Ernst Troeltsch Biographie

Friedrich Wilhelm Graf: Ernst Troeltsch. Theologe im Welthorizont.
Eine Biographie.

München: C.H. Beck, 2022

 

Advokat(en) einer liberalen Theologie:
Ernst Troeltschs Biographie von Friedrich Wilhelm Graf

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Ernst Troeltsch war die charismatische Persönlichkeit, die das evangelische Christen­tum als Diener des Staates (Staatskirche) scharf kritisierte und stattdessen ein liberales Christentum entwickelte, zuletzt als tätiger Politiker für die Weimarer Republik. Eine wichtige und vorzügliche Biographie. Troeltsch starb vor hundert Jahren 1923.

Ausführlich:

Friedrich Wilhelm Graf[1] hat seit 1998 die Kritische Gesamtausgabe der Werke von ET initiiert, herausgegeben, elf der bislang 20 Bände sogar selbst ediert.[2] Und dabei suchte er – mit anderen –, jedes Zeugnis zu erreichen, das noch aufzufinden war, nachdem es keinen wirklichen Nachlass gab,[3] so dass fünf Bände Briefe und die Notizen zu einer Neuauflage der Soziallehren der christlichen Kirchen wichtige Erweiterungen der zahlreichen gedruckten Schriften von ET bilden.[4] Das wichtigste aber an der KGA sind die Einleitungen und Kommentare, die den wissenschaftlichen Diskurs und Disput deutlich machen, in den sich ET einmischte.

All diese sorgfältigen Recherchen über Jahrzehnte in Archiven, Privatsammlungen und Bibliotheken sind die Grundlage für die Biographie von FWG zu ET. Die detaillierten Darstellungen des Lebenswegs und Lebenswerks ETs sind deshalb nicht ermüdend, weil FWG immer versucht, das Besondere einer Biographie mit dem Allgemeinen der Institution, der Kirche als Behörde, der Universität zu verbinden und auf dem zeitgenössischen Horizont konturenreich zu präsentieren.

Die eher kurzen Kapitel sind durchwegs sozial- und kulturgeschichtlich kontextualisiert. Die enorme Kenntnis FWGs in der Theologiegeschichte der Zeit (und die ET in seinen zahllosen Rezensionen oder Forschungsberichten gelesen und besprochen hat[5])  ist eingebettet in die Geschichte der Zeit, die einen enormen ‚Kulturschub‘ vorangetrieben hat. „Meine Herrn, es wackelt alles“ ist ein berühmter Ausspruch in einem Auftritt des jungen ET, dessen Überlieferung allerdings mündliche Tradition ist (212). „Die ganze Welt wird anders“, beschrieb der älter gewordene ET die Welt nach dem Ersten Weltkrieg in seinen Spectator-Briefen (462-482. KGA 14, 2015).[6] Aus der lesenswerten Biographie kann ich nur Einiges hervorheben. Eindrücklich ist etwa die Skizze zu den Nachwuchs-Wissenschaftlern in Göttingen, die man als ‚religionsgeschichtliche Schule‘ zusammenfasst. Sie wagten den Aufstand gegen die Doktorväter. Diese hatten versucht, die Theologie und das aufkläreri­sche Denken zu harmonisieren, aber dabei die Religion des Urchristentums nicht mehr in ihrer Fremdheit zu Wort kommen lassen. Im Sinne von Hegels Fortscheiten des Weltgeistes hatte Albrecht Ritschl das als unaufhörlichen Aufbau des Reiches Gottes dargestellt.[7] Ein Donnerschlag war das Büchlein seines Schwiegersohns Johannes Weiß, der zeigte, dass die Gottesherrschaft nicht von innen heraus wächst, sondern als Apokalypse von außen hereinbricht. Theologie als rationales Nachdenken einer Systematik und Religion als gelebtes Vertrauen lassen sich so nicht harmonisieren.[8] Troeltsch erkannte das und kritisierte neben der Orthodoxie der Staatskirche auch die ‚liberale‘ Theologie seiner Zeit, verlangte aber seinerseits die „‘Zusammenbestehbarkeit‘ von Christentum und moderner szientifischer Rationalität. […] Troeltsch will, dass man auch als moderner, skeptischer autoritätskritischer, freiheitsliebender Mensch ein frommer Christ sein kann.“[9] „Das politische Christentum ist schlimmer als die Revolution, die es verhindern möchte, und seine strebsamen Jünger sind fürchterlicher als die Schreckensmänner, die sie uns ersparen möchten.“

