Bernd Nicolai; Jörg Schweizer (Hrsg.):
Das Berner Münster. Das erste Jahrhundert:
Von der Grundsteinlegung bis zur Chorvollendung und Reformation 1421-1517/1528.
Regensburg: Schnell + Steiner 2019.
647 Seiten. 582 durchgehend farbige Illustrationen.
ISBN 978-3-7954-3428-1.
79 €
Die Berner leisten sich im 15. Jahrhundert eine kostbare Kirche
Eine Rezension von Christoph Auffarth
Kurz: Das Berner Münster galt als ein mittelmäßig rückschrittliches Bauwerk. Das neue, hervorragend illustrierte Buch zeigt in umfassenden Beiträgen, dass diese Kirche im Gegenteil vorbildlich für spätmittelalterliche Kirchenarchitektur und -ausstattung war.
Ausführlich: Zu den gerne unternommenen Spaziergängen in dem Jahr meiner Lehrstuhlvertretung in Bern gehörte der Gang durch die Laubengänge der Stadt auf dem Sporn der Aare-Schleife zum Münster und der Plattform, die einen den freien Blick auf den Fluss tief darunter und auf die Berner Alpen erlaubt: ein herrlicher Bau in einer beeindruckenden Landschaft. Bei Renovationen eben dieser Plattform fand sich vor Jahren eine Fülle von Statuen, die die reformierten Bilderstürmer 1528 zertrümmert und als Fundament des Belvedere zugepflastert hatten (89+Anm 34). Daraus wurde eine großartige Ausstellung über die Bilderstürme der Reformation gestaltet.[1] Aber gleichzeitig weist der Fund daraufhin, dass das Münster innen belebt war, nicht nur die westliche Eingangshalle.[2]
Für die „Schweizer Kunstdenkmäler“ hat Luc Mojon 1960 eine umfassende Monographie über das Berner Münster zusammengestellt.[3] Darin bewertete er das Werk als das „provinzielle, abseits der großen Strömungen liegende Monument, eher Endpunkt denn Aufbruch“ (7), den Meister Matthäus Ensinger nur noch als schwachen Epigonen seines Vaters Ulrich, einen der Meister des Straßburger Münsters mit seiner Fassade und dem fast einzigen im Mittelalter vollendeten Turm.[4] Auch der himmelstrebende filigrane Turmhelm am Berner Münster ist erst Ende des 19. Jahrhunderts gebaut, 1891-93. Die jetzige Meisterin der Dombauhütte, Annette Loeffel, zeigt in ihrem Beitrag, wie wenig vom mittelalterlichen Bestand der Kirche noch original erhalten ist (12-37; die eindrucksvolle Grafik S. 15), mehr aber noch, dass beim Austauschen der Steine oft nicht ein gleicher Stein als Ersatz gehauen wurde, sondern der Bau ‚gotisiert‘ wurde, nämlich nach dem Bild, das sich das 19. Jahrhundert von der Gotik gemacht hat.[5] Heute sucht man, die Steine zu konservieren, nicht mehr zu ersetzen.
Der Beitrag von Richard Nĕmec, die Berner Pfarrkirche 46-65, macht zweierlei deutlich: Der Neubau wollte der Stadt das Prestige erwerben, die ihrer politischen und Einwohnergröße entsprach. Das Konstanzer Konzil 1414-1418 hatte die ganze lateinische Welt zusammengebracht; man erfuhr dort, welche Architektur gerade angesagt, welche als die besten Architekten galten. Als dreischiffige gotische Basilika mit Einsatzkapellen ermöglichte der Bau den großen Berner Familien eigene Altäre zu stiften, gleichzeitig war die Finanzierung durch den großen Ablass des Papstes als fundraising-Instrument möglich. Dazu gehören aber auch Eigentumsrechte. Denn als die Stadt 1191 gegründet wurde, konnte die Stadt nur eine Filiale der Pfarrkirche von Köniz bauen, einem Dorf südöstlich (Die beiden Vorgängerbauten sind aufgrund der Funde von Luc Mojon 1960 (s.S. 70) im folgenden Beitrag von Armand Baeriswyl und Jürg Schweizer 67-81, der Friedhof 82-91 auf der enormen Plattform beschrieben. Sehr instruktiv die Bauphasen in der Abbildung S. 69 und 92). Die Patronatsrechte wurden in der Papsturkunde nun auf die Stadt Bern übertragen, die zwischenzeitlich dem Deutschen Orden gehört hatten (83). Endlich hatte die Stadt eine eigene Pfarrei. Die vielen Berner Wappen zeugen von neuem Selbstbewusstsein. Schon einige Zeit vor der eigentlichen Grundsteinlegung 1420 müssen entscheidende Vorarbeiten unternommen worden sein: