgearbeitet.

[2] Das neue Handbuch, das Christentum als eine globale Geschichte darstellt, ist besprochen auf dieser Internet-Seite: Jens Holger Schjørring; Norman A. Hjelm (Hrsg.): Geschichte des globalen Christen­tums. Erster Teil: Frühe Neuzeit. 2017. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2018/03/02/geschichte-des-globalen-christentums/ (2.3.2018).

[3] Sie schrieb ihre Dissertation über die Reformation in Basel und lehrt in Nebraska. Weiter sind beteiligt der Yale-Professor Bruce Gordon, Karin Maag vom Calvin College in Grand Rapids. Michael Bruening an der Missoury Universität. Internationalität garantieren auch die Genfer Reformations­historikern Irena Backus und die Deutschen Andrea Strübind an der Universität Oldenburg und der Historiker Thomas Maissen, Direktor des DHI in Paris. Das Verzeichnis der AutorInnen S. 697f.

[4] Die Frage nach der „Kontinuität“ hat sich vielfach als eine spätere Konstruktion erwiesen, die in Wirklichkeit eine „Erfindung von Tradition“ ist: the invention of tradition.

[5] Jesus in der Bergpredigt Matthäus 5, 33-37: „Schwört nicht! … Euer Ja sei ein Ja, Euer Nein ein Nein! Alles andere stammt vom Bösen/Teufel“. (Einheitsübersetzung).

[6] Christoph Auffarth: Irdische Wege und himmlischer Lohn. Kreuzzug, Jerusalem, Fegefeuer. Göttingen: (VMPIG 122) Vandenhoeck&Ruprecht 2002, 174-198.

[7] Das schärfen die Schweizer Reformatoren in der Badener Disputation mit den Altgläubigen, dazu meine Rezension: Das Wort und nicht das Schwert des Scharfrichters soll entscheiden! Die Diskussion um die Reformation 1526. Die Badener Disputation von 1526. Kommentierte Edition des Protokolls. Hrsg. von Alfred Schindler und Wolfram Schneider-Lastin. 2015. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2016/03/19/die-badener-disputation/ (19.3.2016).

[8] Grundlagenarbeit für die Liturgiereformen und den Umbruch in der Frömmigkeit hat Alfred Ehrens­perger geleistet. Dazu meine Rezension: Bildersturm und neue Rituale: Reformation als Revolution der Sinne: Alfred Ehrensperger: Der Gottesdienst in Stadt und Landschaft Bern im 16. und 17. Jahrhundert. 2011. Alfred Ehrensperger: Der Gottesdienst in der Stadt St. Gallen, im Kloster und in den fürstäbtischen Gebieten vor, während und nach der Reformation. Zürich: TVZ  2012. 502 S. [Geschichte des Gottesdienstes in den evangelisch-reformierten Kirchen der Deutschschweiz 1-3] http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2013/03/29/ehrensperger-reformation/ (29.3.2013).

[9] Hier wäre die diachrone Fragestellung einzubeziehen, die Jan Bremmer (Prophets, Seers, and Politics in Greece, Israel and Early Modern Europe, in: Numen 40(1989), 150-183) herausgearbeitet hat: Das Schriftprinzip (Gottes Wort ist Schrift) widerspricht neuen Offenbarungen Gottes durch heutige Propheten.

 

Schreibe einen Kommentar