Der kometenhafte Aufstieg zum Ordinarius in Heidelberg, seine immer Aufsehen erregen­den Auftritte, ob unter feindseligen und enthusiastischen Kollegen oder vor öffentlichem Publikum, ET polarisierte, ließ sich nie einschüchtern, denn er verfügte über ein enormes Selbstbewusstsein und staunenswertes Wissen. Die Reise in die USA 1904, eingeladen zu einem Kongress im kulturellen Programm einer Weltausstellung in St. Louis zusammen mit Max und Marianne Weber,[10] zeigt schon die Aufmerksamkeit, die ihm galt (225-255). Bei der Vor- und Nachbereitung dieser (damals einzigartigen) Reise entwickelte ET seine These, dass Luther noch zum Mittelalter gehöre, die Neuzeit aber erst mit dem Calvinismus beginne und da mit den Puritanern. In den Soziallehren 1912 ausgeführt untergrub das die Meistererzählung der deutschen Protestanten, für die mit Luther die Neuzeit und das deutsche Nationalbewusstsein begonnen habe; umgekehrt wird sein Buch in den USA hoch geschätzt.[11]

In den Soziallehren entwickelte er die berühmte Typologie. Der wichtigen Unterscheidung, die sein ‚Fachmenschenfreund‘ Max Weber entwickelt hatte zwischen Kirche und Sekte, fügte ET die dritte Kategorie des Mystikers ein.[12] Damit meinte er weniger die mittelalterliche Mystik, sondern Protestanten, die sich nicht mehr an die Kirche gebunden fühlten, und die freien Religiösen, die in dieser Zeit eine wichtige neue Gruppe bildeten, religiöse Bewegungen ohne Institution.[13]

Wieder spannend sind etwa die Recherchen FWGs zu der Frage, was ein Professor damals – ganz im Gegensatz zu heute – neben seinem Grundgehalt an Einkünften erreichen konnte durch Vorträge, Honorare für Zeitschriftenbeiträge, Einkünfte aus Büchern, Gebühren, die die Studierenden bezahlen mussten für den Besuch einer Vorlesung, aber auch das Elend der Privatdozenten, die das alles nicht bekamen. (324-355) Und trotzdem engagierte sich ET noch viel auch ehrenamtlich. In den Ersten Weltkrieg fällt seine Berufung nach Berlin, in die Hauptstadt 1915. Eigentlich ging es um die religionswissenschaftliche Stelle in der Theologischen Fakultät. Aber dort war der Widerstand zu groß gegen einen Kollegen, der allem, was als Konsens galt, widersprach und anders, neu erklärte. Das Ministerium wollte den mittlerweile weltweit bekannten Gelehrten unbedingt gewinnen und setzte ihn in die Philosophische Fakultät. Eine ungleich größere Bühne eröffnete sich ihm. Die Politik riss sich um den begnadeten Redner in Zeiten des Krieges, als ‚deutsche Werte‘ in Frage standen. Bis zur Abdankung des Kaisers (und dann aller Monarchen im Reich zum Ende des Krieges im November 1918, die eigenwillig von seinem Reichs-Kanzler veröffentlicht wurde), war ET Monarchist. Danach aber setzte er sich mit seinen Bärenkräften für die neue Demokratie ein. Sein Können war nun im Kultusministerium (446-461) gefragt, wo er ehrenamtlich als Staatssekretär arbeitete. Er drang auf die Trennung von Staat und Kirche, insbesondere auch im Religionsunterricht an den Schulen. Doch die neue Regierung von Sozialdemokraten und Linken wollte sogar den Religionsunterricht gänzlich abschaffen. Zwischen dem Ober­kirchenrat, der möglichst viel vom alten Staatskirchentum zu erhalten suchte, also die alte Schulaufsicht durch die Kirchen behalten wollte, und den neuen, teils kirchenfeindlichen Kräften in der Regierung steuerte ET einen geradlinigen Weg ohne faule Kompromisse. Mitten in dem rastlosen Einsatz für die Weimarer Republik erschöpften sich seine Riesen­kräfte, er starb nicht lange nach seinem Freund Max Weber,[14] kurz vor seinem 58. Geburts­tag.