Länge, Breite, Münsterplatz und Friedhof brauchten Platz. Alexandra Druzynski von Boetticher führt durch die mittelalterlichen Bauphasen, die sich am heutigen Bau des Berner Münsters ablesen lassen, mit vielen Photos, Rekonstruktionen und Auf- und Grundrissen bis hinauf in die Dachstühle (92-157; in größerem Format sind die Risse auch beigelegt). In weiteren Kapiteln erklärt sie die herausfordernde Bauaufgabe des Chor-Abschlusses (315-341) und schließlich den Westabschluss des Münsters (557-585), Westvorhalle mit dem Weltgerichtsportal und die ersten Geschosse des Turms. Zu vergleichen ist die Marienkirche in Reutlingen, ebenfalls Einturmfassade mit drei Portalen. Peter Völkle erklärt die Steinbearbeitung mit unterschiedlichen Werkzeugen, woher die Steine stammen und wie sie transportiert wurden (158-185 sowie die Steinmetzzeichen 186-195). Die farbige Fassung des Innenraums (neben den Glasfenstern) ist nur noch an Spuren erkennbar, die Jürg Schweizer untersucht 196-207). Für die Datierung der Balken im Dach gibt es die Dendrochronologie. Nach einem ersten enttäuschenden Versuch, konnte man 2016 mit besseren Bohrern bessere Ergebnisse erzielen. Es zeigte sich, dass die Abweichungen in Bern von den anderen Schweizer Proben daran liegen, dass die Bäume wohl aus viel höher gelegenen Wäldern geschlagen und über die Aare nach Bern geflößt wurden.
Das nächste Kapitel berichtet über die Computer-Rekonstruktionen und die daraus entstandenen schwarz-weißen (grauen) virtuellen Fotografien. Standpunkt des Betrachters, Lichtverhältnisse, Bauphasen lassen sich so visualisieren, großartige Bilder lassen sich so generieren, wie sie ein Fotograf vor 500 Jahren gesehen hätte. Noch sind die Wände flächig, aber in einem vollständigen Ausbau, und daran wird gearbeitet, kann man jeden Stein der Wand ‚herausnehmen‘ und der ist dokumentiert, wann er gesetzt, aus welchem Steinbruch, von welchem Steinmetz und wann er erneuert wurde, so wie jetzt die herrlichen Kapitelle des später berühmten Hans von Böblingen, die aus dem Stein Laub hervorwachsen lassen (Peter Völkle, 288-299).
Richard Nĕmec geht der Architektenfamilie der Ensinger und ihren Bauten nach (230-287). Die Leiter der Bauhütten waren ‚vielgefragte Stararchitekten‘. Matthäus, der Sohn des Ulrich, der die Fassade in Straßburg entwarf und fertigstellte, war bald 30 Jahre in Bern, leitete daneben aber den Bau der Frauenkirche in Esslingen und wechselte dann nach Ulm, kannte die besten Bauten der Zeit: Straßburg, Prager Veitsdom, Regensburg, Thann, Schwäbisch Gmünd usf. und setzte die besten Formen am Berner Münster um. Kein Epigone, wie Luc Mojon meinte! Man erfährt durch das St.Vinzenz Schuldbuch eine Menge über die Finanzierung, die freilich durch den Alten Zürcher Krieg 1443/45 in große Schieflage geriet. Und das enorme Engagement eines Junkers (in den Stadtadel aufsteigende Neureiche), wie Thüring von Ringoltingen, der, kinderlos, rund dreiviertel seines Vermögens in das Münster und seine (eine von sieben von Berner Familien gestifteten) Seitenkapelle steckte, in sein Seelenheil und das Prestige seiner Stadt (284f). Für das Zehntausend-Ritter-Fenster spendeten acht Personen, so dass manche Autoren meinten, das verbinde Arme und Reiche der Stadt. Brigitte Kurmann-Schwarz weist aber nach, dass die Stifter „fast ausnahmslos zur wirtschaftlich führenden Oberschichte der Stadt Bern gehörten.“ (1998, 179)