Für Historiker war längere Zeit in Misskredit geraten, eine Biographie zu schreiben (‚Männer machen Geschichte‘). Das hat sich wieder geändert, seit nicht mehr das Individuum für sich und seine innere Entwicklung, sondern die Persönlichkeit im vergleichenden Blick auf den Typus ihres Berufs, ihrer Herkunft, in ihrer Institution beschrieben wird.[15] Das gelingt FWG sehr gut. Interessante Abbildungen auf zwei Bögen Kunstdruckpapier und ein Personen-Register runden den Band.

Troeltsch ist für FWG sicher sein Held in der Weise, dass er programmatisch und charisma­tisch ein evangelisches Christentum vertrat, das nicht im Windschatten des Staates Macht ausübt, sondern eine liberale Theologie.[16] (In der folgenden Generation fand die liberale Theologie kaum noch Anhänger: Theologisch gewann die dialektische Theologie, politisch zerschlugen die Nationalsozialisten die Demokratie) Er geht aber mit seinem Helden kritisch um, zeigt neben seine Stärken auch die Schwächen und kritischen Aspekte seiner Persönlich­keit. Eine großartige Bilanz und Summe des Lebenswerks von Troeltsch und von Friedrich Wilhelm Graf. Ein unbedingt lesenswertes Buch sowohl für das Verständnis der Vergangenheit wie der Gegenwart.

 

Bremen/Wellerscheid, Februar 2023                                                        Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

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[1] Friedrich Wilhelm Graf (* 1948) ist Professor emeritus für systematische Theologie an der evange­lisch-theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians Universität München. Der Autor vieler Bücher mischt sich gerne mit Aufsehen erregenden Thesen in aktuelle Kontroversen ein, irritierend und oft polemisch, aber kundig. Eine Wissenschaftsgeschichte der Theologie stellte er unter den bezeich­nenden Titel Der Heilige Zeitgeist (Tübingen: Mohr Siebeck 2011). Ein Meisterstück an Polemik stellte er in einer Rezension vor zu einem Buch über den Neutestamentler Adolf Deißmann in der Theologi­schen Rundschau 2022. Vgl. Ein scharfer Verriss zur Berliner Theologie (faz.net). Zu Graf material- und ganz kenntnisreich der Wikipedia-Artikel. Den Namen Grafs kürze ich ab mit den Initialen FWG.

[2] Von den geplanten 27 Bänden der Kritischen Gesamtausgabe (KGA. Berlin: De Gruyter.) sind seit 1998 20 Bände ediert. Dazu die Rezensionen des Autors dieser Rezension in Numen 2004, 2009, 2012, 2018, 2023. Den Namen von Ernst Troeltsch kürze ich ab mit ET.

[3] Mehrere Briefe sind auch absichtlich vernichtet worden, wie FWG herausbekommen hat: S. 82 und 171.

[4] Zu den Soziallehren KGA Band 9,1-3, 2021 meine Rezension https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/06/30/troeltsch-soziallehren/ (30.6.2021). Zu den -Briefen s. Auffarth in Numen 65 (2018), 589–592.

[5] Neben den Bänden mit den Rezensionen hat die KGA in mühevoller Arbeit in jedem Band auch die von ET genannten Aufsätze und Bücher bibliographisch genau erfasst und die Biogramme der Verfasser knapp vorgestellt.