Brigitte Kurmann-Schwarz fasst ihre Grundlagenarbeit zu den Glasfenstern zusammen (372-403), wozu Stefan Trümpler und Sophie Wolf zu Vorzeichnungen auf der Rückseite und Kaltbemalungen neue Untersuchungen beitragen 404-431. Sie „zählen zu den bisher spektakulärsten Kaltmalereifunden“ 427).[6] Großartig ist auch die Rekonstruktion der wohl schwierigsten Bauaufgabe, die Wölbung über dem Chor, für die 240 exakt passende Rippen und 86 Kreuzungssteine benötigt wurden, und wie sie mit Hilfe eines Lehr-Gerüstes (Peter Völkle, 432-441) an die Decke gehoben wurden. Am Schluss wurden die Zwischenräume mit Ziegelsteinen gemauert. Die Kreuzungssteine sind als Versammlung der Heiligen in strenger Hierarchie gestaltet: Jürg Schweizer ordnet sie zu einem ikonographischen Programm (442-493), „einzigartig“, ohne direkte Vorbilder und ohne Nachahmung (490). Die Restauratorin Cornelia Marinowitz berichtet über die Ausmalung des Gewölbes (494-543). Dazu muss man sich die Statuen aus Stein vorstellen, von denen viele Fragmente entdeckt wurden im Fundament der Platform. Andreas Rüfenacht berichtet, wie selektiv der ‚Bildersturm‘ im Jahre 1528 durchgeführt wurde (545-555). 26 Altäre wurden abgebrochen, die hölzernen Bilder verbrannt, die Statuen von den Wänden herabgerissen, die Kelche verkauft und der Erlös zur Armenfürsorge gesammelt. Nicht zerstört wurden aber die vielen Figuren des Weltgerichts außen am Westportal. Eine Generation nach der Reformation allerdings erregte die Mittelfigur Anstoß. Da stand Maria und bat um Gnade für die Sünder bei Gott. Das passte nicht zur reformatorischen Lehre. Die Stadt ließ an ihrer Stelle eine Allegorie hauen: die Gerechtigkeit/Iustitia (554): Zeichen guter Herrschaft in der Stadt in Analogie zur Gerechtigkeit Gottes im Jüngsten Gericht. Den West-Abschluss beschreiben Alexandra Druzynski von Boetticher als Bauforscherin 556-585 und Bernd Nicolai (598-618) sowie ein Abschnitt über die Glocken. Interessant sind die Büsten von vier Baumeistern (602) und ganz bedeutend die vielen Figuren des Weltgerichts oberhalb der 10 törichten und klugen Jungfrauen.
Wie beim Verlag Schnell und Steiner schon gewohnt, aber hervorragend und gekonnt ist das Buch ausgestattet: durchgehend farbig, auch in der Typographie, mit ausgezeichneten Fotos direkt im Text, so dass man Bild und Erklärung ohne Blättern beieinander hat, ist das Buch fadengeheftet fest gebunden: verlegerisch große Kunst und Sorgfalt, dem Gegenstand angemessen. So kommen die Texte recht zur Geltung, die diese bedeutende Kirche in die Geschichte der Architektur, Ökonomie, Recht, Glasmalerei, Handwerke der sog. Spätgotik einordnen, des vorreformatorischen 15. Jh.s, aber auch zur Reformation und der Bewahrung des bedeutenden Erinnerungsortes der Schweizer Hauptstadt.
Bremen/Much, 31.Dezember 2019
Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen
E-Mail: auffarth@uni-bremen.de
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[1] Zur Ausstellung im Bernischen Historischen Museum und im Musée de l’Œuvre Notre-Dame in Straßburg erschien ein grundlegender Katalog Bildersturm: Wahnsinn oder Gottes Wille? Hrsg. von Cécile Dupeux; Jean Wirth; Peter Jezler. Zürich: NZZ-Verlag; München: Fink 2000.
[2] Kathrin Tremp-Utz [u.a.]: Das Jüngste Gericht. Das Berner Münster und sein Hauptportal. Bern 1982.
[3] Luc Mojon: Das Berner Münster. (Kunstdenkmäler des Kantons Bern 4) Basel: Birkhäuser 1960 [432 Abb., xii, 451 Seiten; das ist Teil der fünfbändigen Kunstdenkmäler-Reihe zur Stadt/Kanton Bern]. Ders.: Der Münsterbaumeister Matthäus Ensinger. Studien zu seinem Werk. Bern: Benteli 1967.
[4] Die meisten anderen Türme der Gotik sind erst im 19. Jahrhundert zu Ende gebaut worden, so der Kölner, der Regensburger Dom, das Ulmer Münster. Dazu Nicola Borger-Keweloh: Die mittelalterlichen Dome im 19. Jahrhundert. München: Beck 1986.
[5] Für den Limburger Dom Jennifer Verhoeven: Zwischen Erhalten und Gestalten. Die Restaurierungen des Limburger Doms seit 1869. Stuttgart: Theiß 2006. Christoph Auffarth: Kölner Dom und Kölner Bahnhof. In: Themenheft Sakralarchitektur. Hrsg. von Peter Bräunlein; Sabrina Weiß. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 28 (2020), ##.
[6] 1998 veröffentlichte sie den Band Die Glasmalereien des 15. bis 18. Jahrhunderts im Berner Münster für das Corpus Vitrearum, das alle mittelalterlichen Glasfenster umfassend in Einzelbänden veröffentlicht.