[6] Den Kulturschub beschreibt der Herausgeber Gangolf Hübinger u.a. am Konflikt zwischen Bremer Radikalismus und den starken antiliberalen Stoßrichtungen in seiner Habilitationsschrift (Tübingen 1994) Kulturprotestantismus und Politik und zuletzt in seiner Intellektuellenbiographie Max Weber 2019. Dazu weiter Thomas Auwärter: „Die Wiederentdeckung der Religion“ und die Humanisierung des Christentums: Zeit, Leben, Werk und Religiosität Albert Kalthoffs (1850-1906). [Habilitation] Bremen: Universität Bremen, 2020.

[7] Albrecht Ritschl: Vorlesung „Theologische Ethik“. Hrsg. Rolf Schäfer. Berlin: De Gruyter 2007, 73-84; 103-112.

[8] Dazu der Verfasser in zwei verschiedenen Zugängen: Theologie als Religionskritik [II]. in: Richard Faber; Horst Junginger (Hrsg.): Religions- und kulturhistorische Religionskritik. Band 3. Würzburg: Königshausen&Neumann 2021, 125-141. – An FWGs Skizze bleibt offen, welche Rolle der immer in dem Zusammenhang genannte Paul de Lagarde spielt, Prof. in Göttingen für Orientalistik. FWG nennt ihn zu Recht einen Antisemiten, seine Kritik an Paulus, dem Verderber des Christentums, das Misslingen der Reformation Luthers. Lagarde ist ein wichtiger Vordenken der völkischen Religion („Religion der Zukunft“) und wurde von den Nationalsozialisten verehrt. Warum beriefen sich die Göttinger ‚Jungen Herren‘ immer wieder gerade auf ihn? ET widmete dem Verstorbenen den zweiten Band seiner Gesammelten Schriften, artikulierte aber im Vorwort seine Vorbehalte.

[9] FWG 150; 151. Das folgende Zitat KGA 1, 352.

[10] Deren Reisebriefe 1877-1914 haben Rita Aldenhoff-Hübinger und Edith Hanke herausgegeben. Tübingen: Mohr Siebeck 2019, 95-150.

[11] Dazu etwa Thomas Kaufmann: Luther zwischen den Wissenschaftskulturen. Ernst Troeltschs Lutherdeutung in der englischsprachigen Welt und in Deutschland. In: Hans Medick; Peer Schmidt (Hrsg.): Luther zwischen den Kulturen. Zeitgenossenschaft – Weltwirkung. Göttingen: V&R 2004, 455-481.

[12] FWG 296-324, bes. 313-320. Christoph Auffarth: Begabt zu außerordentlichen Erfahrungen: Mystik und Religion. Jahrbuch für Biblische Theologie 38(2023), im Druck.

[13] Das hat Thomas Nipperdey (der ältere Bruder von Dorothee Sölle) in die Geschichtswissenschaft eingeführt, die „vagierende Religiosität“: ThN: Religion im Umbruch. Deutschland 1870-1918. München: Beck 1988.

[14] Von Heidelberg schied ET im Streit mit Max Weber, in seinem Kondolenzbrief an die Witwe Marianne Weber bedauert er, dass ihm der intellektuelle Austausch mit Weber so gefehlt habe: KGA 22(2022), 270-274 v.a. die Anm. 7.

[15] FWG bezeichnet sich selbst als Schüler von Trutz Rendtorff, dem Münchner Theologen der Gesellschaftswissenschaft, und von Hans-Ulrich Wehler, Bielefeld, dessen historische Gesellschafts-Geschichte Deutschlands (5 Bände 1987-2008) die Geschichte zu einer Sozialwissenschaft machte, zugleich aber auch den Anspruch auf Kulturgeschichte erhob.

[16] FWG kritisierte und polemisierte gegen die gegenwärtigen Landeskirchen etwa in seinen Essays Kirchendämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen. München: Beck 2011.

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